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Studie 4: Literaturbasierte Evaluation

Beispielsituation 3: Zulieferer mit einem unerwarteten Qualitätsproblem

8 Evaluation des Lösungsansatzes

8.6 Studie 4: Literaturbasierte Evaluation

8.6 Studie 4: Literaturbasierte Evaluation

In Studie 4 wird die Allgemeingültigkeit der entwickelten Prinzipien zur Krisenbewältigung (siehe Unterkapitel 7.2) mithilfe einer literaturbasierten Evaluation überprüft. Die Prinzipien sind Best Practices, die im Rahmen von Krisenbewältigungen von der Berufsfeuerwehr München und dem Unternehmen aus der Luftfahrt angewendet werden (siehe Unterkapitel 6.2.2). Bei diesen Unternehmen wurde das Vorgehen in Krisen bzw. krisenähnlichen Situa-tionen untersucht. Ziel dieser Untersuchungen war es, erfolgreiche Vorgehen bei den beiden Unternehmen zu identifizieren und zu analysieren sowie auf die Produktentwicklung zu übertragen. Es wurden 16 Prinzipien erarbeitet, die in die vier Kategorien Arbeit unter Druck, Führung, Kommunikation und Zusammenarbeit unterteilt wurden. Um die Gültigkeit der Prinzipien auch über den Bereich der Produktentwicklung hinaus zu überprüfen, wird die Verwendung der Prinzipien bei der Bewältigung von anderen Krisen analysiert. Hierfür werden der Terroranschlag vom 11. September 2001 in New York, die Ölkatastrophe der Ölbohr-plattform Deepwater Horizon im Golf von Mexiko und die Kernkraftwerkskatastrophe von Fukushima betrachtet. Als Grundlage für die Untersuchung dienen Untersuchungsberichte, in denen das Vorgehen der Beteiligten beschrieben wird.

Die Beobachtung und Analyse von Krisen und somit die Evaluation des Lösungsansatzes sind schwer. Dies liegt auf der einen Seite an der Unvorhersehbarkeit von Krisen. Auch wenn es, wie Unterkapitel 3.3.1 zeigte, Indikatoren gibt, ist die vorzeitige Identifikation sehr schwer möglich. Dafür ist unter anderem viel Insiderwissen notwendig, das für Unternehmensexterne nur schwer zugänglich ist. Generell ist die Untersuchung von Krisen in der Industrie aufgrund von Geheimhaltungspflichten kaum möglich.

Auf der anderen Seite ist die Untersuchung von Krisen aufwendig. Dies zeigt unter anderem Studie 3. Aufgrund ihrer Multikausalität, Mehrstufigkeit sowie Multilokalität (siehe Unter-kapitel 3.3.1) ist eine Vielzahl von Beobachtern notwendig, die parallel Daten aufnehmen und mit dem gleichen Grundverständnis die Situationen analysieren. Für diese Art von Untersu-chungen standen in dieser Forschungsarbeit nicht genügend Ressourcen zur Verfügung.

Um diese Problematik der Unvorhersehbarkeit von Krisen und des hohen Untersuchungs-aufwands zu umgehen, wird zur Ergänzung von Studie 3 eine literaturbasierte Evaluation durchgeführt. Krisen und ihre Bewältigung werden in dieser Studie auf Grundlage von Untersuchungsberichten und anderen Dokumentationen a posteriori untersucht. Diese Art von Evaluation hat den Vorteil, dass in den nachträglichen Betrachtungen alle Beteiligten und Wirkzusammenhänge bekannt sind. So kann beispielsweise eine Gruppe besonders analysiert werden und gleichzeitig ihre Handlungen in die gesamte Krisenbewältigung eingeordnet werden. Ebenso ist das Resultat, d. h. die Auswirkungen, der Krise bekannt und Handlungen oder Entscheidungen können sofort reflektiert werden. Es gibt auch Nachteile. Da die Dokumentation meist erst im Nachhinein geschieht, kann es fehlerhafte, lückenhafte oder interpretierte Beschreibungen geben. Diese können von den Forschern nur schwer überprüft werden. Es ist zu beachten, wer die Dokumentation der Krise verfasst, da diese bestimmte Sichtweisen und möglicherweise bestimmte Interessen vertreten. Diese Aspekte sind bei dieser Art von Evaluation zu beachten, können aber von Forschern durch systematische Vorbereitung, wie Verwendung unterschiedlicher Quellen und deren kritische Reflexion, so beeinflusst werden, dass verlässliche Daten und Ergebnisse produziert werden können.

Um ein möglichst weites Spektrum von Sichtweisen zu untersuchen, werden bei den drei gewählten Situationen unterschiedliche Sichtweisen betrachtet. Beim Terroranschlag in New York wird dabei das Verhalten der New Yorker Feuerwehr und Polizei betrachtet. Es stehen somit, wie bei der Herleitung der Prinzipien in Unterkapitel 6.2.2, Hilfsorganisationen im Fokus. Diese Untersuchung soll überprüfen, ob die identifizierten Prinzipien auch bei anderen internationalen Hilfsorganisationen angewendet werden und nicht nur bei der Berufsfeuerwehr München. Bei der Analyse der Öl- und Kernkraftwerkskatastrophe werden nicht nur die Hilfsorganisationen betrachtet, sondern alle beteiligten Helfer. Diese beiden Vorkommnisse repräsentieren Krisen, in deren Mittelpunkt ein technisches System steht, das seine Funktionen nicht so ausführt wie geplant. Es liegen schwerwiegende technische Probleme vor, für die schnellstmöglich eine Lösung erarbeitet werden muss.

8.6.1 Ziele und Vorgehen von Studie 4

Ziel dieser Studie ist die Überprüfung der Allgemeingültigkeit der Prinzipien. Dafür werden Krisenbewältigungen von drei Krisen außerhalb der Produktentwicklung analysiert. Grundlage für die Analyse sind Beschreibungen der Krisenbewältigungen in der Literatur basierend auf Berichten, Büchern, Zeitschriften und wissenschaftliche Veröffentlichungen. Ausgangspunkt der Betrachtung waren 17 Krisen. Dabei wurden hauptsächlich Krisen ab dem Jahr 2000 betrachtet. Um geeignete Situationen für die Literaturanalyse zu identifizieren, wurden diese 17 Situationen in einem Paarweisen Vergleich gegenübergestellt. In diesem Vergleich, den Abbildung 8-7 zeigt, wurden die Situationen auf einer dreistufigen Skala (−1 ≙ weniger wichtig, 0 ≙ gleich wichtig, 1 ≙ wichtiger) hinsichtlich ihrer Wichtigkeit in der Literatur miteinander verglichen.

Bei dem Vergleich wurden die Qualität und Quantität vorhandener Quellen zu den Krisen bewertet. Als Grundlage für die Bewertung dienten Vorabrecherchen und Erfahrungen der Forscher49. Mithilfe dieses Vergleichs wurden die folgenden drei Krisen als geeignete Situationen ermittelt, da sie die Merkmale von Krisen (siehe Kapitel 3.4) erfüllen:

 Terroranschlag vom 11. September 2001 in New York

 Ölkatastrophe der Ölbohrplattform Deepwater Horizon im Golf von Mexiko

 Kernkraftwerkskatastrophe von Fukushima

Beispielhaft hervorgehoben werden der enorme Zeit- und Handlungsdruck. Bei allen drei Situationen waren entweder Menschenleben, die Umwelt oder das Firmenimage enorm gefährdet. Alle Situationen wurden mit oberster Priorität durch die Beteiligten behandelt.

Ebenso wurden spezielle Strukturen für die Projektsteuerung bzw. Krisenbewältigung geschaffen. Nicht zuletzt wurden die Beteiligten von allen notwendigen Stellen, wie Regie-rungen oder Firmenleitungen, unterstützt (siehe Kontextfaktor Managementunterstützung).

Anschließend wurde nach dem Literaturrecherchevorgehen von Brettle & Gambling (2003) nach geeigneter Literatur gesucht. Das Vorgehen orientiert sich an fünf Leitfragen (Brettle &

Gambling, 2003, S. 230):

49 Master-Student Herr Sebastian Schambeck und der Autor dieser Arbeit.

8.6 Studie 4: Literaturbasierte Evaluation 153

1. Warum wird die Suche durchgeführt?

2. Wonach wird gesucht?

3. Was sind die Randbedingungen der Suche?

4. Welche Quellen/Arten von Quellen werden verwendet?

5. Wie umfangreich soll die Suche werden?

Abbildung 8-7: Paarweiser Vergleich der Wichtigkeit von Krisen zur Ermittlung des Untersuchungsgegenstands

Für die Recherche wurden fünf Datenbanken verwendet: Technische Informationsbibliothek, Scopus, OPAC der Universitätsbibliothek der Technischen Universität München, OPACplus der Bayerischen Staatsbibliothek und Google Scholar. Für die Suche wurden für jede Krise drei Suchbegriffe festgelegt, die Tabelle 8-13 zeigt. Für die Bestimmung der Suchbegriffe wurde ein weiteres Vorgehen nach Brettle & Gambling (2003, S. 234) verwendet. Mithilfe dieses Vorgehens wurden jeweils elf deutsch- und englischsprachige Begriffe ermittelt, die anschließend zu den drei verwendeten Suchbegriffen kombiniert wurden. Die Übersicht der eingesetzten Suchbegriffe ist in Anhang A26 dargestellt.

Tabelle 8-13: Übersicht der verwenden Suchbegriffe für die literaturbasierte Evaluation in Studie 4

9/11 crisis management Deepwater Horizon crisis management Fukushima crisis management

9/11 report Deepwater Horizon report Fukushima report

9/11 lessons learned Deepwater Horizon lessons learned Fukushima lessons learned

Bei der Suche in den Datenbanken wurden jeweils die ersten 50 Treffer betrachtet und entschieden, ob diese für die Literaturevaluation geeignet sind. Dafür wurden die Titel und Abstracts der jeweiligen Quellen analysiert. Ergebnis dieser Analyse waren insgesamt neun Quellen, die für die Evaluation verwendet wurden. Diese Quellen listet Tabelle 8-14 auf. Für den Terroranschlag vom 11. September wurden drei Quellen verwendet, für die Ölkatastrophe vier und die Kernkraftwerkskatastrophe von Fukushima zwei.

Tabelle 8-14: Übersicht der verwendeten Quellen für Evaluation Terroranschlag vom

11. September 2001 Ölkatastrophe der Ölbohrplattform

Deepwater Horizon Kernkraftwerkskatastrophe von Fukushima

Kean et al. (2004) Skogdalen et al. (2011) International Atomic Energy Agency (2015)

9/11-Commission (2004a) U.S. Coast Guard (2011a) Hatamura et al. (2012) 9/11-Commission (2004b) U.S. Coast Guard (2011b)

Graham et al. (2011)

Zur detaillierten Analyse der Literaturquellen wurde die SQ3R-Methode nach Robinson (1970) verwendet. SQ3R beschreibt dabei die folgenden fünf Schritte:

1. Survey: Verschaffen eines Überblicks über die Inhalte der Quelle, z. B. durch Lesen des Inhaltsverzeichnisses, der Zusammenfassung und des Abstracts

2. Question: Zusammenstellen von Fragen, die die Quellen beantworten soll und kann. Falls die gewünschten Informationen gefunden werden, wird mit der Untersuchung der Quelle fortgesetzt.

3. Read: Sorgfältiges Lesen der kompletten Quelle oder der relevanten Abschnitte 4. Recite: Zusammenfassen der Hauptinhalte, um die Fragen zu beantworten

5. Review: Rückwirkende Betrachtung, welche Fragen die Quelle beantworten konnte Um die erhobenen Daten qualitativ auszuwerten, wurde, wie in Studie 2 und 3, eine Hypothese formuliert, die mithilfe des Rangkorrelationskoeffizienten Kendalls Tau überprüft wurde. Die Hypothese dient dabei zur Auswertung der Korrelation zwischen den Rangfolgen der Prinzipienanwendungen der drei betrachteten Krisen. Für Studie 4 wird folgende Nullhypothese HStudie 4 formuliert:

HStudie 4: τ > 0

Diese Hypothese besagt, dass ein positiver Zusammenhang zwischen den Rangfolgen der Prinzipienanwendungen der drei betrachteten Krisen herrscht. Im folgenden Unterkapitel werden die Ergebnisse dieser Analyse präsentiert und diskutiert.

8.6 Studie 4: Literaturbasierte Evaluation 155

8.6.2 Ergebnisse von Studie 4

In diesem Unterkapitel werden die Ergebnisse der literaturbasierten Evaluation zur Untersuchung der Allgemeingültigkeit der Prinzipien zur Krisenbewältigung vorgestellt. Zu Beginn wird die Studie quantitativ ausgewertet. Um die Korrelation zwischen der Anwendung der Prinzipien in den drei untersuchten Situationen zu ermitteln, wurde, wie in Studie 2 und 3, der Rangkorrelationskoeffizient Kendalls Tau verwendet und die Hypothese HStudie 4 überprüft (siehe Anhang A27). Anschließend wurden die Ergebnisse qualitativ betrachtet.

Die Auswertung in Tabelle 8-15 zeigt, dass für 14 der 16 Prinzipien Belege in den drei Quellen gefunden wurden. Am häufigsten wurde mit 132 Belegen (21,78 %) Prinzip #10 bei der Krisenbewältigung identifiziert. Es folgen die Prinzipien #(5&9)50, #2 und #14 mit jeweils mehr als 10 % der gefundenen Belege. Für die Prinzipien #8 und #13 wurden keine Belege gefunden.

Um eine mögliche Korrelation zwischen den Rangfolgen der einzelnen Evaluationen zu überprüfen, wurden die Ergebnisse mithilfe des Kendalls-Tau-Koeffizienten überprüft. Die Auswertung in Tabelle 8-16 zeigt, dass die einzelnen Rangfolgen zwischen den drei Evaluationen miteinander korrelieren (τ zwischen 0,68 und 0,77). Um die Hypothese zu überprüfen, wurde ebenfalls, wie bei den vorherigen Studien, die Signifikanz z berechnet. Diese liegt zwischen 3,53 und 4,00, wodurch die Hypothese HStudie 4 bestätigt wird.

Tabelle 8-15: Auswertung der literaturbasierten Evaluation

# Name des Prinzips Anzahl gefundener Textbelege

10 Priorisieren, Planen und Delegieren von Aufgaben 132 (39/74/19)51 21,78 % 5&9 Vier-Augen-Prinzip/Einsatz freier Ressourcen 98 (25/54/19) 16,17 % 2 Herstellung und Aufrechterhaltung eines sicheren Zustands 86 (18/35/33) 14,19 % 14 Bewusste Nutzung zwischenmenschlicher Kommunikation 73 (29/26/18) 12,05 % 15 Herstellung räumlicher Nähe bzw. Entfernung 54 (25/15/14) 8,91 %

11 Formulierung von Arbeitsaufträgen 28 (13/4/11) 4,62 %

12 Verdeutlichung von Zeitspannen 28 (11/11/6) 4,62 %

1 Parallele Maßnahmen: Schadenseingrenzung und

Ursachenanalyse 24 (13/9/2) 3,96 %

16 Durchführung von Briefings und Debriefings 24 (9/10/5) 3,96 %

6 Verhinderung persönlicher Überlastung 23 (5/14/4) 3,80 %

3 Verwendung von Checklisten mit genauen Vorgehensweisen 17 (2/11/4) 2,81 %

4 Anwendung der Methode FORDEC 11 (2/8/1) 1,82 %

7 Verringerung des Hierarchiegefälles 8 (5/3/0) 1,32 %

8 Einführung einer Sanktionsfreiheit 0 (0/0/0) 0 %

13 Verwendung von standardisierten Frageformen/Ansagen 0 (0/0/0) 0 %

Aufbauend auf den quantitativen Ergebnissen werden die Ergebnisse nun qualitativ betrachtet.

Entsprechend Tabelle 8-15 zeigt die Auswertung, dass die Prinzipien #8 und #13 in der

50 Bei Evaluation der Prinzipien wurde eine frühere Version der Prinzipien verwendet, bei der Prinzip #5 und #9 noch ein Prinzip waren. Inhaltlich wurden die Prinzipien gegenüber der Vorgängerversion nicht verändert.

51 In den Klammern steht die Anzahl der Textbelege bezogen auf die einzelnen Krisen (Terroran-schlag 11.9./Deepwater Horizon/Fukushima).

Evaluation nicht identifiziert werden konnten. Dies bedeutet nicht, dass die Prinzipien nicht angewendet wurden, sondern dass diese Prinzipien mit dieser Art von Evaluation nicht überprüft werden konnten. Da Sanktionen (Prinzip #8) erst nach der Krisenbewältigung durchgesetzt werden, konnte dieses Prinzip in den untersuchten Medien – hauptsächlich Untersuchungsberichte – nicht überprüft werden. Ebenso verhält es sich mit Prinzip #13, das sehr konkret ist. In den untersuchten Medien wurden keine direkten Gespräche zwischen den Beteiligten dokumentiert, wodurch dieses Prinzip ebenfalls nicht überprüft werden konnte.

Tabelle 8-16: Ermittlung der Rangkorrelation zwischen den einzelnen Evaluationen

Vergleich 9/11 ↔ Deepwater Horizon 9/11 ↔ Fukushima Deepwater Horizon ↔ Fukushima

τ 0,68 0,77 0,77

z 3,53 4,00 4,00

Ebenso ist festzuhalten, dass die Interpretation der Textbelege subjektiv ist. In den seltensten Fällen konnten die Prinzipien direkt, wie in der vorgegebenen Beschreibung, identifiziert werden. Abhängig von der Interpretation kann die Anzahl der Textbelege variieren. Dies zeigt sich zum Beispiel an der Interpretation von Prinzip #4 Anwendung der Methode FORDEC. In keinem der untersuchten Medien wurde dieses Prinzip explizit aufgeführt. Allerdings konnte aus den Beschreibungen ein ähnliches Vorgehen (Analyse der Situation → Identifikation und Evaluation der Handlungsoptionen → Durchführen einer ausgewählten Handlungsoption) ermittelt werden. So konnten insgesamt elf Anwendungen von Prinzip #4 identifiziert werden.

Des Weiteren wurde festgestellt, dass nicht alle Prinzipien trennscharf voneinander sind. So wurden Prinzip #14 und #16 meistens gemeinsam identifiziert, da es in Briefings zu direkter Kommunikation kommt, die in Prinzip #14 während Krisen angestrebt werden soll.