• Keine Ergebnisse gefunden

Empirische Untersuchungen zur Krisenbewältigung

Im vorangegangenen Kapitel wurde die Literatur zu Krisen aufbereitet und eine Wissensbasis dazu erarbeitet. In diesem Kapitel wird diese Sichtweise um Wissen über Krisen und ihre Krisenbewältigung aus der Sicht der Industrie und anderen Fachbereichen ergänzt (siehe Abbildung 4-1). Um dies zu erreichen, wurden zwei empirische Studien durchgeführt.

Die Untersuchungen verfolgen zwei Zwecke. Einerseits habe sie zum Ziel, das Verständnis von Krisen und das Vorgehen zur Krisenbewältigung in der Industrie zu ermitteln. Dadurch soll die Wissensbasis über Krisen und ihre Bewältigung um Erkenntnisse aus der Industrie erweitert werden. Anderseits sollen Krisenbewältigungsstrategien anderer Fachbereiche ermittelt werden. Mit diesem Best-Practices-Ansatz sollen erfolgreiche Vorgehen identifiziert und in die Produktentwicklung übertragen werden.

Die erste Untersuchung ist eine Interviewstudie. Es wird das Forschungsdesign der Studie vorgestellt. Anschließend werden drei Krisen, die in den Interviews ermittelt wurden, sowie Erfolgsfaktoren für Krisenbewältigungen vorgestellt. Bei der zweiten Untersuchung werden Krisen und die Vorgehen zur Bewältigung von Krisen bei der Berufsfeuerwehr München und einem Unternehmen aus der Luftfahrt ermittelt und vorgestellt. Es wird ebenfalls das Forschungsdesign der Untersuchungen präsentiert und anschließend anhand von Krisen bei den beiden Organisationen skizziert. Das Kapitel schließt mit Schlussfolgerungen, die die Untersuchungen zusammenfassen und in die Ergebnisse in weitere Ausarbeitungen der Forschungsarbeit einordnen.

Abbildung 4-1: Betrachtungsgegenstände von Kapitel 4

4.1 Interviewstudie zur Krisenbewältigung in der industriellen Praxis

Dieses Unterkapitel beschreibt das Forschungsdesign der Interviewstudie, die mit Entwicklern aus der industriellen Praxis durchgeführt wurde. Anschließend werden ausgewählte Ergebnisse der Interviewstudie, drei Krisenbeschreibungen sowie Erfolgsfaktoren einer Krisen-bewältigung vorgestellt. Die hier vorgestellten Ergebnisse wurden vorab auf der 14th International Design Conference DESIGN veröffentlicht (Münzberg et al., 2016a).

4.1.1 Forschungsdesign der Interviewstudie

Dieses Unterkapitel beschreibt das Design der Interviewstudie. Beschrieben werden die Ziele der Studie, das gewählte Vorgehen und die Teilnehmer, die Untersuchungsmethode und der Aufbau des Interviewleitfadens. Abschließend wird eine Übersicht über die Ergebnisse gegeben.

Die Interviewstudie verfolgte drei Ziele: (1) Verständnis von Krisen in der industriellen Praxis explorativ aufbereiten, (2) Krisenbeispiele in der Industrie identifizieren sowie (3) Vorgehen zur Krisenbewältigung in der Industrie dokumentieren.

Alle Interviews wurden nach dem gleichen prinzipiellen Vorgehen durchgeführt: Zu Beginn der Interviews stellten sich die interviewten Personen vor. Ziel war es, den Wissens- und Erfahrungshintergrund, wie z. B. Berufsausbildung, Arbeitserfahrung, Lebensphase und Arbeitsumgebung der Interviewten, zu ermitteln. Anschließend wurde der Begriff Krise sowie dessen Definition anhand einer Definition25 diskutiert, die an die Definition von Lindemann (2009, S. 332) angelehnt ist. Mit dieser Diskussion wurde sichergestellt, dass die Befragten und der Interviewer, aber auch die befragten Personen untereinander, ein gemeinsames Situationsverständnis haben. Anschließend beschrieben die Interviewten eine oder zwei Krisensituation(en), in die sie involviert waren. Abschließend wurde nach weiteren Ansprechpartnern zu Krisen und Rückfragen seitens der Interviewten gefragt sowie noch einmal die Definition von Krisen reflektiert.

Jedes Interview dauerte zwischen 60 und 90 Minuten. Die Interviews wurden im direkten Gespräch oder am Telefon durchgeführt. Aus Geheimhaltungsgründen wurden diese nur mit handschriftlichen Notizen dokumentiert, da Video- oder Audioaufnahmen von den Interviewten abgelehnt wurden.

Vor den eigentlichen Interviews wurden zwei Testinterviews mit drei Personen durchgeführt.

Testweise wurde ein erfahrener Professor aus dem Forschungsbereich der Produktentwicklung befragt; Teilnehmer des anderen Testinterview waren zwei Entwickler aus der Industrie. Der Interviewleitfaden wurde dem Feedback zum Aufbau des Leitfadens, zur Formulierung der Fragestellungen und zum Ablauf des Interviews der Testpersonen entsprechend angepasst.

25 Definition im Fragebogen (siehe Anhang A5): „(…) Krise als Situation, die durch unerwünschte und unerwartete Ereignisse in Verbindung mit einem sehr hohen Zeit- und Ergebnisdruck (Anforderungsabweichung) hervorgerufen wird, beschrieben. Hierbei herrscht Ressourcenmangel zur Bewältigung und es liegt keine Lösung für die Aufgabenstellung vor.“

4.1 Interviewstudie zur Krisenbewältigung in der industriellen Praxis 73

Nach der Durchführung wurden die Interviews analysiert. Die handschriftlichen Aufzeich-nungen der Antworten wurden digitalisiert. Dabei wurde jedes Interview in einem Tabellen-kalkulationsprogramm strukturiert dokumentiert. In diesem wurden die Anmerkungen zur Krisendefinition der einzelnen befragten Personen den einzelnen Krisen (Ausgangssituation, Ursachen, Krisenbewältigung und Auswirkungen) gegenübergestellt. Die Datenkategori-sierung orientierte sich dabei an Roulston (2010). Dabei wurden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Antworten und Beschreibungen herausgearbeitet und zusammengefasst.

An der Interviewstudie nahmen 15 Entwicklern aus der Industrie teil, die während ihrer Projektarbeit in den Bewältigungsprozess einer technischen Krise involviert waren. Die Entwickler arbeiteten in unterschiedlichen nationalen und multinationalen Maschinenbau- und Technologieunternehmen, wie dem Werkzeugmaschinenbau, dem Druckmaschinenbau oder der Automobilzuliefererbranche. Ihre Berufserfahrung reicht von wenigen Jahren (0–5 Jahre) bis hin zu langjähriger Industrieerfahrung (> 15 Jahre). Die Teilnehmer26 und ihre Berufserfahrung sowie das Unternehmen bzw. die Branche, in der sie tätig sind, listet Tabelle 4-1 auf.

Tabelle 4-1: Übersicht der Teilnehmer der Interviewstudie

Teilnehmer Berufserfahrung in Jahren Unternehmen bzw. Branche

Teilnehmer #1 > 15 multinationales Maschinenbauunternehmen

Teilnehmer #2 0–5 Werkzeugmaschinenbau

Teilnehmer #3 0–5 Fahrzeugbau

Teilnehmer #4 6–10 multinationales Technologieunternehmen

Teilnehmer #5 6–10 Fahrzeugbau

Teilnehmer #6 11–15 Druckmaschinenbau

Teilnehmer #7 11–15 Fahrzeugbau

Teilnehmer #8 > 15 Fahrzeugbau

Teilnehmer #9 11–15 multinationales Technologieunternehmen

Teilnehmer #10 6–10 multinationales Maschinenbauunternehmen

Teilnehmer #11 11–15 Fahrzeugbau

Teilnehmer #12 > 15 Druckmaschinenbau

Teilnehmer #13 > 15 Druckmaschinenbau

Teilnehmer #14 11–15 Druckmaschinenbau

Teilnehmer #15 11–15 Druckmaschinenbau

Um das Vorgehen strukturiert zu verfolgen, wurde die Methode des semistrukturierten Interviews anhand eines Interviewleitfadens (siehe Anhang A5) angewendet. Dabei wurde der Leitfaden nicht sequenziell durchgesprochen, sondern die Reihenfolge der Fragen situativ vom Interviewer (Autor dieser Arbeit) angepasst.

Der Aufbau des Leitfadens orientiert sich an den forschungsmethodischen Vorgehen von Bogner et al. (2014), Gläser & Laudel (2010) und Yin (2014). Der Interviewleitfaden umfasst Einleitung, Hauptteil und Schluss, die unterschiedliche Themen der Interviewstudie adressieren (siehe Tabelle 4-2). In der Einleitung werden allgemeine Informationen zu den Interviewten gesammelt. Damit soll der Wissens- und Erfahrungshintergrund der Befragten, wie z. B.

26 Aus Geheimhaltungsgründen werden die Namen der Teilnehmer nicht angegeben.

Berufsausbildung, Arbeitserfahrung, Lebensphase und Arbeitsumgebung, ermittelt werden.

Ebenso beinhaltet dieser Teil Fragen zur Definition einer Krise und zum Unterschied zwischen dem Tagesgeschäft, Herausforderungen und Krisen. Der Hauptteil adressiert eine oder zwei Krisensituation(en) und ihre Bewältigung, in die die Interviewten involviert waren. Dabei zielen die Fragen ab auf die Ausgangssituation der Krise, ihre Ursachen und Auswirkungen, die Krisenbewältigung, die beteiligten Personen, das Ergebnis der Krisenbewältigung und die Konsequenzen der Krisen. Im Schluss reflektieren die Fragen noch einmal die Definition des Begriffs Krise. Dafür wird die in der Einleitung präsentierte Definition mithilfe der Ergänzungen des Interviewten hinterfragt und entschieden, ob diese nach Beschreibung der Situationen ergänzt oder angepasst werden muss. Abschließend wurde nach möglichen weiteren Ansprech- bzw. Interviewpartnern gefragt. Die drei Bereiche mit den dazugehörigen Themen und Zielen zeigt Tabelle 4-2.

Tabelle 4-2: Übersicht über den Aufbau des Interviewleitfadens und der Ziele

Bereich Thema Ziel(e)

Einleitung Allgemeine Informationen zum Interviewten

Ermittlung des Wissens- und Erfahrungshintergrunds

Verständnisabgleich über Krisen Hauptteil

Charakterisierung von Krisen Charakterisierung von Krisen

Krisenbewältigungsvorgehen Verständnisaufbau über Krisen und ihre Bewältigung

Schluss Abschließende Fragen Reflektion der Definition von Krisen und Identifikation weiterer Ansprechpartner

Insgesamt führte die Interviewstudie zu drei Ergebnissen: Erstens konnten 16 Krisen beschrieben werden. Zu jeder Krise wurden die Ausgangssituation und die Ursachen, das Vorgehen und die Auswirkungen der Krise dokumentiert. Zweitens konnten 41 Erfolgsfaktoren bei der Krisenbewältigung ermittelt werden. Diese beschreiben die wichtigsten Gesichtspunkte, die ein Unternehmen oder eine Organisation für eine erfolgreiche Krisenbewältigung beachten sollte (angelehnt an das Cambridge Business English Dictionary (2015)). Drittens konnte der Autor neben diesen beiden dokumentierbaren Ergebnissen durch den Erfahrungsaustausch allgemeine Erkenntnisse über Krisen und ihre Bewältigung in der Industrie erlangen. Diese Erkenntnisse fließen indirekt in die weiteren Ausführungen ein, wie z. B. Herleitung des Lösungsansatzes in Kapitel 6 sowie die Entwicklung des Lösungsansatzes in Kapitel 7.

In den folgenden beiden Unterkapiteln werden Ausschnitte aus den Ergebnissen der Interviewstudie vorgestellt. Zunächst werden drei der 16 Krisenbeschreibungen skizziert27. Anschließend werden die ermittelten Erfolgsfaktoren vorgestellt.

27 Für diese drei Krisenbeschreibungen wurde eine Freigabe von den Interviewpartnern erteilt.

4.1 Interviewstudie zur Krisenbewältigung in der industriellen Praxis 75

4.1.2 Beschreibung von Krisen in der Industrie

28

Dieses Unterkapitel beschreibt drei Krisen, die in der Interviewstudie ermittelt wurden. Die Beispiele zeigen die Vielfalt von Krisen in der Produktentwicklung. Die Beispiele gliedern sich dabei folgendermaßen:

 Unternehmensumgebung und Ursachen der Krise

 Krisensituation

 Auswirkungen der Krise

Im ersten Beispiel wird eine Krise während des Entwicklungsprozesses beschrieben. Dabei kam es zu einer Krise beim Übergang von der Pilotprojektphase in die Serienfertigung, weil die Kritikalität einer Komponente unterschätzt wurde. Im zweiten Beispiel führt ein Mitbewerber eines Technologieunternehmens eine disruptive Technologie ein, die die Marktanteile des betroffenen Unternehmens gefährdet. Im dritten Beispiel kommt es aufgrund von Qualitäts-problemen zu einer Krise bei einem Zulieferer.