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Ungleicher Planungshorizont zwischen Staat und Privaten

SATZ 11.25 (Langfristige Wirkungen staatlicher Verschuldungspolitik) 169 Bei positiver Geburtenrate und solange im Wachstumsgleichgewicht die

11.4 Staatsschuldneutralität. Eine kritisch-systematische Rekonstruktion

11.4.1 Die theoretische Debatte

11.4.1.4 Ungleicher Planungshorizont zwischen Staat und Privaten

Eine notwendige Bedingung für die Neutralität staatlicher Verschuldung ist das Zusammenfallen sowohl der Planungshorizonte als auch des in der Berechnung von Gegenwartswerten zugrunde gelegten Diskontfaktors von Staat und Priva-ten. Im Ramsey-RA-Modell des Unterkapitels 11.1 gilt die Staatsschuldneutrali-tät als Regelfall, weil der private Haushaltssektor als unendlich lebender Kon-sument modelliert wird. Hingegen ermöglicht staatliche Verschuldung in Modellrahmen, die der anthropologischen Konstante einer endlichen Lebenszeit Rechnung tragen, Mitgliedern der gegenwärtig lebenden Generation in einem Zustand der Insolvenz zu sterben. Dies geschieht, indem sie ihren Nachkommen über die gesellschaftliche Institution des Staates eine negative Erbschaft in Form zukünftiger Steuerlasten hinterlassen; eine Verschuldungsmöglichkeit, die sich in privatwirtschaftlichen Transaktionen nicht imitieren läßt. Auf den ersten Blick beseitigt ein endlicher Horizont privater Wirtschaftssubjekte dadurch die Neutralität staatlicher Verschuldungspolitik. Wie in 11.2.4 ausführlich begrün-det, kann die von Barro (1974) angeregte Berücksichtigung wirksamer Nutzen-interdependenzen (,,Altruismus") zwischen Generationen und privater inter-generativer Transferinstrumente (Erbschaften und Schenkungen) jedoch dazu führen, daß eine Abfolge sich überlappender Generationen privater Haushalte sich wie ein unsterblicher Konsument verhält. Aufgrund dieser Äquivalenz ist staatliche Verschuldungspolitik dann auch bei individuell endlicher Lebenszeit neutral. 218

216 Vgl. auch Gandenberger (1972), S. 372-378.

217 Buchanan und Wagner (1977) argumentieren, daß die Möglichkeit staatlicher Verschul-dung die politischen Kosten erhöhter Staatsausgaben senkt, da erhöhte öffentliche Schul-den aufgrund von Fiskalillusion politisch populärer sind als Steuererhöhungen. Sie führen den Anstieg der Staatsausgaben, gemessen relativ zum Bruttoinlandsprodukt, in den USA der Nachkriegsjahre daher wesentlich auf den strukturellen Wandel hin zu einer Keynesianischen antizyklischen Schuldenpolitik (,,The Political Legacy of Lord Keynes") zurück, der diese Verschuldungsneigung des demokratischen politischen Prozesses ideo-logisch legitimiert und dadurch verstärkt habe.

218 Eine quantitative Einschränkung der praktischen Bedeutung der Unterscheidung zwischen Modellen mit endlichem Planungshorizont privater Akteure und Ramsey-RA-Modellen mit unsterblichen Konsumenten für Fragen der Ricardianischen Äquivalenz bieten die

Da die Endlichkeit individuellen Lebens kaum zu leugnen ist, konzentriert sich ein Großteil der kritischen Literatur zum Postulat der Staatsschuldneutralität natürlicherweise auf die Prämisse intergenerativer Nutzenverknüpfungen und operativer Transfers. Die Ricardianische Modellwelt beinhaltet diesbezüglich zwei miteinander verbundene Annahmen: Erstens seien intrafamiliäre inter-generative Transfers in dem Sinne gesamtgesellschaftlich verbreitet, daß der Großteil der Individuen einer Volkswirtschaft Transfers an Mitglieder anderer Generationen tätigt oder solche von diesen erhält;219 zweitens seien diese Trans-fers ausschließlich altruistisch motiviert. Beide Elemente des Postulats sind in der Literatur kritisiert worden.

Bei grundsätzlich endlicher Lebenszeit einzelner Wirtschaftssubjekte ist es für die Gültigkeit der Staatsschuldneutralität notwendig, daß die auf intrafa-miliärem Altruismus zwischen verschiedenen Generationen beruhenden Trans-ferzahlungen an der Grenze der Optimalentscheidungen der meisten Privaten wirksam sind; insbesondere dürfen Wirtschaftssubjekte sich nicht in einer Randlösung mit null Transfers befinden. In 11.2.4.3 ist ausführlich abgeleitet worden, daß nach Weil (1987) Eltern ihre Kinder dafür hinreichend stark „lie-ben" müssen. Über das notwendige Ausmaß elterlicher Zuneigung ist die Lite-ratur allerdings uneins. Weils (1987) eigene numerische Analyse fordert eine quantitativ starke Verbundenheit der Eltern ihren Kindern gegenüber. Hingegen kommen Altig und Davis ( 1989) zu dem Schluß, daß für realitätsnahe Lebens-zyklusprofile der Produktivität und einen gemäßigten Wunsch, Konsum inter-temporal zu glätten, Eltern ihre Kinder nur sehr wenig „lieben" müssen, damit das Transfermotiv operativ ist. Abseits solcher quantitativen Überlegungen

be-Ergebnisse von Poterba und Swnmers ( 1987). Ihre numerischen Simulationen in einem Lebenszyklusmodell legen für eine Reihe von Parameterwerten nahe, daß, obwohl die modellierte staatliche Verschuldungspolitik zukünftigen Generationen erhebliche Steuer-lasten aufbürdet, sie nur triviale kurzfristige Wirkungen auf Konsum und Ersparnis hat.

Für die im Rahmen dieser Arbeit im Vordergrund stehenden langfristigen Wirkungen muß diese Schlußfolgerung jedoch stark relativiert werden. So zeigen die numerischen Simulationen von Auerbach und Kotlikoff (1987), daß staatliche Verschuldungspolitik mittel- und langfristig sehr starke Wirkungen auf den Kapitalstock zeitigt, auch wenn ihre kurzfristigen Wirkungen quantitativ trivial oder sogar qualitativ „pervers" sind.

219 Wie Barro (1989a, S. 207; 1989b, S. 41) betont, ist es hingegen nicht entscheidend für Ricardianische Äquivalenz, daß diese intergenerativen Transfers jeweils in ihrer Höhe quantitativ bedeutend sind. Worauf es vielmehr ankommt, ist die Wirksamkeit altruistisch

tont Bernheim (1989a, S. 65f.) zwei weitere theoretische Argumente dafür, daß sich in einem ökonomischen Gleichgewicht gewöhnlich eine sehr große Zahl von Individuen in einer Randlösung befinden, in der sie weder selbst Transfers vornehmen noch solche erhalten. Erstens wird im Gleichgewicht einer Volks-wirtschaft, in der gemäß der - weiter unten ausführlicher dargelegten - Idee von Bernheim und Bagwell (1988) reproduktionssoziologisch zu begründende Ver-bindungen zwischen Familiendynastien berücksichtigt sind, eine große Zahl altruistisch motivierter Transfergeber zu Randlösungen getrieben.220 Zweitens vertritt Bernheim ( 1989b) die These, daß optimale staatliche Finanzpolitik im allgemeinen dazu führt, daß aufeinanderfolgende Generationen Randlösungen im intergenerativen Transferverhalten realisieren.221

Selbst wenn grundsätzlich akzeptiert wird, daß Transferzahlungen zwischen Generationen in volkswirtschaftlich relevantem Ausmaße operativ sind, bleibt weiterhin die zweite Komponente der Ricardianischen These wirksamer inter-generativer Verknüpfungen kritisch zu prüfen: das Postulat, diese intergenerati-ven Transfers seien altruistisch motiviert. Da die Existenz von Erbschaften in der realen Welt als ein zentraler empirischer Beleg für intergenerativen Alruis-mus gilt, müssen dabei insbesondere alternative Modelle des Erbschaftsverhal-tens rationaler Individuen entwickelt werden; die wichtigsten solcher in der Li-teratur zur Ricardianischen Äquivalenz diskutierten Ansätze sind:

motivierter Transferzahlungen an der Grenze der Optimalentscheidung eines typischen Konsumenten.

220 Nach Bernheim und Bagwell (1988) transformieren allgegenwärtige Verbindungen zwi-schen Eltern und Kindern eine Volkswirtschaft mit intergenerativem Altruismus in ein einziges, (fast) alle Individuen umspannendes soziales Netzwerk. Der Konsum jedes Ein-zelnen hängt dann nur vom Gesamtvermögen der Wirtschaft, nicht aber von dessen per-soneller Verteilung ab. Da in einer großen Volkswirtschaft der Effekt der Erbschaft auf den Konsum seines unmittelbaren Nachkommens dann vernachlässigbar gering ist, wird ein potentieller Transfergeber es vorziehen, ganz auf die Weitergabe von Erbschaften zu verzichten.

221 Bernheim (1989b) betrachtet das Problem eines finanzpolitischen Entscheidungsträgers, der eine gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktion maximiert, in der sowohl der Nutzen von Transfergebern als auch von Transferempfängern enthalten sind. Bei positivem Transfer-niveau ist jeder Transfergeber an der Grenze indifferent zwischen seinem eigenen Kon-sum und dem des jeweiligen Transferempfängers. In einem solchen Fall wird der finanz-politische Entscheidungsträger aber zusätzliche Transfers bevorzugen, da er die Präferenzen des Empfängers zweifach berücksichtigt: zum einen direkt, zum anderen in-direkt durch den Nutzen des Gebers. Die gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktion kann daher nur maximal sein, wenn die Nichtnegativitätsbedingung intergenerativer Transfers bindet.

Zufallserbschaften aufgrund unsicherer Lebenserwartung, strategische Erb-schaften und intrafamiliäre Versicherung auf Gegenseitigkeit.

Eine erste zum intrafamiliären Altruismus alternative Erklärung rationalen Erb-schaftsverhaltens bietet das Konzept der Zufallserbschaften. Ausgangspunkt dieses Ansatzes von Abel (1985) und Hurd (1987; 1989; 1990) ist die Unsi-cherheit der Lebenserwartung individueller ökonomischer Akteure in Verbin-dung mit dem Fehlen von privaten Lebensversicherungsmärkten, auf dem sich Private gegen dieses Lebenszeitrisiko absichern können. Private Wirtschafts-subjekte müssen in einer solchen Situation zu jedem Zeitpunkt positive Ver-mögensbestände halten, um ihren Konsum in einem möglichen späteren Le-benszeitpunkt abzusichern. Da dies auch für den Zeitpunkt des realisierten Todesrisikos eines Einzelnen gilt, hinterläßt dieser auch ohne altruistisches Erb-schaftsmotiv eine positive Erbschaft an seine Nachkommen. Von solchen Zu-fallserbschaften kann nicht erwartet werden, daß sie auf staatliche Haushaltsde-fizite sensibel genug reagieren, um Ricardianische Äquivalenz zu gewährleisten.222 Eine zweite alternative Fundierung von Erbschaften greift die Vorstellung der ökonomischen Theorie der Familie auf, daß Erbschaften eine komplexere Rolle im Familienkontext einnehmen, als nur Ressourcen von einer Generation zur nächsten zu transferieren. So schlagen Bernheim, Shleifer und Summers (1985) vor, Erbschaften als strategisches Instrument der Eltern in der Interaktion mit ihren Kindern zu verstehen. Erblasser verwenden ihr Verspre-chen von Erbschaften dann als disziplinarisches Mittel, um das Verhalten ihrer Kinder in die von ihnen gewünschten Bahnen zu lenken. Intergenerative Um-verteilung durch staatliche Finanzpolitik verändert in einem solchen Modell die

222 Vgl. auch Huber (1990a), S. 88f. sowie Seater (1993), S. 148. Barro (1989b, S. 42f.) wendet allerdings ein, daß das Fortbestehen solcher lmperfektionen privater Versiche-rungsmärkte signalisiert, daß der Umfang, in dem solche zufälligen, nicht beabsichtigten Erbschaften auftreten, von Privaten selbst nicht als bedeutend eingeschätzt wird. Auch Richter und Wiegard (1993b, S. 375) kann die Idee der Zufallserbschaften aus diesem Grund theoretisch nicht überzeugen. Nach ihrer Meinung müßten, wenn Nachlässe durch die Unsicherheit des eigenen Todeszeitpunkts entstehen, Leibrenten als ideale Absiche-rungsform gegen ein solches Risiko eine dominante Anlageform in privaten Portfolios darstellen. Dem widerspricht aber der empirische Befund, daß nur ein Bruchteil privaten Vermögens in Leibrenten gehalten wird. Weiterhin kritisiert Barro (1989b, S. 42f.), daß das Ricardianische Ergebnis auf einer breiten Vorstellung intergenerativer privater Trans-fermechanismen beruhe, so daß die Konzentration auf formale Erbschaften deplaziert sei.

strategischen Positionen der Generationen und ze1t1gt so reale Effekte. 223 Schließlich besteht nach Kotlikoff und Spivak ( 1981) drittens die Möglichkeit, daß Erbschaften aus der Funktion einer Familie als (unvollkommener) Markt für Annuitäten entstammen. Die Familie stellt in dieser Vorstellung ihren Mitglie-dern eine Versicherung gegen das Risiko geringen Konsums aufgrund uner-wartet langer Lebenszeit zur Verfügµng. Selbst bei vollständig egoistischen Individuen ergeben sich dann intrafamiliäre Transferzahlungen als eine Möglichkeit, vom Empfänger Versicherungsleistungen zu erwerben. Staatliche Verschuldungspolitik ist auch hier nichtneutral, obwohl das Auftreten freiwil-liger Erbschaften die Regel darstellt.224

Insgesamt sind theoretische Argumente nicht in der Lage, altruistisch motivierte private Transferzahlungen zwischen Mitgliedern verschiedener Generationen auszuschließen. Allerdings scheint die für die Gültigkeit der Ricardianischen Position notwendige breite Gültigkeit sowohl der Transferzahlungen als solcher als auch ihrer altruistischen Motivation wenig plausibel. Die existierende empi-rische Literatur bestätigt diesen Eindruck. Weitgehend unstrittig ist, daß inter-generative Transfers für einen Großteil der Bevölkerung signifikante Bedeutung besitzen und das einfache Lebenszyklusmodell die gesamtwirtschaftliche Ver-mögensbildung nur eingeschränkt erklären kann.225 Diese empirische Evidenz besagt allerdings noch nichts über das Erbschaftsmotiv; und leider trägt auch

223 Vgl. auch Broadway und Wildasin (1993), S. 47; Richter und Wiegard (1993b), S. 376 sowie Seater (1993), S. 148. Barro (1989a, S. 209; 1989b, S. 42) wendet gegen dieses strategische Modell ein, daß es die Interaktion zwischen Familienmitgliedern als äqui-valent zum Kauf von Leistungen auf Märkten behandelt. Unter solchen Bedingungen sei es für die Eltern naheliegender, ihren Kindern Löhne zu zahlen, anstatt Nachlässe strate-gisch zu verwenden. Wird aber neben stratestrate-gischen Überlegungen auch ein genuin altrui-stisches Erbschaftsmotiv berücksichtigt, so ist es möglich (allerdings nicht zwingend), daß Ricardianische Äquivalenz weiterhin gilt.

224 Vgl. auch Seater (1993), S. 148.

225 So vertreten Darby (1979) sowie Kotlikoff und Summers ( 1981) die These, daß die durch den Wunsch intergenerativer Transferzahlungen motivierte Akkumulation von Ver-mögensaktiva US-amerikanischer Haushalte quantitativ bedeutender ist als die durch Le-benszyklusüberlegungen motivierte. Boskin (1987, S. 276) führt die Deutlichkeit des quantitativen Ergebnisses allerdings auf einen Rechenfehler zurück. Modigliani (1988) bestreitet die Aussage auch qualitativ. Kotlikoff (1988) zeigt wiederum, daß die Begrün-dung von Modiglianis (1988) Einwand kritisch auf einer zu begrenzten Sichtweise inter-generativer Transfers beruht, die sich auf Erbschaften im Todesfall konzentriert und Zins-einkommen aus bereits erhaltenen Nachlässen nicht als Einkommen aus intergenerativen Transferzahlungen begreift.