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6.3 Leistungsumfang

6.3.1 Therapeutischer Nutzen (Zweckmäßigkeit)

Der Anspruch nach § 136 besteht nur in Bezug auf Arzneimittel, die eine bestimmte medizinische bzw. therapeutische Wirkung aufweisen; nur diese sind zweckmäßig. Fraglich ist dabei, welche Wirkung erforderlich ist, damit eine für die KV ausreichende therapeutische Wirksamkeit vorliegt. Unbestritten ist, dass grundsätzlich die Zweckmäßigkeit des Mittels aus einer ex-ante-Sicht ausreicht. Ist diese zu bejahen, so hängt die Erforderlichkeit einer Krankenbehandlung nicht von deren Erfolg im Einzelfall ab. Das Erfordernis der therapeutischen Wirkung und damit Eignung folgt keineswegs erst aus dem Gebot der Wirtschaftlichkeit, sondern ergibt sich bereits aus dem Erfordernis der Zweckmäßigkeit und liegt damit dem Wirtschaftlichkeitsgebot voraus.204 Ist ein Heilmittel wirksamer, dann hat der Versicherte auch Anspruch darauf, auch dann wenn es teurer, unter Umständen sogar wesentlich teurer ist. Nur bei gleicher Wirksamkeit ist das billigere zu verschreiben.205 Überdies normieren die gesetzlichen Vorgaben zu den RöK und RöV (§ 31 Abs 5 Z 10 und 13 ASVG), dass bei Anwendung der Grundsätze der Ökonomiekontrolle der Heilzweck nicht gefährdet werden darf. Dies indiziert auch einen Vorrang der therapeutischen und medizinischen Gesichtspunkte vor den ökonomischen.206

Aus der ex-ante-Betrachtung folgt, dass es für die Zweckmäßigkeit einer Behandlungsmethode darauf ankommt, wie hoch die Erfolgswahrscheinlichkeit ist, also die Wahrscheinlichkeit, dass sie bzw. hier das Mittel den intendierten Behandlungserfolg

203 OGH 27.07.2004, 10ObS227/03k.

204 Rebhahn in Mosler/Müller/Pfeil, Der SV-Komm § 136 ASVG Rz 24 (Stand 31.12.2012, rdb.at).

205 Firlei, Heilmittelverschreibung (2006) 24.

206 Firlei, Heilmittelverschreibung (2006) 28.

73 herbeiführt. Gerade bei Arzneimitteln, die standardisiert hergestellt werden, ist eine systematische Prüfung der Erfolgswahrscheinlichkeit und damit der Wirksamkeit bzw.

Tauglichkeit des Mittels für eine bestimmte Behandlung möglich. Viele Arzneimittel werden daher heute international laufend auf ihre therapeutische Wirksamkeit untersucht, auch nach ihrer Marktzulassung. Fraglich ist dann, wie hoch die Erfolgswahrscheinlichkeit der Behandlung mit einem Mittel zu sein hat, damit der therapeutische Nutzen für eine Leistungspflicht der KV ausreichend groß ist. Kurz gesagt geht es um die erforderliche therapeutische Wirksamkeit des Mittels an sich und den therapeutischen Nutzen im Vergleich zu anderen Mitteln.207 Der OGH hat dazu (laut Rebhahn treffend) ausgeführt: „Dass die Krankenbehandlung ausreichend sein muss, bedeutet die Festlegung einer Minimalgrenze der Leistungsverpflichtung, die unter Zugrundelegung von gesicherten medizinischen Erkenntnissen und nach dem anerkannten Stand der Medizin nach Umfang und Qualität eine hinreichende Chance auf einen Heilungserfolg bieten muss. Zweckmäßigkeit liegt vor, wenn die Behandlung in Verfolgung der Ziele der Krankenbehandlung erfolgt, erfolgreich oder zumindest erfolgversprechend war. Darunter ist zu verstehen, dass die Behandlung nach den Erfahrungssätzen der medizinischen Wissenschaft mit hinreichender Sicherheit objektiv geeignet ist, die beabsichtigte Wirkung zu erzielen. Bei mehreren geeigneten Leistungen kommt primär diejenige in Betracht, mit der sich die Zweckbestimmung am besten erreichen lässt.“208 Daraus geht erstens treffend hervor, dass die Erfolgswahrscheinlichkeit der Behandlung mit einem Arzneimittel zentral für die Beurteilung der Zweckmäßigkeit im Sinne des § 133 ist. Überdies geht daraus hervor, dass dieses Kriterium nach dem „(aktuellen) Stand der medizinischen Wissenschaft“ zu beurteilen ist.209

Bei den Mitteln im grünen und gelben Bereich des EKO ist aufgrund der Evaluationen (vor Aufnahme in den EKO) davon auszugehen, dass sie objektiv geeignet sind, die beabsichtigte

207 Rebhahn in Mosler/Müller/Pfeil, Der SV-Komm § 136 ASVG Rz 25 - 26 (Stand 31.12.2012, rdb.at).

208 OGH 10.11.2009, 10ObS86/09h.

209 Rebhahn in Mosler/Müller/Pfeil, Der SV-Komm § 136 ASVG Rz 25 - 26 (Stand 31.12.2012, rdb.at).

74 Wirkung zu erzielen und die hinreichende Chance auf einen Heilungserfolg bieten. Kommen zur Therapie allerdings unterschiedliche Mittel aus dem EKO in Betracht, so gibt dieser nur bedingt Auskunft, mit welchem sich die Zweckbestimmung am besten erreichen lässt. Dies trifft nicht nur innerhalb eines der Bereiche des EKO zu, sondern auch im Verhältnis von grünem zu gelbem Bereich, weil nicht erkennbar ist, ob ein Mittel aus medizinischen oder gesundheitsökonomischen Gründen nicht in den grünen, sondern in den gelben Bereich aufgenommen wurde. Bei Mitteln, die nicht im grünen oder gelben Bereich des EKO aufscheinen (also im roten Bereich oder in der sogenannten „No-Box“ sind), stellt sich hingegen konkret jeweils die Frage, wann der für die Zweckmäßigkeit erforderliche therapeutische Nutzen gegeben ist.210

Auch die Anforderungen an die „Erfolgswahrscheinlichkeit“ sind nicht in aller Deutlichkeit gegeben. Wie zuvor erwähnt, orientiert sich der OGH an den Erfahrungssätzen der medizinischen Wissenschaft. Fraglich ist, ob die erforderliche Erfolgswahrscheinlichkeit stets nach diesen Erfahrungssätzen zu beurteilen ist.211 Im Bereich der „Schulmedizin“ könnte dies zutreffen. Schulmedizin meint die in führenden Lehrbüchern, Zeitschriften und wissenschaftlichen Vereinigungen sowie Leitlinien anerkannten Behandlungsmethoden. Aber auch in der Schulmedizin sind die Anforderungen an die aus Erfahrung gewonnene Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte Behandlung tauglich ist, unterschiedlich, und zwar je nach dem bereits erreichten Forschungsstand. Kennzeichen der Schulmedizin ist das Verständnis der Medizin als Erfahrungswissenschaft, deren Hypothesen empirisch nachprüfbar sind. In Betracht kommen danach nur jene Behandlungsmethoden einschließlich Arzneimitteln, die sich entweder bereits als therapeutisch wirksam und nützlich, also als

„tauglich“ erwiesen haben oder die gerade in wissenschaftlicher Weise auf ihre Tauglichkeit

210 Rebhahn in Mosler/Müller/Pfeil, Der SV-Komm § 136 ASVG Rz 28 (Stand 31.12.2012, rdb.at).

211 Rebhahn in Mosler/Müller/Pfeil, Der SV-Komm § 136 ASVG Rz 29 (Stand 31.12.2012, rdb.at).

75 geprüft werden.212 Die Schulmedizin – und somit nicht das gesamte Spektrum der medizinischen Wissenschaft – bildet in der gesetzlichen KV das Maß aller Dinge.213

Anderes trifft auf die sogenannten „Außenseitermethoden“ oder zum Teil auch auf die

„alternativen“ Behandlungsmethoden zu. Aus Sicht des KV-Rechts stehen diese Methoden im Gegensatz zur Schulmedizin. Quasi als „Verneinung“ der Schulmedizin gehören sie in die Kategorie der wissenschaftlich nicht erprobten Heilverfahren, wenngleich sie noch innerhalb der den Ärzten vorbehaltenen medizinischen Wissenschaft stehen. Die schwere Nachweisbarkeit und die bestrittene Anerkennung machen diese Methoden zu den Außenseitern. Was die medizinischen Erfahrungssätze betrifft, wird in Urteilen zu Außenseitermethoden gesagt, es reiche, wenn „nach den Ergebnissen einer für die Bildung eines Erfahrungssatzes ausreichenden Zahl von Fällen (prognostisch) ein Erfolg erwartet werden konnte“ bzw. kann.214 „Erfahrungssatz“ wird hier laut Rebhahn aber offenbar nicht im Sinne der üblichen Kriterien wissenschaftlicher Medizin verwendet; man verzichtet damit offenbar auf die üblichen Standards von medizinischen Prognosen, die Anforderungen an

„erfolgversprechend“ und damit an die Erfolgswahrscheinlichkeit scheinen hier sehr gering zu sein. Die praktische Bedeutung dieser Abschwächung scheint auf den ersten Blick zwar beschränkt zu sein, weil es nur um Außenseitermethoden gehe und die Leistungspflicht der KV dafür nur subsidiär zu jener für schuldmedizinische Behandlungen sei. Allerdings wird nicht nur diese Subsidiarität zunehmend abgeschwächt. Das Absenken der Anforderungen an die Erfolgswahrscheinlichkeit ist auch für sich fragwürdig. Die KV als Zwangsversicherung muss und darf nach Ansicht von Rebhahn ihre Mittel auf jene Behandlungen konzentrieren, die dem „(aktuellen) Stand der medizinischen Wissenschaft“ entsprechen. Gegen die Pflicht der KV zur Bezahlung einer von der Schulmedizin nicht anerkannten Behandlungsmethode

212 Rebhahn in Mosler/Müller/Pfeil, Der SV-Komm § 136 ASVG Rz 27 (Stand 31.12.2012, rdb.at).

213 Resch, Der Anspruch auf Krankenbehandlung im Hinblick auf so genannte Außenseitermethoden und neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden – Die Rechtslage in Österreich, in Jabornegg/Resch/Seewald (Hrsg.), Grenzen der Leistungspflicht für Krankenbehandlung (2007) 57.

214 OGH 24.07.2008, 10ObS46/08z; OGH 10.11.2009, 10ObS86/09h.

76 bestünden/bestehen selbstverständlich keine Bedenken, wenn tatsächlich dargetan wird, dass eine Therapie im Vergleich zu der schulmedizinischen Behandlung bei weitem höhere Erfolgsaussichten biete und (überdies auch noch) erheblich geringere Nebenwirkungen mit sich bringe. Allerdings fehlt dieser Nachweis in der Regel. Fehlt aber der fragliche Nachweis, dann sind nur jene Behandlungen „zweckmäßig“, die nach dem aktuellen Stand medizinischer Forschung die relativ größte Erfolgswahrscheinlichkeit aufweisen. Nur für diese Arzneimittel ist der für den Anspruch notwendige therapeutische Nutzen zu bejahen.215 Nicht zweckmäßig sind Behandlungen, deren aus empirisch überprüfbaren Erfahrungssätzen ableitbare Erfolgswahrscheinlichkeit gering ist. Ist der therapeutische Nutzen offenkundig nicht nachgewiesen, so ist die KV nach dieser Ansicht daher nicht leistungspflichtig.216 Ob diese Ausführungen gerade in Bezug auf Arzneimittel so stehen gelassen werden können, bleibt noch zu untersuchen. Eine Balance zwischen den verschiedenen Interessenlagen zu finden ist schwer. Einem unheilbar Kranken, dem ein „(noch) nicht anerkanntes“ Mittel vielleicht die letzte Hoffnung darstellt, bliebe dieses Mittel daher wegen der fehlenden Nachweisbarkeit der Wirkung auf Kosten der KV verwehrt. Rebhahn führt hier treffend an, dass sich ein öffentliches Gesundheitssystem auf generelle, nachprüfbare Erwägungen stützen muss.217 Trotzdem können solche Erwägungen bei Mitteln, die dem gelben oder roten Bereich des EKO zugehören, nicht problemlos festgemacht werden. Außer Frage steht aber, dass ein gewisser therapeutischer Nutzen notwendig ist, also die Ziehung einer Grenze durchaus erforderlich ist, da ansonsten die KV beispielsweise auch für Behandlungen durch

„Geistheiler“ einzustehen hätte.218 Die Finanzierung von medizinischen Experimenten kann nicht Aufgabe der KV sein.

215 Thaler/Plank, Heilmittel und Komplementärmedizin (2005) 38.

216 Rebhahn in Mosler/Müller/Pfeil, Der SV-Komm § 136 ASVG Rz 29 - 30 (Stand 31.12.2012, rdb.at).

217 Rebhahn in Mosler/Müller/Pfeil, Der SV-Komm § 136 ASVG Rz 31 (Stand 31.12.2012, rdb.at).

218 Rebhahn in Mosler/Müller/Pfeil, Der SV-Komm § 136 ASVG Rz 32 (Stand 31.12.2012, rdb.at).

77 Die Relevanz der Erfolgswahrscheinlichkeit für therapeutischen Nutzen und Zweckmäßigkeit betrifft – neben Mitteln, die bereits länger bekannt sind – auch neue Mittel, deren Wirksamkeit im Rahmen der Schulmedizin evaluiert wird. Bei diesen ist fraglich, ab wann eine Behandlung bei (sehr) niedriger Erfolgswahrscheinlichkeit zweckmäßig oder wegen eines zu geringen therapeutischen Nutzens nicht zweckmäßig ist. Dieselbe Frage kann sich bei länger bekannten Arzneimitteln stellen, die zwar nach dem aktuellen Stand medizinischer Forschung die relativ größte Erfolgswahrscheinlichkeit aufweisen und die einzige mögliche Behandlung darstellen, bei denen der nachgewiesene therapeutische Nutzen aber gering ist.

Die Anforderungen an die Erfolgswahrscheinlichkeit dürfen laut Rebhahn nicht zu stark abgesenkt werden. Die KV muss mit beschränkten Mitteln rechnen. Das Gesetz kann sinnvollerweise daher nur so ausgelegt werden, dass der therapeutische Nutzen ausreichend groß sein muss. Das Ausmaß des erforderlichen therapeutischen Nutzens wird primär von der Schwere der Erkrankung (Betroffenheit) und den Chancen auf Genesung ohne das Mittel abhängen; überdies kann das Nutzen/Kosten-Verhältnis relevant sein (Wirtschaftlichkeitsgebot).219

Bei mehreren geeigneten Mitteln kommt (in Bezug auf die Wirkung) primär dasjenige in Betracht, mit dem sich die Zweckbestimmung am besten erreichen lässt.220 Häufig sind aber die therapeutischen Nutzen verschiedener Mittel unterschiedlich. Hat eines der Mittel einen nachgewiesen höheren therapeutischen Nutzen, so ist in der Regel nur dieses zweckmäßig.221 Dies findet sich auch im § 2 Abs 1 RöV wieder. Diese Bestimmung spricht von zweckmäßiger und wirtschaftlicher Verschreibung eines Heilmittels, wenn die Verschreibung geeignet ist, den „größtmöglichen therapeutischen Nutzen“ zu erzielen.

Gibt es mehrere nach dem Stand der Wissenschaft in etwa gleich geeignete Mittel, so ist

„dasjenige auszuwählen, dessen Einsatz einen Erfolg mit den geringsten nachteiligen

219 Rebhahn in Mosler/Müller/Pfeil, Der SV-Komm § 136 ASVG Rz 36 (Stand 31.12.2012, rdb.at).

220 OGH 10.11.2009, 10ObS86/09h.

221 Rebhahn in Mosler/Müller/Pfeil, Der SV-Komm § 136 ASVG Rz 37 (Stand 31.12.2012, rdb.at).

78 Nebenwirkungen für den Patienten verspricht.“222 So ist in der Rechtsprechung ganz allgemein auch der Grundsatz anerkannt, dass die Zweckmäßigkeit einer Krankenbehandlung nicht allein nach ökonomischen Gesichtspunkten beurteilt werden darf, sondern auch das Ausmaß der Betroffenheit des Patienten im Einzelfall berücksichtigt werden muss. Es kann daher auch die Entscheidung des betroffenen Patienten, der unter Umständen die Wahl zwischen mehreren Behandlungsmethoden hat, die zwar im Wesentlichen zum selben Ziel führen, jedoch unterschiedlich belastende Therapien zum Gegenstand haben, nicht außer Acht gelassen werden.223 Diese Wahlmöglichkeit hat der OGH auch zugunsten einer alternativen Heilmethode bejaht, wenn durch sie der „gleiche Heilerfolg“ erzielt werden kann.224