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Theoretische Zugänge

Im Dokument Musik in interreligiösen Begegnungen (Seite 88-95)

«Musik» in religiös pluralen Räumen

2. Theoretische Zugänge

Auf einer Theorieebene ist es innerhalb der Religionswissenschaft seit etwa 30 Jahren Standard, die kulturwissenschaftliche Religionsforschung als Destruktion sämtlicher Zeichen von Kommunikationssystemen zu verste-hen: «Zeichen in diesem Sinne sind nicht nur oder vorrangig Wörter oder Sätze, sondern natürlich auch optische Zeichen, Ornamente etwa und

‹Bil-6 Dazu auch Beinhauer-Köhler: Im Zwischenraum (Anm. 3), 55–57.

der›, nicht zuletzt auch konventionalisierte Bewegungsabläufe (Gesten, ‹ri-tualisierte› Bewegungen, Tänze)»7,schrieb Burkhard Gladigow paradig-matisch 1986. Gegen Ende des Zitats klingt bereits die performativ-auditive Dimension an, wenn diese auch innerhalb des Fachs lange Jahre noch weniger prominent untersucht wurden als andere Ebenen von Zeichensystemen.

Inzwischen entwickelte Ansätze in Richtung Klang sind Teil einer reli-gionswissenschaftlichen Religionsästhetik. Hier steht die Wahrnehmung mit den menschlichen Sinnen (aisthesis) im Mittelpunkt, die für verschie-dene Felder, wie das Sehen, die Haptik, das Hören usw. durchgespielt wird. Dass es dabei nicht um Ästhetik im Sinne des Schönen, angelehnt an eine philosophische und kunsttheoretische Perspektive des 18. und 19. Jahrhunderts geht, sondern um einen Rekurs auf Aristoteles’ Eintei-lung der menschlichen Sinne, verdeutlichte Jürgen Mohn, der daher auch dem Begriff der Religionsaisthetik den Vorzug gibt.8

Birgit Meyer und Jojada Verrips verwenden in vergleichbarem Zusam-menhang den Topos der sensational forms. Dabei handelt es sich um Sets eingeübter Körperpraktiken. Entgegen einem akademischen Blick auf ein-zelne Wahrnehmungsmöglichkeiten der Sinne wird dabei auf ihr viel-schichtiges Zusammenspiel abgehoben, das gleichwohl bestimmte Forma-tionen kenne, etwa die große Bedeutung von Geruch und Haptik für Besucher byzantinischer Messen. Regelmäßige Kirchenbesucher verbinde neben einem gemeinsamen Corpus bekannter Klänge, die vertraute Ge-fühlslagen evozieren, oft sogar ein bestimmter Stil sich zu kleiden, was alles zusammen zu einer «Beheimatung» führe.9

Parallel dazu arbeitet der Visualitätstheoretiker David Morgan, um kol-lektive Kulturen des Einsatzes der Sinne zu erfassen, mit dem Begriff des social body. Zwar beobachtet er vorwiegend Kulturen des Sehens, aber auch

7 Burkhard Gladigow: Gegenstände und wissenschaftlicher Kontext von Religionswissenschaft, in: Hubert Cancik / Burkhard Gladigow / Matthias Laub-scher (Hg.): Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Bd. 1, Stutt-gart u. a. 1988, 26–40, hier 33.

8 Vgl. Jürgen Mohn: Religionsaisthetik. Religionen als Wahrnehmungs-räume, in: Michael Stausberg (Hg.): Religionswissenschaft, Berlin/Boston 2012, 329–342.

9 Vgl. Birgit Meyer / Jojada Verrips: Aesthetics, in: David Morgan (Hg.):

Key Words in Religion, Media and Culture, New York 2008, 20–30, hier 28.

diese lassen sich kaum separieren und unabhängig von andern Körperprak-tiken verstehen. Menschen habitualisieren vielmehr ihre komplexe soziale und physische Disposition nach rituellen Gewohnheiten in Wechselwir-kungen mit z. B. der Bestuhlung einer Kirche. Dazu heißt es zur Um-schreibung einer gemeinsamen Formation der Körper während einer Pre-digt: «To sit in a church is to sit with others, to conform the social body of the group […] Sitting in unison is no less important for mainstream Protestants than praying or singing together.»10

Es klingt an: Nicht selten werden diese grundlegenden religionsästhe-tischen Reflexionen explizit räumlich gedacht und berühren damit einen wichtigen Aspekt des vorliegenden Themas, siehe Morgans Beispiel vom Sitzen und Hören in der Kirche. Nicht ohne Reiz ist im Zitat die Um-schreibung «sitting in unison». Die lautlichen Äußerungen einer protes-tantischen Liedkultur werden synästhetisch mit dem entsprechenden Usus des Sitzens analogisiert, was sicher der Erfahrungsdimension nahekommt;

Singende, Betende oder einer Predigt Lauschende werden dies nicht un-abhängig von ihrer Körperhaltung in den Bänken des Kirchenraums prak-tizieren.

Mohn kombiniert seine Überlegungen zur aisthesis mit der Beobach-tung von Wahrnehmungsräumen. Gläubige kommunizieren mittels der ihnen geläufigen Zeichen in einer Lebenswelt, in der sie sich durch ihre Raumkonzeptionen zu orientieren suchen. Mohn analysiert entsprechend das buddhistische bhavacakra, das Rad des Werdens, als eine grafische Darstellung des kosmischen Geschehens und der Möglichkeiten der Erleuchtung. Diese sind in ein Rad eingeordnet, dessen Speichen die Welten der Wiedergeburt wie Erde, Unterwelt und Himmel visualisie-ren.11 Der Raum begegnet in diesem Fall vor allem als sozial konstruierte Imagination.

Während eine sozial- und kulturwissenschaftlich geprägte Raumdis-kussion die Idee des Raums, etwa um den Begriff der mental map, vor-wiegend in soziale Konstruktionen auflöst, die gemeinsame Identitäten

10 David Morgan: The Embodied Eye, Berkeley/Los Angeles (CA) 2012, 176.

Siehe auch zur These des social body als Untersuchungszugang zu einer Auto-bahnkapelle in der Schweiz: Bärbel Beinhauer-Köhler: Natur als gestalterisches Zeichen am «Ort der Besinnung» der Autobahnraststätte Gotthard, in: dies. u. a.

(Hg.): Religion. Raum, Natur. Religionswissenschaftliche Erkundungen (Mar-burger Religionswissenschaft im Diskurs 1), Berlin 2017, 11–25, hier 13.

11 Vgl. Mohn: Religionsaisthetik (Anm. 8), 338–340.

prägen und die Verortung in einer Umwelt ermöglichen,12 muss das vorliegende Theorieset auch physische Räume umfassen. Allerdings wird auch hier schnell deutlich, dass das eine vom anderen, also der konkrete, menschlich gestaltete Raum von seinen Nutzern und deren Imaginatio-nen, nicht zu trennen ist. Der Soziologe Markus Schroer schreibt entspre-chend in seinem Beitrag «Raum, Macht, Religion»: Nicht nur Religionen

«machen» Räume, also Religionsgemeinschaften als Bauherren und ihre Architekten gestalten ihre Synagogen, Kirchen, Moscheen, Tempel nach ihren jeweiligen Vorstellungen, sondern auch Räume «machen» umge-kehrt Religionen, im Sinne einer formativen Kraft, die dann auch Mög-lichkeiten der Nutzung und (z. B. liturgischen) Bewegung im Raum vor-gibt.13 Dies wirkt sich nicht zuletzt auf die Wahrnehmung von Klängen im Raum aus.

Die auditive Dimension von Religionen selbst wird inzwischen unter-sucht. Als wegweisend kann hier Annette Wilkes und Oliver Moebus’ um-fangreiche Studie «Sound and Communication. An Aesthetic Cultural History of Sanskrit Hinduism» (2011) zum Hinduismus als einer klang-zentrierten Religion gelten. Hatte man sich zuvor schwerpunktartig vor allem den kognitiven Inhalten religionsphilosophischer indischer Glau-benswelten genähert, rücken die Autoren mit der Berücksichtigung des Klangs unser Verständnis einer komplexen Religion in ein anderes Licht.

Die Tatsache, dass der «Text» des Veda regulär als Performanz zu Gehör gebracht wird, zusammen mit bestimmten eingeübten Melodien, Körper-haltung, Gestik und Mimik, verleiht der kognitiven Dimension ein spezi-fisches Gepräge, das europäische Forschung erst seit einiger Zeit zur

12 Als Ausschnitte einer breiten kulturwissenschaftlichen Raumdebatte hier interessant: Sabine Damir-Geilsdorf / Angelika Hartmann / Béatrice Hendrich (Hg.): Mental Maps – Raum – Erinnerung. Kulturwissenschaftliche Zugänge zum Verhältnis von Raum und Erinnerung, Münster 2005 sowie Uwe Wirth (Hg.): Bewegen im Zwischenraum, Berlin 2012 inklusive Rekursen auf Homi K.

Bhabha und das Konzept des Dritten Raums.

13 Vgl. Markus Schroer: Raum, Macht, Religion. Über den Wandel sakraler Architektur, in: Beinhauer-Köhler/Roth/Schwarz-Boenneke (Hg.): Viele Reli-gionen – ein Raum?! (Anm. 3), 17–34, hier 19.

Kenntnis nimmt, welches Ritualspezialisten und Laien jedoch primär er-fahren.14 Auch Wilke und Moebus erweisen sich dabei als Teil der umris-senen religionswissenschaftlichen Wende zur Religionsästhetik; auch sie beschreiben Wahrnehmungs- und Kommunikationsmuster einer Religion als soziokultureller Gruppe, in diesem Fall mit Fokus auf Klänge.

Ähnlich ist auch Isabel Laacks Arbeit «Religion und Musik in Glaston-bury. Eine Fallstudie zu gegenwärtigen Formen religiöser Identitäts-diskurse» (2011)15 einzuordnen. Laack nimmt ein bestimmtes Milieu in den Blick, dessen religiös-kulturelle Identität und Kommunikation durch Klänge geprägt ist. Sie beschreibt Glastonbury in ihrer empirischen Studie als spirituelles Zentrum mit einer ausdifferenzierten Band- und Musik-kultur.

Interessanterweise fehlt in beiden Arbeiten ein Brückenschlag zur konkreten räumlichen Dimension. Wilke/Moebus geht es wesentlich um das Verhältnis von Text und Klang, Laack um die Vielfalt religiöser Stile in einer Stadt, die über ihr Festival dynamisiert ein Kristallisationspunkt alternativer Religionsentwicklungen ist. Die Verbindung einer Untersu-chung religiöser Klänge und der Dimension des physischen Raums steht also innerhalb der Religionswissenschaft im engeren Sinne noch aus.16

Anregung bietet der Beitrag «Soundscape» der Ethnologin Dorothea Schulz in David Morgans Band «Keywords in Religion, Media and Cul-ture» (2008). Sie spricht aus verschiedenen Gründen nicht von «Musik»

oder «sakraler Musik»: Dies seien abendländische kultur- und

religions-14 Vgl. Annette Wilke / Oliver Moebus: Sound and Communication. An Aesthetic Cultural History of Sanskrit Hinduism, Berlin/New York 2011;

Annette Wilke: Text, Klang und Ritual, Plädoyer für eine Religionswissenschaft als Kulturhermeneutik, in: Michael Stausberg (Hg.): Religionswissenschaft, Ber-lin/Boston 2012, 407–420.

15 Vgl. Isabel Laack: Religion und Musik in Glastonbury. Eine Fallstudie zu gegenwärtigen Formen religiöser Identitätsdiskurse, Göttingen 2011.

16 Im Gegensatz zur Systematischen Theologie, wo soeben eine einschlägige Arbeit zu interreligiöser Musik erschienen ist: Verena Grüter: Klang – Raum – Religion. Ästhetische Dimensionen interreligiöser Begegnung am Beispiel des Festivals Musica Sacra International, Zürich 2017. Hier spielt das Setting eine wesentliche Rolle für Reflexionen zur ästhetischen Erfahrung.

spezifische Formate, während andere Kulturen ganz andere Verhältnisbe-stimmungen vornähmen.17 Statt von Musik eher von Klängen zu spre-chen, lässt also Raum für die Erfassung kultureller Vielfalt und deutet auf notwendige spezifische Einordnung klanglicher Genres, da sich im vorlie-genden Themenfeld ganz verschiedene Ebenen jeweiliger Klangkulturen begegnen.

Schulz berücksichtigt in ihren Überlegungen bewusst die räumliche Dimension von Klängen und verweist auf den Begriff des acoustic space sowie dessen Prägung und Rezeption innerhalb der Medientheorie seit den 1950er Jahren mit der Zeitschrift «Explorations. Studies in Culture and Communication» (1953–1959), hg. von Marshall McLuhan und Edmund Carpenter. Carpenter entwickelte bereits die Idee eines earpoint, also die Frage nach der räumlichen Platzierung eines Hörers. Dabei ging er, im Gegensatz zu McLuhan, der über das Primat des Hörens gegenüber gerin-gerer Bedeutung des Sehens reflektierte, von der Normalität der sensuell vielfältigen Wahrnehmung aus. Schulz verweist im Hinblick auf die Räumlichkeit der Klänge besonders auf Murray Schafer, der in «The Tuning of the World» (1977) zunächst die impliziten Wertungen von music, sound und noise auflösen wollte und lieber von soundscapes sprach, um eine nicht zuletzt kulturgeschichtlich gewachsene «Topografie» von Klängen samt enthaltener wertender Zuschreibungen zu beleuchten. In der Folge wurde der Begriff des soundscape unterschiedlich weiterentwi-ckelt: In der musikwissenschaftlichen acoustemology ging es um die kritische Erfassung eines spezifischen sozialen Umfeldes mit seinen Klangteppichen wie dem Verkehr einer Stadt. Die Ethnologie oder Kulturanthropologie entwickelten das Konzept weiter in Richtung der Destruktion von Vor-stellungen über Klänge und Wechselwirkungen zwischen Klang und Raum im Sinne konkreter Hörsituationen.18

Schulz selbst arbeitet zu Radiopredigern in Afrika, und der soundscape dient ihr als Begriff, um die Intermedialität und vielschichtige ästhetische Erfahrungsdimensionen zu erfassen: In ihrem Feld wirke ihr zufolge eine Tradition des touch-sound, zurückgehend auf einen populären islamischen Berührungskult einer in Dingen oder Menschen vermittelten göttlichen

17 Vgl. Dorothea E. Schulz: Soundscape, in: David Morgan (Hg.): Key Words in Religion, Media and Culture, New York 2008, 172–186, hier 173. Vgl.

auch Wilke/Moebus: Sound and Communication (Anm. 14), 121. 312–315.

18 Vgl. a. a. O., 176 f.

Segenskraft (baraka). Diese gehe in einer oralen Kultur Afrikas eine Verbindung mit den Aktivitäten charismatischer Prediger ein, durch die sich Gläubige, selbst durch eine gehörte Radiopredigt vermittelt, unmit-telbar, im Sinne der baraka, berührt fühlen können. Soundscape dient als Kernbegriff, um konkrete Hörerfahrungen in ihrer körperlich-habituellen und räumlichen Verankerung zu sehen: «Because soundscape is closely re-lated to the body movement and sensation and anchors religious experi-ence in the here and now, it implies a notion of localized ‹scape›.»19

Ähnlich verweist der Soziologe Holger Schulze auf die körperlich-räumlichen Erfahrungen von Klängen. Er arbeitet mit dem Begriff der

«Hörhaltung», einer hearing perspective sowie dem auditive habitus.20 Im-mer geht es ihm um leiblich bestimmte Klangpraktiken und Hörerfahrun-gen. Analog zu David Morgans Fokus auf ganze Blickkulturen wird nun das Hören als eine viele Sinne berührende Körperpraxis beschrieben, die ganze Gemeinschaften präge: «Hören ist materiell situiert und geprägt durch materiale Wirkungen einer Klangumgebung aus gegebener Land-schafts- und Stadtplanung und jeder uns leiblich einhüllenden Architektur […].»21

Religiöse Klangräume (soundscapes) entstehen, diese Theoriesets zu-sammenfassend, also in einem sozialen Kontext im Wechselspiel von Pro-duzenten und Rezipienten von Klängen, die dabei etablierten habituellen, d. h. körperlich-sensuellen und kognitiven Codes folgen und somit Klang-kulturen ausbilden. Sie wirken auf der Ebene der individuellen Körper-haltungen und damit auch sozialen Verkörperung in einem dreidimen-sionalen Raum. Dieser formiert die klangliche Wahrnehmung (earpoint) ebenso, wie er mit der kulturspezifischen Deutung der Klänge in Zusam-menhang steht.

19 Vgl. a. a. O., 180–185, Zitat: 185.

20 Vgl. Holger Schulze: Der Klang und die Sinne. Gegenstände und Me-thoden eines sonischen Materialismus, in: Herbert Kalthoff / Torsten Cress / Tobias Röhl (Hg.): Materialität. Herausforderungen für die Sozial- und Kultur-wissenschaften, München 2016, 413–434, hier 417–420.

21 A. a. O., 417.

Im Dokument Musik in interreligiösen Begegnungen (Seite 88-95)