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Religiöse Musik

Im Dokument Musik in interreligiösen Begegnungen (Seite 139-142)

Musikethnologische Perspektiven

2. Religiöse Musik

Während Klang eine im Raum physisch messbare Schwingung ist, ist Mu-sik nicht etwas physisch Messbares, sondern entsteht aus dem Prozess der Wahrnehmung. Nicht alle Gesellschaften der Welt verwenden das Wort

«Musik», um von Praktiken zu sprechen, die aus europäischer Sicht als Musik kategorisiert werden würden. Damit Klang zu «Musik» wird, braucht er Assoziationen. Oder, um mit dem Ethnomusikologen John Blacking zu sprechen, Musik ist «menschlich organisierter Klang», zusam-mengesetzt aus Aspekten, die als «musikalisch» wahrgenommen werden (z. B. Klang, Partitur) und Aspekten, die als «außermusikalisch» oder sogar

«nicht-musikalisch» wahrgenommen werden (sozialer, kultureller und his-torischer Kontext).17 Musik kann, so Bayreuther, transzendent wirken und verzaubern, ohne religiös zu sein. Dazu braucht es eine Interaktion zwischen ästhetischer Erfahrung und Botschaft.18 Klang allein ist wie ein

16 Kertzer: Ritual, Politics, and Power (Anm. 7), 9.

17 Blacking: How Musical is Man? (Anm. 4).

18 Bayreuther: Was ist religiöse Musik? (Anm. 2). Vgl. auch Meneses:

Listening with the Body (Anm. 4).

leeres Gefäß, er hat keinen Inhalt. Er braucht metaphorische Assoziatio-nen, um bedeutend zu werden.

«Religiöse Musik» trägt dazu bei, religiöse Texte, Gedanken, Gefühle, Wünsche und Sehnsüchte zu generieren oder auszudrücken. Sie organi-siert die rituelle Zeit und verbindet eine bestimmte soziale Gruppe auf bestimmte Art mit einem System der Interpretation der Welt, für das ein nicht verfügbares Transzendentes konstitutiv ist und in Form einer Leben-spraxis verbindlich wird. Religiöse Musik verbindet das Wort und die Handlung. Sie stärkt soziale und religiöse Hierarchien. Die Einbettung religiöser Musik in die jeweilige Kultur ist ein notwendiges Element bei der Bestimmung des Begriffs religiöser Musik, so schreibt der Musik-pädagoge Christoph Stange. Religion ist integrierender Teil der Lebens-führung und religiöse Musik etwas im Leben Integriertes. Entscheidend für Stange ist dabei die Intention, die Musik in der für die jeweilige soziale Gruppe typischen Weise an ein Weltdeutungssystem anzubinden, für das ein unverfügbares Transzendentes konstitutiv ist und das in Form einer Lebenspraxis Verbindlichkeit erfährt.

Der schwedische Musikwissenschaftler Eyolf Østrem betont, dass jede Musik potenziell religiös ist. Die Frage ist nicht, was sie bedeutet, sondern wie sie bedeutet.19 Das Religiöse kommt nicht von der Musik, sondern von ihrer Beziehung zu anderen Elementen religiöser Praxis. Laut Rainer Bayreuther wird Musik religiös, wenn sie mit einer religiösen Erfahrung verbunden wird, eingebettet in eine bestimmte kulturell-religiöse Praktik und basierend auf dem religiösen Gefühl, das der Hörer und die Hörerin mitbringt. Die religiöse Erfahrung der Musik fällt mit der kulturell-religi-ösen Praxis zusammen und wird durch Imitation und Kollektivierung kul-turalisiert.20 Der Mensch hört nicht nur die Worte des religiösen Diskur-ses, sondern – so Hans-Günter Heimbrock – erreicht die religiöse Erfahrung durch die Wahrnehmung von Klängen.21

In seiner Studie über «Die Musik und das Unaussprechliche», geht Eyolf Østrem unter anderem von einer Opposition zwischen «Vernunft»

19 Eyolf Østrem: Music and the Ineffable, in: Siglind Bruhn (Hg.): Voicing the Ineffable: Musical Representations of Religious Experience (Interplay: Music in Interdisciplinary Dialogue 3), Hillsdale (NY) 2002, 287–313, hier 306–311.

20 Bayreuther: Was ist religiöse Musik? (Anm. 2), 10. 28. 45.

21 Hans-Günter Heimbrock: Über die religiöse Wirkung von Klängen.

Phänomenologische und psychoanalytische Zugänge, in: APR 22/1 (1997) 100–

115, hier 105.

und «Emotion» aus, wie sie von Augustin vorgeschlagen wurde: auf der einen Seite gibt es das Herz, die Freude, den Affekt, das Lied und den Klang – also all das, was sich mit Worten nicht sagen lässt; auf der anderen Seite gibt es die Worte mit ihrer Bedeutung.22 Das rationale Denken identifiziert sich mit einem konzeptuellen und verbalen Verstehen, wäh-rend sich die Emotion mit dem identifiziert, was man nicht mit Worten sagen kann. Emotion identifiziert sich mit Klang, also mit dem Sinnlichen, dem Körperlichen, dem, was an kein Konzept gebunden werden kann. Sie verbindet sich auch mit der Seele und zugleich, über die Verbindung der Seele mit dem Göttlichen, mit einem «Gott». Das Sinnliche wird durch sein Unaussprechliches zu einem direkten Weg zu Gott – zu dem, der letztendlich das Unaussprechliche ist. Für Østrem ist Musik nicht nur eine Nachahmung von Emotionen, sondern wird zu einem Mittel, durch das Emotionen direkt ausgedrückt werden können ohne den Umweg über die konzeptuelle Sprache. Wie Suzel Reily schreibt, verknüpfen sich religiöser Diskurs und ästhetische Erfahrung durch die musikalische Performance, und die Teilnehmenden tendieren dazu, den rituellen Raum als Begeg-nung mit einer moralischen OrdBegeg-nung des Heiligen (orig. «the sacred») zu erfahren.23

Eine Definition von religiöser Musik verbirgt sich in dieser Beziehung zwischen Wirkung und Kontext. Raum und Klang konstituieren sich ge-genseitig in der Schaffung des Heiligen. Form und Inhalt können nicht getrennt werden. Mittel wie Klang tragen nicht nur eine Bedeutung, son-dern haben auch selbst eine sinnliche Bedeutung. Das heißt, dass sich re-ligiöse Mittel nicht nur auf eine Theorie oder Kosmologie beziehen, son-dern auch eine sinnliche Seite haben.

Im Sinne von Daniel Münster problematisiere ich im Folgenden, wie Form, Inhalt und Rezeption von Musik zusammenzudenken sind, um zu religiöser Musik zu werden.24 Auf der Grundlage der hier präsentierten theoretischen Impulse folgt nun meine Ethnografie der folia in den Hei-liggeistfesten auf den Azoren, um am Ende des Beitrags zu folgenden Fra-gen zurückzukehren: Was ist religiöse Musik? Liegt die religiöse Bedeu-tung auch in der Musik selbst oder nur in deren kulturellen Kontext?

22 Østrem: Music and the Ineffable (Anm. 19), 306–311.

23 Reily: Voices of the Magi (Anm. 4), 16 f.

24 Münster: Religionsästhetik und Anthropologie der Sinne (Anm. 8), 44.

126–136. 151.

Fördert Musik selbst religiöse Erfahrung? Ist Musik selbst eine religiöse Handlung oder wird sie nur durch ihren religiösen Kontext zu einer?

Im Dokument Musik in interreligiösen Begegnungen (Seite 139-142)