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Annäherung an das Thema

Im Dokument Musik in interreligiösen Begegnungen (Seite 175-178)

Was für eine Herkulesaufgabe! – Es geht im vorliegenden Band nicht um

‹Das geistliche Lied im Spannungsfeld von Reformation und Gegenrefor-mation›, auch nicht um ‹Die Popmusik als Faktor in den Beziehungen zwischen Muslimen und Hindus im England der 1990er Jahre›. Nein,

‹Musik in interreligiösen Begegnungen› ist unser Thema. Ein wahrhaft weites Feld!

Da kommt mir zunächst die ganze Vielfalt der Musik in den Sinn. Die verschiedenen Richtungen und Stile, populäre Unterhaltungs- und elitäre ernste Musik, all die Epochen und Strömungen, die unterschiedlichen äs-thetischen Prämissen, die immense musiksoziologische Bandbreite. Wie will man all dies über einen Kamm scheren und sich zu einer Definition aufschwingen, was Musik ist?

Weiter denke ich an die ganze Vielfalt dessen, was Religion ist. All die unterschiedlichen Religionen und Denominationen, all die verschiedenen Praktiken und Riten, die Bandbreite emotionaler und kognitiver Gehalte, die unterschiedlichen Theologien und Prägungen, die verwirrende Plura-lität religionssozilogischer Milieus und Institutionen. Wie will man in all dem Ordnung schaffen und bestimmen, was darin das Gemeinsame, das in all dem gegebene wesentlich Religiöse ist?

Schließlich der Gedanke der Begegnung. Da kann es ebenso gut um ein beiläufiges Nebeneinander mit zufällig-situativen Berührungspunkten wie um bewusst lancierte Gespräche über vereinbarte Inhalte gehen, um scharfe Oppositionen ebenso wie um gezielt aufgesuchte Gemeinsamkeiten, Überschneidungsbereiche und Grauzonen, hier ganz alltagspraktisch, dort rituell, dort ganz theoretisch und abstrakt. Wie kann man der Vielfalt all dessen, was als eine Form von ‹Begegnung› gelten kann, gerecht werden?

Angesichts dieser dreifachen Komplexität vergewissere ich mich erst einmal meines eigenen Standpunkts. Ich stehe hier nicht als Musiker, Mu-sikwissenschaftler oder Musiktheoretiker, sondern als Theologe. Genauer gesagt: als Systematischer Theologe, also nicht als Exeget, Kirchenhistori-ker oder Praktischer Theologe. Und noch einmal genauer: als evangelisch-reformierter Systematischer Theologe. Ich weiß mich in meinem Denken also abhängig von einer bestimmten Tradition, Theologie zu treiben. Al-les, was ich hier formuliere, das formuliere ich von diesem Standpunkt aus und denke im Rahmen der mit ihm gegebenen Möglichkeiten und Un-möglichkeiten.

Damit geht einher, dass ich mir keine deskriptive Aufgabe stelle. Selbst-verständlich erkenne ich an, dass es interreligiöse Begegnungen gibt, in denen der Musik eine besondere Rolle zukommt; und ebenso selbstver-ständlich kann man daran produktive Beobachtungen machen. Dennoch möchte ich für meine Überlegungen eine normative Problemstellung for-mulieren. Sie entspricht dem Titel dieses Vortrags: Was kann man sich theologisch von Musik in interreligiösen Begegnungen erhoffen – und was nicht?

Ich will gleich zu Beginn aufdecken, warum ich so frage: Bei aller Begeisterung für die Musik – oder gerade wegen ihr – versuche ich, eine kritische Distanz zu wahren. Musik ist etwas, das sich sehr einfach und sehr erfolgreich funktionalisieren lässt. In unseren Kaufhäusern wird sie genutzt, um uns in den siebten Himmel des Konsums zu erheben; in unse-ren Fußballstadien, um kollektive Gänsehaut zu erzeugen; in der Politik, um eine Atmosphäre von Eintracht, Macht und Stärke zu demonstrieren.

Muss man angesichts dieser Tatsachen nicht eine gewisse Vorsicht walten lassen, wenn es darum geht, die Musik in der religiösen Sphäre zu würdi-gen?

Es dürfte rasch deutlich werden, dass der methodische Zugang, den ich für das Folgende wähle, einen systemtheoretischen Einschlag hat. Im Hin-tergrund stehen die unterscheidungstheoretischen Überlegungen des eng-lischen Logikers George Spencer-Browns und deren systemtheoretische Interpretation durch Niklas Luhmann und Dirk Baecker.1 Ich über-nehme von diesen Gewährsleuten allerdings nur die differenziologische

1 Vgl. insbesondere: George Spencer Brown: Laws of Form, Leipzig 52011 (deutsch: Gesetze der Form, übers. v. Thomas Wolf, Leipzig 1997); Niklas Luh-mann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M.

Methodik und fülle diese inhaltlich auf andere Weise und betrachte andere Strukturen, als es etwa Luhmann in seinen religionssozilogischen Schriften tut. Diese meine Methodik2 bringt mit sich, dass ich im Folgenden die Rolle eines Anwalts von Unterscheidungen übernehme: als Anwalt ebenso der Unterscheidungen innerhalb religiöser Systeme als auch derjenigen zwischen verschiedenen religiösen Systemen – und schließlich auch als Anwalt der Unterscheidung zwischen musikalisch-ästhetischen und religi-ösen Aspekten.

Die folgenden Überlegungen haben fünf Teile. Dabei werde ich mir einige Zeit dafür nehmen, das Feld zu vermessen, auf dem interreligiöse Begegnung stattfindet. Ich beginne erstens bei der Religion und komme von dort zweitens kurz zum Interreligiösen. Sodann folgt ein dritter Teil zur Stellung der Musik innerhalb der Religion sowie viertens über sie hinaus. Im fünften und abschließenden Teil werden dann die Fäden 1987; ders.: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1992; ders.:

Einführung in die Systemtheorie, hg. v. Dirk Baecker, Heidelberg 62011; Dirk Baecker (Hg.): Kalkül der Form, Frankfurt a. M. 1993; ders. (Hg.): Probleme der Form, Frankfurt a. M. 1993; ders.: Form und Formen der Kommunikation, Frankfurt a. M. 32013; ders.: Beobachter unter sich. Eine Kulturtheorie, Berlin 2013; ders.: Organisation und Störung. Aufsätze, Berlin 22014.

2 Im Hintergrund steht meine Arbeit an einer Habilitationsschrift, die sich mit der Unterscheidung von Gott und Mensch befasst. Vgl. darüber hinaus:

Stefan Berg: Regress und Reentry. Basalität bei Hans Albert und George Spencer Brown, in: Stefan Berg / Hartmut von Sass (Hg.): Regress und Zirkel. Figuren prinzipieller Unabschließbarkeit: Architektur – Dynamik – Problematik, Ham-burg 2016, 211–249; ders.: Klingende Asche, tönender Staub. Musiktheologische Überlegungen in evangelischer Perspektive, in: Thomas Gartmann / Andreas Marti (Hg.): Der Kunst ausgesetzt (Publikationen der Schweizerischen Musik-forschenden Gesellschaft 2/57), Kongressbericht zum 5. Internationalen Kon-gress für Kirchenmusik, 21.–25. Oktober 2015 in Bern, Bern 2017, 101–117;

ders.: Störung und Unaussprechliches. Systemtheoretische Aspekte einer klin-gend-öffentlichen Theologie – am Beispiel von Richard Wagners ästhetischen Schriften, in: Thomas Wabel / Florian Höhne / Torben Stamer (Hg.): Öffent-liche Theologie zwischen Klang und Sprache. Hymnen als eine Verkörperungs-form von Religion (ÖfTh 34), Leipzig 2017, 129–147; ders.: Ärgernis und Tor-heit. Jesus Christus als Ereignis der Störung der Unterscheidung von Gott und Mensch, in: Hans-Peter Großhans / Michael Moxter / Philipp Stoellger (Hg.):

Das Letzte – der Erste. Gott denken, Festschrift für Ingolf U. Dalferth zum 70.

Geburtstag, Tübingen 2018, 19–39.

zusammengeführt und nach den Chancen und Risiken der Musik für die interreligiöse Begegnung gefragt.

Im Dokument Musik in interreligiösen Begegnungen (Seite 175-178)