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Musik im religiösen Kontext aus ethnomusikologischer Perspektive:

Im Dokument Musik in interreligiösen Begegnungen (Seite 115-118)

Ethnomusikologische Perspektiven

1. Musik im religiösen Kontext aus ethnomusikologischer Perspektive:

Eine kurze Bestandsaufnahme

Da Musik wie auch der Klang und die Performanz eine derart zentrale Rolle in nahezu jeder globalen religiösen Praxis spielen und diese Verbin-dung weit in andere Lebensbereiche hineinreicht, haben sich die meisten Ethnomusikolog/-innen mit religiösen Aspekten in irgendeiner Form aus-einandergesetzt. Wie Judith Becker, eine auf javanische Gamelanmusik spezialisierte US-amerikanische Ethnomusikologin, betont:

«Music plays a constitutive role in the religious practices of many peoples, as a marker of liturgical moments, as an adhesive in producing psycholog-ical and physpsycholog-ical unity in a congregation, and as a component in states of religious ecstasy. For the most part, however, the role of music in religious practices is not scripturically defined. Its function comes about through age-old custom and is part of ‹common› unreflective understandings.»10 Diese zentrale Rolle wird von Guy L. Beck, Herausgeber einer der ersten übergreifenden ethnomusikologischen Anthologien «Sacred Sound: Expe-riencing Music in World Religions», aufgegriffen: «[…] there were almost no communities or groups within the major world religions in which chant and music did not play a vital role»11. Wie Beck weiter ausführt, existiert eine intrinsische Verbindung zwischen Ritual und musikalischer Aktivität

9 S. dazu den Artikel von Bettina Strübel und Rainer Kessler in diesem Band.

10 Judith Becker: Tantrism, Rasa, and Javense Gamelan Music, in: Lawrence E.

Sullivan (Hg.): «Enchanting Powers». Music in the World’s Religions, Cambridge (MA) 1997, 15–59, hier 15.

11 Beck: Sacred Sound (Anm. 6), 1.

unabhängig von den teilweise extremen inhaltlichen Unterschieden in na-hezu allen Religionen:12 «[M]usic was the ‹glue› in the ritual that bound together word and action and also reinforced static social and religious hierarchies.»13 Zugleich ist Musik kreativ und beweglich – und in man-chen Kulturen teilweise deutliman-chen Veränderungen unterworfen.

In Einzelstudien sind musikalische Praktiken verschiedener religiöser Traditionen wie Judentum, Islam oder Hinduismus untersucht worden.

Von besonderem Interesse sind aber gerade auch Untersuchungen zur Be-deutung von Musik in schriftlosen religiösen Ritualen wie etwa verschie-denen Formen des Schamanismus.14 Grundlegende übergreifende ethno-musikologische Veröffentlichungen wie Becks Anthologie sind jedoch erst vergleichsweise spät erschienen bzw. fehlen nach wie vor – vielleicht auch angesichts der so großen Vielfalt und Komplexität. Selbst in Helen Myers’

fachprägender Einführung in die Ethnomusikologie von 1992 fehlt ein grundlegendes Kapitel zu diesem Bereich; Religion wird hier einzig in Ver-bindung mit der Trennung in weibliche und männliche Sphären disku-tiert, da entsprechend einseitige Perspektiven den Validierungsanspruch ethnomusikologischer Beobachtungen bei fehlender Reflexion des «Gen-der-bias» stark behindern können.15 Dies zeigt sich ebenfalls in Bruno Nettls «The Study of Ethnomusicology: Twenty-nine Issues and Con-cepts»16 – einer weiteren zentralen Facheinführung innerhalb der US-amerikanischen Ethnomusikologie: Auch hier wird Religion nur innerhalb

12 Ebd.

13 A. a. O., 2.

14 Eine vollständige Übersicht der Publikationen würde hier den Rahmen sprengen. Beispielhaft seien daher nur genannt: Regula Burkhardt Qureshi: Sufi Music of India and Pakistan. Sound, Context and Meaning in Qawwali [1986], New York/Oxford 22006; Simon Mills: Healing Rhythms. The World of South Korea’s East Coast Heredity Shamans, Aldershot 2007; David Harnish / Anne K. Rasmussen (Hg.): Divine Inspirations. Music and Islam in Indonesia, New York/Oxford 2011; Jeffrey A. Summit: Singing God’s Words. The Per-formance of Biblical Chant in Contemporary Judaism, New York/Oxford 2016.

15 Vgl. Helen Myers (Hg.): Ethnomusicology. An Introduction, New York/

London 1992; hier auch Margaret Sarkissian: Gender and Music, 337–348, hier 342.

16 Bruno Nettl: The Study of Ethnomusicology. Twenty-nine Issues and Concepts, Urbana-Champaign (IL) 1983.

der breiteren Diskussion zu Funktionen der Musik, nicht aber als eigen-ständiger übergreifender Komplex behandelt. Es fehlen somit nach wie vor stärker vergleichende Darstellungen jenseits einer eurozentrischen Per-spektive zu Kontext und Funktion, welche eine Grundlage zur weiterge-henden Auseinandersetzung mit interkulturellen und -religiösen Schnitt-stellen bzw. auch Konfliktpunkten bilden könnten. Das beinhaltet gerade auch performative Aspekte: Wie Beck weiter betont, sind die meisten Li-turgien mit einer Form der musikalischen Performanz verbunden. Dies betrifft in erster Linie grundlegende schriftliche Überlieferungen der reli-giösen Traditionen wie etwa den Koran, die Bibel und die Torah – um nur die drei monotheistischen Religionen zu nennen –, die in den gottes-dienstlichen Liturgien performativ verklanglicht werden.

Das gilt aber auch für religiöse Rituale in Kulturen ohne primäre schriftliche Klangfixierung: Wie mir ein australischer Aborigine am Rande der Weltkonferenz des International Council for Traditional Music 2013 in Shanghai sagte, ist die Trennlinie zwischen Wort und Gesang in seiner Kultur ein gradueller, kein absoluter Gegensatz. Aus Becks Perspektive ist die Unterscheidung zwischen der oftmals aus westlich-europäischer Sicht vorgenommenen Trennung von Religion als Text einerseits und als perfor-mative Kultur andererseits nicht haltbar – auch nicht im Christentum:

Musik und Choral sind zentral in der religiösen Erfahrung, weshalb eine Auseinandersetzung allein mit dem religiösen Text aus seiner Sicht für das tiefere Verständnis von Religion nicht ausreicht. Vielmehr muss der Kontext jeweils mit eingebunden werden.

Dies wird auch im Rahmenwerk der kulturanthropologisch geprägten ethnomusikologischen Herangehensweise reflektiert, welche immer die Auseinandersetzung mit der klingenden musikalischen Substanz mit der performativen Ebene verbindet und darüber hinaus in eine Untersuchung des (z. B. soziokulturellen) Kontextes mit seiner Vielfalt an Komponenten einbettet: Verschiedene Kulturen verwenden die teilweise extrem unter-schiedlich geschaffene (komponierte oder improvisierte) Musik im religi-ösen Kontext zu oftmals sehr unterschiedlichen Zwecken – und in sehr unterschiedlichen Ausprägungen. Das betrifft nicht nur das musikalische Material selbst, sondern etwa auch die genderbezogene Beteiligung, die Ausführung (einstimmig oder mehrstimmig; mit oder ohne Instrumente, denen in den verschiedenen Religionen ein unterschiedlicher Stellenwert zugesprochen wird) oder den Stellenwert der Professionalität der Ausüben-den. Das bedeutet aber, dass das Verständnis von Musik aufgrund dieser

kontextgebundenen Wahrnehmung im interkulturellen Vergleich nicht einheitlich und somit oftmals keine universelle Sprache ist und gerade mit Blick auf einen tieferen Verständigungsprozess eine umfassende Auseinan-dersetzung benötigt.

Wie grundlegend die performative Seite selbst innerhalb des Christen-tums bei identischen liturgischen Komponenten abweichen und dadurch andere Interpretationen repräsentieren kann, zeigt die seit 2013 von der Ethnomusikologin Serena Facci geleitete vergleichende Studie zur Vielfalt christlicher Kulturen in Rom, die durch moderne Migration und den Zu-strom von Flüchtlingen ab 2015 extrem angewachsen sind. Wie Facci in einer Tagungspräsentation 2017 berichtete,17 werden in der Folge dieser Entwicklungen teilweise räumlich eigenständige – z. B. syrische und kongolesische – Kirchen mit hauptberuflichen Priestern neu gegründet.

Zwar teilen alle Richtungen gemeinsame liturgische Elemente, unterschei-den sich jedoch – wie Faccis Team herausarbeiten konnte – grundlegend in der Performanz (etwa hinsichtlich der musikalischen Ausführung oder der aktiv beteiligten Gruppen) und Emotionalität teilweise erheblich, was die Frage aufwirft, inwieweit somit auch eine eigene Gottesdiensttheologie aus der liturgischen Performanz heraus entsteht.

Im Dokument Musik in interreligiösen Begegnungen (Seite 115-118)