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2.6 Verhaltensstörungen und Verhaltensprobleme

2.6.8 Stereotypien

Stereotypien werden auch als Zwangsbewegungen oder im englischen Sprachgebrauch als

„Obsessive Compulsive Disorders“ (OCD) bzw. „Compulsive Behaviour Disorders“ (CBC) bezeichnet. Die exakte Definition des Begriffes wirft dabei jedoch bisweilen Probleme auf, da sich die Erklärungsansätze der Ethologie zum Teil deutlich von denen der Neurologie unterscheiden (RUSHEN und MASON 2006). BUCHHOLTZ (1996) differenziert zwischen nicht-pathologischen und pathologischen Stereotypien, die beim Tier vor allem als Ausdruck der Überforderung der Anpassungsmöglichkeiten an die Haltungsbedingungen auftreten. Die Einordnung in den Bereich der Abnormalität bzw. Pathologie erfolgt, weil die meisten Stereotypien keinem offensichtlichen Zweck zu dienen scheinen (RUSHEN und MASON 2006). Sie sind durch ihre Formkonstanz, den repetitiven Charakter und das Fehlen einer unmittelbaren Funktion gekennzeichnet und entstehen oft, wenn Tiere unter ungünstigen Umweltbedingungen gehalten werden (MASON 1991; MUGFORD 1995). BUCHHOLTZ

(1996) zählt Stereotypien zusammen mit Depressionen, der Auflösung des zirkadianen Rhythmus und der Reduktion von Komfort-, Spiel- und Erkundungsverhalten, zu den Neurosen. Ursachen von Neurosen sind frühontogenetische oder aktualgenetische Erfahrungen sowie chronische Stressbelastungen; dadurch unterscheiden sie sich von Ethopathien, bei welchen in Folge züchterischer Maßnahmen die betroffenen Organismen von Geburt an derart geschädigt sind, dass das Erlangen von Homöostase unmöglich ist (BUCHHOLTZ 1996). FEDDERSEN-PETERSEN (2004) rechnet Stereotypien in extremer Ausführung zu den Verhaltensstörungen.

Vor allem in frühen Stadien kann das gezeigte Verhalten noch leichte Variationen aufweisen;

einzelne Stereotypien wie beispielsweise das Vor-sich-hin-Starren enthalten außerdem keine repetitiven Elemente (LUESCHER et al. 1991). Während BUCHHOLTZ (1996) eine Unterteilung in autoaggressive Stereotypien und Handlungen am Ersatzobjekt vornimmt, schlagen LUESCHER et al. (1991) eine Klassifizierung von Stereotypien anhand der Funktionskreise und Verhaltensweisen, aus denen sie entstanden sind, vor:

1) Körperpflege: Kauen an Pfoten, Flankensaugen, akrale Leckdermatitis, Kratzen, Ablecken von Objekten

2) Ernährungsverhalten: z.B.: Polydipsie, Polyphagie, Allotrophagie, Nuckeln an Textilien

3) Lokomotorisch: z.B.: Kreisbewegungen, Achten-Laufen, Hochspringen am Ort, Zaunlaufen, Graben, Erstarren

4) Vokalisation: z.B.: rhythmisches Bellen, Futter anbellen, sich selbst anbellen

5) Halluzinatorisch: z.B.: Vor-sich-hin-Starren, Fliegenschnappen, Beuteschnuppern, Beutefang

6) Neurotisch: z.B.: Beißen in eigenen Schwanz, plötzliche und unerwartete Aggression

RUSHEN und MASON (2006) sehen bei Carnivoren im Vergleich zu anderen Tierarten häufig lokomotorische Stereotypien.

Es gibt verschiedene Ursachen, die der Entstehung von stereotypen Verhaltensweisen zugrunde liegen. RUSHEN und MASON (2006) nennen Umweltfaktoren auf der einen Seite und individuelle Prädispositionen auf der anderen Seite als wichtigste Aspekte.

LUESCHER et al. (1991) unterscheiden genetisch bedingte oder erworbene neuropathologische Veränderungen im Gehirn von erworbenen Zwangshandlungen in Folge aversiver Erfahrungen in der Ontogenese oder Haltung unter ungeeigneten Umweltbedingungen. Bei Hunden können dabei vor allem erlernte Komponenten und unbewusste Verstärkung durch den Besitzer eine Rolle spielen.

Stereotypes Verhalten wird vermehrt bei angstauslösenden Ereignissen gezeigt (FEDDERSEN-PETERSEN 2004). Auch nach einer Verbesserung der äußeren Bedingungen wird das Verhalten meist beibehalten (REISNER 1991; HEIDENBERGER 2000). Stereotypien werden daher mit aktuellen, subotpimalen Umweltbedingungen, aber auch mit ungünstigen Haltungsbedingungen in der Vergangenheit assoziiert (MASON 1991).

Für Nutztiere konnte nachgewiesen werden, dass in Beständen mit schlechter Haltung gehäuft Stereotypien auftreten und diese mit weiteren Anzeichen eingeschränkten Wohlbefindens verbunden sind. Allerdings schienen dabei die Individuen, welche stark ausgeprägte stereotype Verhaltensweisen zeigten, insgesamt besser mit den ungünstigen Umweltbedingungen klar zu kommen, als solche, die weniger oder gar keine Stereotypien zeigten. Stereotypien führen zu einer reduzierten Wahrnehmung der Umwelt sowie zu einer reduzierten Erregbarkeit des betroffenen Tieres. Sie können daher in gewissem Umfang genutzt werden, um das Wohlbefinden von Tieren zu beurteilen (MASON 1991; RUSHEN und MASON 2006).

PRICE (1996) sieht eine enge Verbindung zwischen Stress und stereotypem Verhalten.

Stress bezeichnet eine Gesamtreaktion des Organismus, an der verschiedene nervöse und hormonelle Vorgänge beteiligt sind; jede Stressreaktion ist zunächst eine adaptive Reaktion auf eine mögliche Bedrohung (FEDDERSEN-PETERSEN 2004).

Trotz des Fehlens einer unmittelbaren Funktion von Stereotypien sehen RUSHEN und MASON (2006) in der Ausführung stereotypen Verhaltens eine Möglichkeit, besser mit Stress umzugehen; dies wird auch als „Coping“ bezeichnet. Laut PRICE (1996) hat stereotypes Verhalten die Funktion Stress zu reduzieren und wird über Wiederholungen allmählich zur Gewohnheit. HEIDENBERGER (2000) sieht die Funktion stereotyper Bewegungswiederholungen in einer vermehrten Ausschüttung endogener Opiate, unter deren Einfluss die restriktiven Haltungsbedingungen erträglicher werden. LUESCHER et al.

hingegen (1991) betonen, dass Messungen physiologischer Parameter gezeigt haben, dass stereotype Handlungen den Erregungslevel des Tieres nicht senken und demnach nicht als

Form der Stressbewältigung bzw. Coping-Strategien bezeichnet werden können. Sie sehen sie lediglich als Symptome neuropathologischer Veränderungen im Gehirn.

LUESCHER et al. (1991) messen Verhaltensweisen, die in Konfliktsituationen gezeigt werden, eine besondere Bedeutung bei der Entstehung von Stereotypien zu. Hat das Tier in einer Konfliktsituation keine Möglichkeit seine Erregung durch angemessenes, artspezifisches Verhalten abzubauen, bleibt der Konflikt bestehen und das Verhalten wird weiter gezeigt. Dabei tritt eine Reduktion des ursprünglichen Verhaltens auf wenige Elemente ein, die umso häufiger wiederholt werden. Konflikte können durch konkurrierende Motivationen entstehen, zwei entgegengesetzte Verhaltenstendenzen hemmen sich gegenseitig, so dass stattdessen als drittes Verhalten eine so genannte Übersprungshandlung gezeigt wird. Darüber hinaus kann die Abwesenheit entsprechender Auslösereize oder Zielobjekte einen Konflikt darstellen. Das Fehlen von Sozialpartnern oder ein Mangel an Gelegenheit Jagdverhalten auszuführen bedingt, dass der Hund das entsprechende Verhalten auf weniger geeignete Objekte umlenkt oder Leerlaufhandlungen ausführt. Auch die Unvorhersehbarkeit von Ereignissen sowie ein Mangel an Reaktionskontrolle sind belastend für Tiere. Kann ein Tier eine Situation nicht bewältigen, reagiert es mit Rückzug, Nichtverhalten oder inadäquatem Verhalten wie beispielsweise Stereotypien; hiermit verbunden sind neurophysiologische Prozesse, die sich weiterhin auf die Gedächtnisleistung und das Erleben des Tieres auswirken (TSCHANZ et al. 2001).

Wahrscheinlich existieren genetische Prädispositionen für das Auftreten bestimmter Stereotypieformen in verschiedenen Rassen und Zuchtlinien. Auch kann angenommen werden, dass eine erhöhte, genetisch bedingte Empfindlichkeit gegenüber bestimmten Stressoren besteht; ererbte Wesensmerkmale wie Reaktivität, Ängstlichkeit und Geräuschempfindlichkeit spielen eine Rolle (LUESCHER 1991 et al.). PRICE (1996) beobachtet bei in Tierheimen gehaltenen Border Collies häufig rhythmisches Bellen sowie lokomotorische Stereotypien wie Kreislaufen und Auf- und Abspringen; auch zwanghaft ausgeführte Verhaltensmuster aus dem Bereich des Hüteverhaltens wie das Jagen von Schatten oder das Schnappen nach Besen werden gezeigt.

REISNER (1991) sieht Automutilationen wie akrale Leckdermatitiden als häufigste Form der Stereotypie bei Hunden; diese aus dem Bereich der Körperpflege entstandenen Zwangshandlungen treten vor allem bei nervösen, aktiven und sensiblen Hunderassen auf.

Als auslösende Faktoren nennt sie Langeweile und Stress. Das Belecken des eigenen

Körpers ist eine häufig gezeigte Übersprungshandlung, die bei exzessiver Ausführung aber zu Fellverlust und lokalen Entzündungserscheinungen der Haut führen kann. Oftmals ist nicht auszuschließen, dass zunächst organische Ursachen wie Arthritiden, Fremdkörperirritationen oder Nervenleiden bestehen, in der Folge tritt jedoch eine erlernte Komponente hinzu.

Das so genannte Fliegenschnappen, bei dem der Hund zunächst ein imaginäres Objekt beobachtet, dann aufspringt und dieses fängt, tritt unabhängig von Alter und Geschlecht bei einer Vielzahl von Hunderassen auf (REISNER 1991). Verschiedene Ursachen, die dieses Verhalten auslösen können, werden diskutiert: so scheinen bei einigen Hunden Sehstörungen wie Glaskörperdegenerationen oder visuelle Halluzinationen eine Rolle zu spielen; die Tatsache, dass die Symptome bei manchen Individuen durch die Gabe von Antikonvulsiva verschwinden, deutet auf fokale epileptische Anfälle als Auslöser hin; auch scheint in einigen Fällen ein Zusammenhang mit einer Eiweißunverträglichkeit zu bestehen.

Häufig wird das Verhalten durch die Aufmerksamkeit des Besitzers verstärkt (LUESCHER et al. 1991; REISNER 1991).