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Der „Staatsstreich auf Raten“

2. Die innenpolitische Radikalisierung 1927–1934

2.5 Der „Staatsstreich auf Raten“

Als am 4. März 1933 alle drei Nationalratspräsidenten nach einer erregten Debatte im Parlament zurücktraten – es ging um eine Diskrepanz bei der Abstimmung in der Frage der Behandlung eines von den Eisenbahnern durchgeführten Proteststreiks111 – kam es zu einer einmaligen Krisensituation, die in der Geschäftsordnung des Parlaments nicht vorgesehen war. Der „vorsitzlose“ Nationalrat war plötzlich hand-lungsunfähig geworden. Die Ereignisse überschlugen sich: Am nächsten Tag, den 5. März, errangen die Nationalsozialisten rund fünf Wochen nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler die relative Mehrheit bei den Reichstagswahlen in Deutschland. Es war zu erwarten, dass die österreichischen Nationalsozialisten, die seit ihren bedeutenden Wahlgewinnen 1932/1933 vehement nach Neuwahlen riefen, starken Rückenwind bekommen würden. Dollfuß stand vor der Alternative, entweder den Nationalrat vorübergehend oder dauerhaft auszuschalten, um eine Veränderung der politischen Verhältnisse im Sinne seiner Regierung irgendwie her-beizuführen, oder sich und seiner Partei der Gefahr von Neuwahlen auszusetzen,

110 Sten. Prot. der 47. Sitzung des Nationalrates (1.10.1931). In: Sten. Prot. über die Sitzungen des Na-tionalrates (IV. Gesetzgebungsperiode) der Republik Österreich 1931 bis 1932 II. Bd. (Wien 1932) S. 1211.

111 Bei diesem Streik vom 1. März 1933 handelte es sich vordergründig um eine Protestmaßnahme der Eisenbahnergewerkschaft wegen der von der Regierung, offiziell aus Geldmangel, geplanten Teilauszahlungen der Eisenbahnergehälter. Heeresminister Vaugoin (CSP) bezifferte den dadurch entstandenen Schaden auf rund drei Millionen Schilling. Der Zentralsekretär der Eisenbahnerge-werkschaft, Berthold König (SDAPÖ), behauptete, die Regierung habe bewusst einen Anschlag auf die Eisenbahner vorbereitet, weil der Ausbruch des Streiks mit Waffengewalt hätte verhindert wer-den sollen. Leopold Kunschak (CSP), Gründer und Obmann der CS-Arbeiterbewegung, führte in seiner Rede vor dem Parlament aus, der Eisenbahnerstreik sei von der „Nationalen Gewerkschaft“, die längst eine Nazigewerkschaft geworden sei, angezettelt worden. Er vermutete, der Streik sei nicht aus wirtschaftlichen, sondern aus politischen Gründen erfolgt (Heeresminister Vaugoin über den Streik bei den Bundesbahnen; Nationalrat. 125. Sitzung v. 4. März. In: Wiener Zeitung (5.3.1933) S. 3–5; Nationalrat. Wiener Zeitung (7.3.1933) S. 1–2).

was höchstwahrscheinlich zu neuerlichen Stimmenverlusten und zu seinem Sturz geführt hätte. In seiner Villacher Rede anlässlich einer Tagung des christlichen Bau-ernbundes am Vormittag des 5. März kritisierte Dollfuß den Rücktritt des Ersten Nationalratspräsidenten Renner, der eine von der Regierung weder gesuchte noch gewünschte „kritische Situation“ für das Parlament geschaffen habe.112 Trotz seines öffentlichen Bekenntnisses, auf dem Boden des Parlamentarismus zu stehen, ent-schied sich Dollfuß, die Regierungsgeschäfte ohne Parlament fortzuführen und einen autoritären Kurs einzuschlagen. Neben innenpolitischen Überlegungen könnten auch außenpolitische Momente, wie die Verhandlungen zwischen Dollfuß und dem Ministerpräsidenten Ungarns, Gömbös, und dem Staatschef Italiens, Mussolini, zei-gen, eine wesentliche Rolle in den Plänen des ehrgeizigen Kanzlers gespielt haben.113 Dollfuß dürfte sich zunächst selbst nicht im Klaren gewesen sein, wie die zukünf-tige Regierungsform der Republik im Detail ausgestaltet werden sollte, tendierte aber eindeutig in Richtung einer „Verfassungsreform“ auf ständischer Grundlage. Wie schon am 9. März in der Klubsitzung der CSP festgelegt, kündigte der Kanzler auf dem christlichsozialen Bundesparteitag vom 6. Mai 1933 in Salzburg die Schaffung einer „berufsständischen Körperschaft“ an, die in die Verfassung „eingebaut“ werden

112 Bundeskanzler Dr. Dollfuß über den Eisenbahnerstreik und die parlamentarische Situation. In:

Wiener Zeitung (7.3.1933) S. 6–7.

113 Ludwig Jedlicka, Die Außenpolitik der Ersten Republik. In: Ludwig Jedlicka, Rudolf Neck (Hrsg.), Vom Justizpalast zum Heldenplatz. Studien und Dokumentationen 1927–1938 (Wien 1975), Kurzzitat: Jedlicka/Neck, Justizpalast, S. 108–109.

Abbildung 1: Nazipropaganda 1933.

soll.114 Die vagen Verhandlungsangebote des Kanzlers an die Sozialdemokratische Partei dienten offensichtlich zu deren Beschwichtigung, denn die maßgeblichen Männer in der CSP waren seit dem Beginn des Notverordnungskurses am 7. März entschlossen, ihre Machtposition auszubauen, um die Sozialdemokraten zu zwingen, eine Verfassungsreform zu akzeptieren.115 Aus der Sicht des Ministers für Heereswe-sen und Obmannes der CSP, Carl Vaugoin, sollte sowohl der Nationalsozialismus als auch der Sozialismus auf Grund ihrer verschleierten beziehungsweise offenen kirchenfeindlichen Ideologie bekämpft werden. Auch prangerte er die „landesver-räterische Haltung“ der Sozialdemokraten in der so genannten Hirtenberger Affäre an.116 Die Versuche des Kanzlers, mit dem Landesinspekteur der österreichischen NSDAP, Theo Habicht, über eine nationalsozialistische Teilhabe an einer anti-marxistischen Regierung zu verhandeln, scheiterten hauptsächlich auf Grund der Forderung der NDSAP nach Neuwahlen. Faktum ist, dass die verfassungsmäßigen Möglichkeiten, das Parlament zu reaktivieren, nicht zustande kamen und die vom Dritten Nationalratspräsidenten, dem Großdeutschen Sepp Straffner, am 15. März einberufene Sitzung des Nationalrates von der Regierung durch eine Polizeisperre ebenfalls verhindert wurde.117 In der Folge regierte Dollfuß durch Notverordnun-gen basierend auf dem Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetz (KWEG) vom 24. Juli 1917 und schränkte Schritt für Schritt die demokratischen Freiheiten und Grundrechte der Staatsbürger ein.118 Bevor sich das Verfassungsgericht mit der vom Wiener Stadtsenat eingebrachten Beschwerde gegen die Notverordnungen befassen konnte, wurde auch diese durch den „Rücktritt“ der regierungsnahen Verfassungs-richter funktionsunfähig gemacht.119 Obwohl die Stimmung am linken Flügel gärte, riefen die sozialdemokratischen Führer weder einen Generalstreik aus, noch kamen eventuell vorhandene Aufstandspläne zur Ausführung. Otto Bauer, der große The-oretiker der Sozialdemokratischen Partei, schreckte vor „dem ganz blutigen Ernst“

eines Waffengangs, wie er später schrieb, wegen der übermächtigen Nachbarstaaten

114 Kriechbaumer, „Dieses Österreich retten…“, S. 449; Leopold Kunschak, Österreich 1918–1934 (Wien 1934) S. 183–184.

115 Anton Staudinger, Christlichsoziale Partei und Errichtung des „Autoritären Ständestaates“ in Österreich. In: Jedlicka/Neck, Justizpalast, S. 73.

116 Kriechbaumer, „Dieses Österreich retten…“ S. 437; 441. Gemeint sind jene von den Sozialde-mokraten aufgedeckten illegalen Waffentransporte, die Anfang Jänner 1933 von Italien nach Un-garn über österreichisches Gebiet per Bahn geschleust wurden. In seiner Untersuchung [Dieter A Binder, Der Skandal zur „rechten“ Zeit. Die Hirtenberger Waffenaffäre 1933 an der Nahtstelle zwischen Innen- und Außenpolitik. In: Michael Gehler, Hubert Sickinger (Hrsg.), Politische Affären und Skandale in Österreich. Von Mayerling bis Waldheim (Thaur/Wien/München 1995) S. 278–292] kommt der Grazer Historiker Dieter A. Binder zu dem Schluss, die Sozialdemokra-ten hätSozialdemokra-ten die Veröffentlichung der Informationen instrumentalisiert, um die Demission Dollfuß’

durch außenpolitischen Druck zu erzwingen.

117 Werner Anzenberger, Martin Polaschek, Widerstand für eine Demokratie (Graz 2004), Kurz-zitat: Anzenberger/Polaschek, Widerstand, S. 116–119.

118 Goldinger/Binder, Österreich, S. 202–203.

119 Anton Staudinger, Christlichsoziale Partei und Errichtung des „Autoritären Ständestaates“ in Österreich. In: Jedlicka/Neck, Justizpalast, S. 71.

sowie vor einem Streik angesichts der hohen Arbeitslosigkeit zurück.120 Ende März wurde der bewaffnete Arm der Sozialdemokratie, der Republikanische Schutzbund, von der Regierung aufgelöst. Im Mai bildete Dollfuß seine Regierung im Sinne einer Verstärkung des autoritären Charakters um; wenige Tage später wurde die Vater-ländische Front, eine Sammelbewegung für „alle Parteiformationen, alle Verbände und Vereine, die dem Vaterland dienen wollen“, proklamiert.121 Es folgte das Verbot der KPÖ am 26. Mai und, nach einer Reihe von blutigen Sprengstoffanschlägen, der NSDAP und des mit ihr verbündeten Steirischen Heimatschutzes am 19. Juni 1933.

All diese Bewegungen wurden in die Illegalität verbannt, wo sie eine ziemlich rege Tätigkeit entfalteten. Die NSDAP erhielt personelle Verbindungen durch ein unsichtbares Netzwerk, aber auch durch deutschnationale Vereine aufrecht; der Schutzbund existierte unter einem anderen Namen im Untergrund weiter. In ihrem

„Zweifrontenkrieg“ hatte die Regierung Dollfuß zwar alles in ihrer Macht Stehende getan, die oppositionellen Bewegungen auszulöschen und illegale Aktivitäten durch drakonische Maßnahmen wie die Errichtung von Anhaltelagern und die Wiederein-führung der Todesstrafe im Standgerichtsverfahren im November 1933 im Keim zu ersticken, doch gelang es ihr letztendlich weder Terror und Gewalt einzudämmen noch deren Untergrundaktivitäten zu stoppen. Die von Otto Bauer im Herbst 1933 gemachten Zugeständnisse zugunsten eines unter bestimmten Voraussetzungen zu akzeptierenden Ständestaates kamen zu spät. Der Mann, der das Linzer Pro-gramm der Sozialdemokratie einst entworfen hatte, konnte sich letzten Endes nicht entschließen, jene radikalen Phrasen in die Tat umzusetzen. Dadurch brachte er die innerparteiliche Opposition gegen sich auf, die darauf drängte, endlich offensiv gegen die Regierung vorzugehen. Dieser Konflikt kam Dollfuß entgegen, der hoffte, die SDAP durch seine unnachgiebige Haltung „auszuhungern“ und deren Spaltung herbeizuführen.122