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Politische und wirtschaftliche Entwicklungen in der Zwischenkriegszeit bis 1934 49

In der folgenden kurzen Zusammenfassung werden jene politischen und wirtschaft-lichen Zusammenhänge aufgezeigt, die zur Destabilisierung Österreichs in der Zeit bis etwa 1934 maßgeblich beitrugen. In dieser Zeit beherrschte der Kampf zwischen den Wirtschaftssystemen Kapitalismus und Sozialismus beinahe jede parteipolitische Diskussion, ob das Thema nun Mieterschutz, Steuer- oder Sozialpolitik hieß. Stets ging es dabei um die Verteilung von Ressourcen.50 Nach dem Zusammenbruch der alten Ordnung verlief die Zusammenarbeit der Großparteien zwar nicht reibungslos, doch sorgte sie zunächst für eine Beruhigung der äußerst prekären innenpolitischen Situation in Österreich. Die Parteien selbst hatten widersprüchliche Vorstellungen von der Gestaltung des neuen Staates. Die Sozialdemokraten wollten einerseits die demokratische Republik als Garant der für die Arbeiterschaft erkämpften Errungen-schaften zwar mit allen Mitteln verteidigen, befürworteten andererseits vehement den Anschluss an die sozialistische Weimarer Republik.51 Dabei sahen sie sich vor das grundsätzliche Problem der Zusammenarbeit mit dem Klassengegner gestellt.

Viktor Adler, der große alte Gründer der Partei, machte dies schon in der ersten Sitzung der Provisorischen Nationalversammlung am 21. Oktober 1918 deutlich:

Wir wollen mit Ihnen, unserem Klassengegner, keine Parteigemeinschaft bilden, kein Bündnis, keinen Burgfrieden schließen, wir bleiben Gegner, wie wir immer Gegner waren. Wir kommen hierher, um auf dem Boden dieses Parlaments unseren Kampf für das Proletariat, für die Demokratie, für den Sozialismus zu führen.52

1995), Kurzzitat: Tálos/Dachs, P.S. Ö, S. 210: Am 15. Mai 1933 trat die Großdeutsche Partei einem Kampfbündnis mit der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei bei, was ihr formelles Ende bedeutete. Auch die Tage des Landbundes waren gezählt: Der letzte Landbundminister und Vizekanzler Winkler wurde im September 1933 aus der Regierung Dollfuß ausgeschieden. Am 18.

Mai 1934 löste sich der Landbund selbst auf. Siehe auch: Alexander Haas, Die vergessene Bauern-partei. Der Steirische Landbund und sein Einfluß auf die österreichische Politik 1918–1934 (Graz 2000).

49 Grundlegend zum Thema Politik und Wirtschaft: Roman Sandgruber, Ökonomie und Politik.

Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart (=Österreichische Ge-schichte, Wien 1995); Felix Butschek, Die österreichische Wirtschaft im 20. Jahrhundert (Wien 1985); Dieter Stiefel, Die grosse Krise in einem kleinen Land. Österreichische Finanz- und Wirt-schaftspolitik 1929–1938 (=Studien zu Politik und Verwaltung 26, Wien/Köln/Graz 1988); Karl Ausch, Als die Banken fielen. Zur Soziologie der politischen Korruption (Wien 1968).

50 Peter Rosner, Die ewige Krise. In: Politische Ökonomie und Wirtschaftspolitik im Austromarxis-mus (=Quellen und Studien zur österreichischen Geistesgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert 6, Wien 1987), Kurzzitat: Rosner, Die ewige Krise, 294f; Zum Thema „Sozialdemokratie als Partei des wirtschaftlichen Wachstums“ und zur Notwendigkeit der kapitalistischen Entwicklung vor der sozialen Umgestaltung, siehe im selben Band auch: Georg Fischer und Peter Rosner, Fortschritt und Aufbau 425–430.

51 Rolf Steininger, Stationen auf dem Weg zum „Anschluß“. In: Steininger/Gehler, Österreich im 20. Jahrhundert Bd.1, S. 102.

52 Berchtold, Parteiprogramme, S. 32: Für diese Einstellung schuf Otto Bauer die theoretischen Grundlagen: Ist keine Klasse mehr imstande, die andere niederzuwerfen und niederzuhalten, dann hört die Staatsgewalt auf, ein Herrschaftsinstrument einer Klasse zur Beherrschung einer ande-ren Klasse zu sein. In Bauers Vorstellung erscheint die Zusammenarbeit mit dem Klassengegner

Die Christlichsozialen hatten ein eher ambivalentes Verhältnis zum neuen Staat: In ihrem ersten Parteiprogramm bekannten sie sich zwar ausdrücklich zur Republik,53 gleichzeitig gab es Politiker in ihren Reihen, die in erster Linie für die Interessen ihrer Heimatländer, der nunmehrigen Bundesländer, und nicht für den Kleinstaat, vor allem nicht für das „verhasste“ Wien, eintreten wollten.54 Sie vertraten die Idee eines eigenständigen Bundesstaates, teils weil sie sich dem ehemaligen Herr-scherhaus verbunden fühlten, teils weil sie die Übermacht eines „roten“ Deutschlands und den Verlust der Vormachtstellung der römisch-katholischen Kirche befürch-teten. Unter Punkt VI. des Aktionsprogramms der Christlichsozialen Vereinigung von 1919 wurde jedoch festgelegt, dass „die Verhandlungen über den Zeitpunkt und die Vorbedingungen für die Verwirklichung des Anschlusses Deutschöster-reichs an Deutschland (…) ohne Verzug einzuleiten (sind)“.55 In seiner Rede vor dem 1. Parteitag der Christlichsozialen Partei charakterisierte Vizekanzler Jodok Fink die Regierungskoalition als ein notwendiges Übel, denn die Parteien können in einer solchen nicht ihre grundsätzliche Politik ausüben, sondern nur verwaschene Kompromisspolitik.56

Für die weitere politische Entwicklung in Österreich kann der Bruch der Regie-rungskoalition der Sozialdemokraten und Christlichsozialen im Juni 1920, die seit den Wahlen zur konstituierenden Nationalversammlung im Februar 1919 bestanden hatte, als entscheidender Wendepunkt auf Regierungsebene und im Verhältnis der Parteien zueinander gewertet werden. In der historischen Forschung ist es umstrit-ten, ob ab diesem Zeitpunkt das spätere Unheil in der politischen Entwicklung und im gesellschaftlichen Umfeld gleichsam „vorprogrammiert“ war, denn obwohl sich die zwei Großparteien in ideologischer Hinsicht frontal gegenüberstanden und die Sozialdemokraten fortan auf der Oppositionsbank blieben, konnten sie sich in eini-gen wichtieini-gen staatspolitischen Anlieeini-gen, wie der Genfer Sanierung 1922, der Ver-fassungsreform 1929 oder der Sanierungsgesetzgebung nach dem Zusammenbruch der Creditanstalt 1931 verständigen und Kompromisse schließen.57 Die Auflösung

lediglich als ein Provisorium, bis eine Klasse die Herrschaft über die andere erkämpft hat. In seiner Eigenschaft als „Linker“ forderte er seine Partei jedoch zur Besonnenheit auf, mahnte die Massen, Disziplin und Ordnung zu bewahren. Der Parteitag der SDAP fand am 31.10. und 1.11.1918 in Wien statt (Karl R. Stadler, Die Gründung der Republik. In: Weinzierl/Skalnik, Erste Repu-blik Bd.1, S. 70.).

53 Berchtold, Parteiprogramme, S. 356.

54 Walter Goldinger, Dieter A.Binder, Geschichte der Republik Österreich 1918–1938 (Wien 1992), Kurzzitat: Goldinger/Binder, Österreich, S. 77.

55 Berchtold, Parteiprogramme, S. 361.

56 Robert Kriechbaumer (Hrsg.), „Dieses Österreich retten…“ Die Protokolle der Parteitage der christlichsozialen Partei in der Ersten Republik (=Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für poli-tisch-historische Studien der Dr.- Wilfried-Haslauer-Bibliothek, Salzburg 17, Wien/Köln/Weimar 2006), Kurzzitat: Kriechbaumer, „Dieses Österreich retten…“, S. 86–87.

57 Jacques Hannak, Im Sturm eines Jahrhunderts. Volkstümliche Geschichte der Sozialistischen Partei Österreichs (Wien 1952) S. 115; zitiert bei Berchtold, Parteiprogramme, S33: Hannak sieht die Zusammensetzung der ersten Koalitionsregierungen folgendermaßen: War also die erste Koali-tion eine Regierung Renner-Fink, eine KooperaKoali-tion der städtischen Arbeiter und der demokratischen Bauern gewesen, so war die zweite Koalitionsregierung eine Regierung Renner-Seipel, ein Antagonis-mus zwischen Proletariat und dem sich allmählich bahnschaffenden Bürgerblock.

der Koalition führte zu einer Spaltung der Sozialdemokraten in Anhänger und Geg-ner des Koalitionskurses. Das war die Ursache jeGeg-ner schweren inGeg-nerparteilichen Auseinandersetzungen, die nach dem Justizpalastbrand im Juli 1927 und besonders ab März 1933 lähmend wirkten, als es galt, die Parteianhänger und den Schutz-bund gegen die Demontage der demokratischen Einrichtungen durch die Regierung Dollfuß zu mobilisieren.58 Nach dem Bruch mit den Sozialdemokraten bildete die Christlichsoziale Partei Regierungsmehrheiten mit Hilfe der anderen bürgerlichen Parteien, lange Zeit mit den Großdeutschen, später mit dem Landbund. Als diese Mehrheit brüchig zu werden begann und das Angebot seitens der Christlichsozialen zur Zusammenarbeit von den Sozialdemokraten zurückgewiesen wurde, wandten sie sich an jene politischen Kräfte, die durch ihre antidemokratischen und staatsfeind-lichen Tendenzen den weiteren Verlauf der Innenpolitik gravierend beeinflussten.59 Ein erster Blick auf die politische und wirtschaftliche Situation Österreichs nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zeigt, dass zwei wesentliche Faktoren für seine wei-tere Entwicklung bestimmend waren. Erstens war das Land durch den materiellen und menschlichen Verschleiß des Krieges schwer geschädigt worden und befand sich, zumal in den südlichen Grenzregionen, in einem Zustand extremer Unsicherheit, der nicht einmal durch die definitive Festsetzung der staatlichen Grenzen im Friedens-vertrag von St. Germain beseitigt werden konnte. Wie prekär die Lage an Österreichs Grenzen nach der Ratifizierung des Vertrages am 17. Oktober 1919 noch immer war, illustrieren die Vorkommnisse in Kärnten sowie die Abtretung des Burgenlandes an Österreich, die auf den erbitterten Widerstand Ungarns stieß und erst mit großer Verspätung im November 1921 erfolgte. Im Jahr 1919 wurde die Krisenstimmung im Land durch zwei kommunistische Putschversuche in Wien sowie schwere Aus-schreitungen in Graz, die blutig niedergeschlagen wurden, zusätzlich angefacht.60 Das Nachkriegselend in den Ballungszentren – Hunger, Kälte, Krankheiten wie Tuber-kulose und Grippe, die erhöhte Säuglingssterblichkeit – wurde durch den Zuzug Zehntausender Flüchtlinge weiter verschärft. Zweitens hatte der Zusammenbruch der Doppelmonarchie zur Abtrennung Österreichs von seinem einstigen wirtschaftlichen Großraum geführt. Ohne auf die kontroverse Frage der wirtschaftlichen Lebensfähig-keit des Staates detailliert einzugehen, soll an dieser Stelle lediglich auf die Wirkung dieses Bruches hingewiesen werden, die viele Politiker und Wirtschaftsexperten zu meist pessimistischen Zukunftsprognosen, wenn auch aus taktischen Gründen den Siegermächten gegenüber, veranlassten. In einer neueren empirischen Studie wurde die konkrete marktwirtschaftliche Situation Österreichs in der Zwischenkriegszeit anhand einer Reihe namhafter Industrieunternehmen untersucht. Datenmaterial und

58 Berchtold, Parteiprogramme, S. 33–36. Maßgeblich: Anson Rabinbach, Vom Roten Wien zum Bürgerkrieg (=Sozialistische Bibliothek Abt. 1: Die Geschichte der österreichischen Sozialdemo-kratie 2, Wien 1989).

59 Grundsätzliches zum Thema Parlamentarismus bei: Dieter A. Binder, Parlamentarismus zwi-schen Lagerpatriotismus und Lösungskompetenz. Österreich 1920–1933. In: Ernst Bruckmüller (Hrsg.), Parlamentarismus in Österreich (=Schriften des Instituts für Österreichkunde 64, Wien 2001) 130–144.

60 Goldinger/Binder, Österreich, S. 31–37.

Geschäftsunterlagen zeigen überraschende Ergebnisse. Demnach sollen einige Teile der österreichischen Industrie die veränderte Lage nach dem Zusammenbruch des vormaligen Staates relativ bald verkraftet beziehungsweise „umgangen“ haben.61

Doch schon bald sollte sich der Artikel 197 des St. Germainer Vertrages, der bestimmte, dass Österreich mit seinem gesamten Besitz und allen Einnahmequellen für die Bezahlung der Reparationskosten an die Alliierten haften sollte, als größ-ter formaler Hemmschuh für die alliierte Kreditgewährung an Ösgröß-terreich entpup-pen.62 In der Zeit zwischen Dezember 1919 und September 1922 stieg der Index der Lebenshaltungskosten auf das 450-fache an. Damit begann die Periode der rasanten Inflation in Österreich, in der viele Menschen ihre gesamten Ersparnisse verloren, während einige Großspekulanten unerhört reich wurden. In demselben Zeitraum profitierte auch die Wirtschaft von den inflationären Verzerrungen und es herrschte bis 1922 praktisch Vollbeschäftigung. Die von Bundeskanzler Seipel angestrebte und am 4. Oktober 1922 vom Völkerbund übernommene Garantie63 für eine Anleihe in der Höhe von 650 Millionen Goldkronen konnte den drohenden Staatsbank-rott zwar vorerst verhindern, doch musste sich Österreich verpflichten, die Aktiva aus seinen Staatsdomänen, wie der Forstwirtschaft, den Zöllen und dem Salz- und Tabakmonopol im Rahmen eines vom Völkerbund verordneten Finanzplanes zu verpfänden.64 Mit der am 20. Dezember 1924 beschlossenen Einführung des Schil-lings, der im Verhältnis 1 zu 10.000 Kronen eingetauscht wurde, ging die Periode der Hyperinflation offiziell zu Ende.65

Die Politik der Währungsstabilisierung hatte jedoch eine Reihe schwerwiegender Pro bleme zur Folge: Die nächsten zehn Jahre waren von wirtschaftlicher Instabili-tät und handfesten Krisen gekennzeichnet. Der Schuldenstand der österreichischen Landwirtschaft, der bis 1922 weitgehend von der Inflation „getilgt“ worden war, stieg erneut an und erreichte Ende der 1920er Jahre die beachtliche Höhe von 900 Millionen Schilling. Eine neue Anleihe, das so genannte Protokoll von Lausanne, wurde zur

61 Jens-Wilhelm Wessels, Economic Policy and Microeconomic Performance in Inter-War Euro-pe. The Case of Austria, 1918–1938 (=Beiträge zur Unternehmensgeschichte 25, Stuttgart 2007), Kurzzitat: Wessels, Economic Policy, S. 24–32; es wurden u.a. die Konzerne ÖAMG, Schoeller-Bleckmann, Hutter & Schranz, Leykam-Josefsthaler, Elin, Siemens, AEG, Steyr-Daimler-Puch und Semperit für die Studie herangezogen. Siehe auch: Herbert Matis, Von der frühen Industria-lisierung zum Computerzeitalter. Wirtschaftshistorische Wegmarkierungen (Wien/Köln/Weimar 2006) S. 102: Das Pro-Kopf-Einkommen Österreichs im Vergleich zu seinen Nachbarn (in Kro-nen): Österreich = 694; Tschechoslowakei = 593; Ungarn = 450.

62 Ladner, Staatskrise, S. 12–15. Der Vertrag von St. Germain-en-Laye trat am 16. Juli 1920 in Kraft.

Der Wortlaut des Vertrages: http://www.versailler-vertrag.de/svsg/svsg-i.htm, 14.10.2009.

63 Die drei Genfer Protokolle wurden schließlich mit den Stimmen der Christlichsozialen und den Großdeutschen (103 gegen 68 Stimmen) am 24. November 1922 genehmigt; drei Tage später wur-de das Wiewur-deraufbaugesetz im Nationalrat beschlossen, das zahlreiche rigorose Sparmaßnahmen, wie den Abbau eines Drittels der Beamtenschaft und die Einführung einer Warenumsatzsteuer, vorsah: Nationalrat.124.Sitzung v. 24. November. In: Wiener Zeitung (25.11.1922) S. 3–4; Natio-nalrat.150.Sitzung v. 25. November. In: Wiener Zeitung (27.11.1922) S. 1–5.

64 Ladner, Staatskrise, S. 135f.; 140–142; Siehe dazu auch: Rosner, Die ewige Krise, 288–290.

65 Roman Sandgruber, Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittel-alter bis zur Gegenwart (=Österreichische Geschichte, Wien 1995), Kurzzitat: Sandgruber, Öko-nomie und Politik, S. 354–362.

Deckung der Schulden beantragt und im Juli 1932 von Bundeskanzler Dollfuß unter-zeichnet. Da die Anleihe erneut mit einem Anschlussverbot gekoppelt war, kündigten die Großdeutschen die Regierungsarbeit mit den Christlichsozialen auf. Dollfuß, der seit seinem Amtsantritt im Mai 1932 nur mit der hauchdünnen Mehrheit von einer Stimme im Parlament rechnen konnte, suchte daher zunehmend nach autoritären Alternativen, um seine schwankende Regierungsmacht zu erhalten und die von der Opposition verlangten Neuwahlen zu verhindern. Die Landtags- und Gemeindewahlen im April 1932 hatten deutlich gezeigt, dass die NSDAP auf ihrem Weg von einer Klein-partei zu einer mächtigen Bewegung die politische Gewichtung in Österreich gehörig verschoben hatte.66 Die Schulden wuchsen bis 1933 auf rund 1,2 Milliarden Schilling (13,5 Prozent des Sozialproduktes) weiter an. Zur Schuldenlast kamen der Preisverfall, die Absatzkrise und die vorgeschriebenen Beiträge zur Landwirtschaftskrankenkasse.

Exekutionen und Zwangsversteigerung standen bald auf der Tagesordnung.67 Viele kleinere Bauern verarmten, manche verloren ihr gesamtes Hab und Gut. Auch für die Industrie war die Zeit zwischen 1923 und 1929 zu kurz, um bestehende Strukturmän-gel nachhaltig auszugleichen; die Eisen- und Stahlproduktion sank von 1928 bis 1933 auf ein Siebentel. Das Heer der Arbeitslosen wuchs stetig an und erreichte 1933 einen Spitzenwert von beinahe 600.000 (= 27,2 Prozent der Erwerbstätigen), die Dunkelziffer derjenigen, die keinen Anspruch auf Unterstützung hatten, sowie die Ausgesteuerten nicht mitgezählt.68 Immerhin kam es von Seiten der Sozialdemokratie zu interessanten Denkmodellen: Mit dem Dokument „Arbeit für 200.000“ wurde im Sommer 1933 ein Arbeitsbeschaffungsprogramm vorgestellt, das zusätzliche Arbeitsplätze durch eine Arbeitszeitverkürzung von 48 auf 40 Stunden schaffen und mit Mitteln aus der Lausanner Anleihe finanziert werden sollte.69 Die von der Regierung ab 1934 initiierten Arbeitsbeschaffungsprogramme verursachten zwar erkleckliche Budgetdefizite, dafür fanden bis zu 10 Prozent der Arbeitslosen eine wenigstens vorübergehende Beschäfti-gung.70 Diese scheinbare Hinwendung zu arbeitspolitischen Maßnahmen diente aber in erster Linie dazu, der nationalsozialistischen Propaganda, die in schärfster Weise

„das System“ bekämpfte, den Wind aus den Segeln zu nehmen. Angesichts des expan-siven Wirtschaftskurses in Hitler-Deutschland gilt die Unfähigkeit des autoritären Regimes mit den Konjunktur- und Beschäftigungsproblemen fertigzuwerden als eine der wesentlichen Ursachen für dessen relativ geringe Popularität in Österreich.71

66 Goldinger/Binder, Österreich, S. 195–198.

67 Sandgruber, Ökonomie und Politik, S. 367–370. Laut Butschek habe die Landwirtschaft ihre Wertschöpfung bis 1929 gegenüber 1913 sogar um 10 Prozent steigern können, dabei soll es al-lerdings durch Überschüsse auf dem Weltmarkt zu einem Preisverfall gekommen sein. Um den inländischen Agrarmarkt vor der Krise zu schützen, verfolgten die Regierungen fortan einen so genannten „Agrarkurs“, eine Politik der Schutzzölle und Subventionierung der heimischen Bauern [Felix Butschek, Die österreichische Wirtschaft im 20. Jahrhundert (Wien 1985) S. 52–53].

68 Goldinger/Binder, Österreich, S. 129ff; Butschek, Arbeiterkammer S. 41.

69 Sandgruber, Ökonomie und Politik, S. 388–393; Rosner, Die ewige Krise, 292, 364–372.

70 Felix Butschek, Die österreichische Wirtschaft im 20. Jahrhundert (Wien 1985), Kurzzitat: But-schek, Wirtschaft, S. 56.

71 Fritz Weber, Staatliche Wirtschaftspolitik in der Zwischenkriegszeit. Zum Investitionsverhalten der öffentlichen Hand 1918–1938. In: Tálos/Dachs, P.S. Ö S. 548–549.

Rückblickend kann festgestellt werden, dass die gesamte österreichische Wirt-schaftspolitik durch die Bestimmungen des Völkerbundes in den so genannten Genfer Protokollen auf Jahre hinaus in relativ restriktive finanzpolitische Bahnen gelenkt wurde, die wenig Freiraum für Investitionsprogramme erlaubten und einen rigorosen Sparkurs zugunsten der Währungsstabilität zur Folge hatten. Nur ein verschwindend geringer Teil des Budgets wurde für arbeitspolitische Maßnahmen eingeplant.72 Die Sozialdemokraten befürchteten einen Abbau der Sozialgesetzge-bung durch die bürgerlichen Regierungen, was zu einer Verschärfung des politi-schen Klimas führte. Eine Reihe von Bankeninsolvenzen und Zusammenlegungen ab 1924, die im Zusammenbruch der Creditanstalt im Mai 1931 gipfelte, tat das Ihrige dazu. Der Untergang der Creditanstalt, die rund 42 Prozent des Aktienkapi-tals aller österreichischen Industrieunternehmungen verwaltete, riss nicht nur die österreichische Wirtschaft sondern auch die sorgsam kultivierte Währungsstabi-lität in die Tiefe.73 Als infolge der Wirtschaftskrise Industriegemeinden, wie Steyr, Donawitz und Bruck an der Mur, in finanzielle Schwierigkeiten gerieten, traf es die Armen, die auf Unterstützungen der Gemeinde angewiesen waren, am meisten.74 Neue Geldquellen, wie die Trefferanleihe 1933, mussten erschlossen werden, um die leeren Staatskassen zu füllen.75

1.6.1 Steiermark

Nach der Bewältigung der unmittelbaren Kriegsfolgen kam es im Zuge der Infla-tion zur Übernahme einer Reihe prominenter steirischer Industrieunternehmen wie der ÖAMG, der Puchwerke, Leykam-Josefsthaler und der Veitscher Magnesitwerke durch ausländische Käufer, die sich nun verstärkt auf dem Weltmarkt zu behaupten versuchten. Die vor dem finanziellen Ruin stehende Fürstenfelder Tabakregie war im Rahmen der Genfer Sanierung gepfändet worden und hunderte Mitarbeiter waren entlassen worden. Nach der Inflationsperiode führten längst notwendige Aufbauar-beiten, die zum Teil aus Mitteln der Genfer Anleihe, zum Teil aus einer Dollaranleihe vom Jahr 1926 finanziert wurden, vor allem im Bereich der Wasserkraft, der Infra-struktur und des Tourismus, zu einer starken Belebung der steirischen Wirtschaft.

72 Butschek, Wirtschaft, S. 217.

73 Karl Ausch, Als die Banken fielen. Zur Soziologie der politischen Korruption (Wien 1968), Kurz-zitat: Ausch, Banken, S. 322f.

74 Donawitz musste auf Grund stark sinkender Steuereinnahmen und des rasant steigenden Bedarfes an Mittel für die Armenfürsorge im Jahr 1934 Konkurs anmelden. Die Gemeindekasse wies bis Mai 1933 einen Gesamtschuldenstand von rund S 86.000 auf. In einem Schreiben an die Steier-märkische Landesregierung Anfang 1934 richtete die Bezirksvertretung Leoben einen dringenden Appell an die Bundesregierung, eine sofortige Umschuldungsaktion der Gemeinden „als Keimzel-len des Staates“ einzuleiten. Siehe: StLA BV Leoben K:97; Konkurs über Donawitz. Der Leidens-weg einer Industriegemeinde. In: Österreichische Gemeinde-Zeitung. Offizielle Zeitschrift des

„Deutschösterreichischen Städtebundes (1.6.1933), Kurzzitat: ÖGZ, S. 2–4; Der erfolglose Kampf der Gemeindeverwaltung von Steyr. In: Ebda (15.11.1932) S. 12–14.

75 Dieter Stiefel, Die grosse Krise in einem kleinen Land. Österreichische Finanz- und Wirtschafts-politik 1929–1938 (=Studien zu Politik und Verwaltung 26, Wien/Köln/Graz 1988) S. 104–119.

Mit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise ging es jedoch erneut steil bergab. Nicht nur, dass die privaten Sparer und Investoren um ihre Einlagen bangten, auch das Land Steiermark stand trotz aller Einsparungsmaßnahmen in der Verwaltung und der Streichung öffentlicher Investitionen 1932 vor der Zahlungsunfähigkeit. Tau-sende Arbeitslose und Ausgesteuerte [Menschen, die keine Versicherungsleistungen mehr erhielten, Anm.], aber auch Bauern und Landarbeiter gingen auf die Straße, um auf ihre Notlage aufmerksam zu machen. Hitlers Tausend-Mark-Sperre schädigte den steirischen Fremdenverkehr zusätzlich schwer. Die Hilfsmaßnahmen des Landes, wie die Winterhilfe, waren kaum geeignet, die Not wirksam zu beseitigen. Der Rückgang in allen Wirtschaftssparten, die Verschuldung der Landwirtschaft und die Mas-senarbeitslosigkeit brachten Elend und Hoffnungslosigkeit in viele Familien.76 Vor dieser trostlosen Kulisse versprachen die Nationalsozialisten mit ihren plakativen Forderungen nach Freiheit, Arbeit und Brot eine „bessere“ Zukunft. Sie führten den Menschen, insbesondere der Jugend, das Ideal einer alle deutschen Volksgenossen umfassenden und verbindenden „Volksgemeinschaft“ unentwegt vor Augen, ein Ziel, für das es zu kämpfen galt, oder unterzugehen.77

„Tango Korrupti“: Die Steirerbank-Affäre

Der steirische Landeshauptmann Anton Rintelen, Präsident der Steirerbank seit ihrer Gründung 1920, geriet 1926 ebenfalls in die Schlagzeilen, als die Centralbank der deutschen Sparkassen zusammenkrachte. Die Steirerbank war eine jener maro-den Institute, die von der Centralbank „geschluckt“ wurmaro-den, um deren Finanzmi-sere zu vertuschen. Rintelen wurde vorgeworfen, seine persönliche Machtstellung im Zusammenhang mit dubiosen Finanztransaktionen sowie mit dem Handel mit Steweag78-Aktien missbraucht zu haben; die von der Opposition geforderte parla-mentarische Untersuchungskommission konnte ihm jedoch keine persönliche Schuld nachweisen. Die sozialdemokratische Zeitung „Arbeiterwille“ vom 22. September 1926 charakterisierte Rintelen als „der gute Onkel der Partei“, der die „Geschäfte“

besorgt hatte, „an den sich jeder wendete, der in Bedrängnis geraten war“.79 Lan-deshauptmann Rintelen, der als enorm ehrgeizig, clever und undurchschaubar galt, erwarb sich große Verdienste um das Rundfunkwesen und um die

besorgt hatte, „an den sich jeder wendete, der in Bedrängnis geraten war“.79 Lan-deshauptmann Rintelen, der als enorm ehrgeizig, clever und undurchschaubar galt, erwarb sich große Verdienste um das Rundfunkwesen und um die