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obersteirischen Industrieregion

5.1 Die Eskalation der Gewalt im Kampf um die Straße:

5.1.5 Gezogene Schwerter

5.1.5.1 Der gewaltsame Ausgang einer nationalsozialistischen Versammlung

Von einem Beispiel des brutalen Kampfes zwischen Sozialdemokraten und Nati-onalsozialisten in Leoben berichtet eine bürgerliche Lokalzeitung im April 1928.

Demnach soll eine Gruppe Sozialdemokraten, darunter der örtliche Parteisekretär Plaimauer, eine behördlich gemeldete Versammlung der nationalsozialistischen Ortsgruppe Leoben gestürmt und bei der anschließenden Schlägerei etliche „Hit-lerleute“ zusammengeschlagen haben. Schon zu Beginn der Veranstaltung sollen die dort bereits anwesenden Sozialdemokraten den Vorsitz an sich gerissen und den Ortsobmann der NSDAP Leo Pach-Haussenheimb am Sprechen gehindert haben.

Als wenig später weitere „Marxisten“ die Ordnerkette der Nationalsozialisten durch-brachen und in den Saal drangen, entstand ein Tumult, in dessen Verlauf die unfrei-willigen „Gastgeber“ mit Schlagringen, Eisenruten und Ochsenziemern attackiert wurden. Die blutige Bilanz: Mindestens 20 schwer- und leicht verletzte National-sozialisten, darunter Josef Laß senior, Vater des später von einem Jungsozialisten erschossenen jungen Hitler-Anhängers, der sogar einen Stich in die Schädeldecke erhielt.621 Ob die örtlichen Sozialdemokraten diese Gewalttat aus purem Hass auf den lästigen Konkurrenten oder aus Rache für ein ihrerseits erlittenes Unrecht verübten, geht aus dem Bericht nicht hervor. Möglicherweise entsprach der Bericht auch nicht den Tatsachen. Die Quellen vermitteln den Eindruck einer in sich gespaltenen, an einer Zeitenwende stehenden janusköpfigen Gesellschaft, die sich gewissermaßen auf Kriegskurs befand. In einer Zeit, in der sich relevante gesellschaftspolitische Milieus als Feinde wahrnahmen und das Suchen nach einer Verständigung nicht als Zeichen der Vernunft, sondern als Schwäche interpretiert wurde, folgte auf jede als Unrecht empfundene Tat zwangsläufig die Vergeltung. So konnte die Spirale der Gewalt nicht nur nicht unterbunden werden, sondern sie drehte sich mit einer ihr innewohnenden Dynamik immer weiter. Den Sozialdemokraten ging es aktuell darum, den von ihr streitig gemachten Boden in den Betrieben der ÖAMG und auf der Straße wiederzugewinnen. Als „Arbeiterpartei“ stellten die Nationalsozialisten zwar einen politischen Rivalen dar, doch noch konnten sie sich nicht mit der rasch wachsenden Popularität der „volkstümlichen“ Heimwehrbewegung messen.

5.1.5.2 Ein Sommerfest endet mit einer Schießerei

Im Juli 1928 kam es bei einem Sommerfest des Reichsverbandes der ehemaligen Kriegs-gefangenen in Au bei Kapfenberg zu einer Auseinandersetzung zwischen drei jungen

„Heimatschützlern“ und einigen sozialdemokratischen Besuchern, die beinahe tragisch geendet hätte. Einer der in die Flucht geschlagenen „Hahnenschwänzler“, der 22-jährige

621 Sozialdemokraten sprengen eine National-Sozialisten Versammlung. In: Leobener Zeitung (17.4.1928) S. 1.

Hilfsarbeiter Johann Roßmann, feuerte in die Menge und verletzte zwei Frauen schwer.

Das Unglück nahm seinen Lauf als Roßmann mit seinen Begleitern das Festgelände betrat, ohne seinen Hut – oberstes Symbol der politischen Gesinnung – abzunehmen.

Diese aufreizende Geste wurde von einigen politischen Gegnern zum Anlass genom-men, insbesondere Roßmann zu bedrohen und vom Festplatz zu verjagen. Der Gen-darmerie gab Roßmann später zu Protokoll, er habe in Panik von seiner Schusswaffe Gebrauch gemacht, als der Ziegelarbeiter F., der ihm schon zuvor den Hut vom Kopf heruntergeschlagen hatte, ihn auf der Flucht in die Enge getrieben und mit einem Stock traktieren wollte. Roßmanns zwei Kumpanen konnten aus dem entstandenen Gedränge entkommen. Der Schütze, der sich bis 22 Uhr in einer Holzlage versteckt hielt und anschließend selbst stellte, wurde verhaftet und in das Bezirksgericht Bruck an der Mur eingeliefert. In einer Protestversammlung beschloss die Kapfenberger Arbeiter-schaft, bei Ableben einer der Frauen in den Ausstand zu treten. Ihrer Forderung den für Ende Juli in Kapfenberg geplanten Heimatschutzaufmarsch zu untersagen, wurde umgehend von der Bezirkshauptmannschaft Bruck entsprochen. Das Verbot sei wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit erfolgt, hieß es in der amtlichen Begründung.622

In einer Gegendarstellung wies der Heimatschutzverband die Behauptung des

„Arbeiterwillen“, die Veranstaltung sei „sozialdemokratisch“ gewesen, als unzu-treffend zurück. Vielmehr habe sich der Verein als „unpolitisch“ deklariert und die gesamte Bevölkerung Kapfenbergs per Maueranschlag zum Fest geladen. Die drei jungen Heimatschützler hätten sich entsprechend erkundigt und den Eintritt zum Fest ordnungsgemäß gezahlt. Roßmann sei kein „Arbeitermörder“, sondern er habe als Opfer einer regelrechten „Menschenjagd“ in äußerster Notwehr gehandelt, nachdem er von einer Übermacht beschimpft, tätlich angegriffen und mit Steinen beworfen worden war:

Wir beklagen es, daß in Ausübung der Notwehr unbeteiligte Frauen verletzt wurden, aber wir betonen auch, daß die moralische Verantwortung für den unglücklichen Ausgang des Vorfalles jene marxistischen Hetzer trifft, welche ein Interesse daran haben, die Bevölkerung Kapfenbergs in ständiger Unruhe zu halten (…). Die Jagd auf unsere Mitarbeiter reiht sich würdig den vielen Gewalt-taten an, die von den Roten in Kapfenberg und anderwärts verübt wurden.623 Zweifellos bezog sich die Landesleitung auf einen Vorfall, der sich am Sonntag davor ereignet hatte, als drei Heimatschützler aus Kapfenberg von einer nicht näher bezeichneten „Meute“ in Peggau scheinbar grundlos überfallen und mit Zaunlatten, Stöcken und „Knickern“ blutig geschlagen wurden. Mit dem Schlachtruf „Arbeiter-mörder, schlagt sie tot!“ soll die Meute auf ihre politischen Gegner losgezogen sein;

erst ein Bajonettangriff der Gendarmerie konnte das wüste Treiben, bei dem auch ein Wachebeamter verletzt wurde, stoppen.624

622 StLA ZGS (BKA) K.74/1 (Fol.132–133; 141–142).

623 Stellungnahme des Heimatschutzverbandes zum Vorfall in Kapfenberg. In: Obersteirerblatt (28.7.1928) S. 4.

624 Überfälle auf Kapfenberger Heimatschützer. In: Obersteirerblatt (25.7.1928) S. 7.

5.1.5.3 Wegen „politischer Differenzen“ wird ein Arbeiter krankenhausreif geprügelt Gegen Ende August 1928 ereignete sich der nächste schwere Zusammenstoß im Gasthaus Patschnig in Hinterberg bei Leoben – und wieder war ein Heimatschutz-Hut im Spiel. Laut Behördenbericht gerieten die Brüder Moser, beide Arbeiter und Angehörige des Heimatschutzes, wegen „politischer Meinungsverschiedenheiten“

mit mehreren sozialdemokratisch gesinnten Arbeitern in einen Streit. Als einem dort anwesenden Heimatschützer auch noch der Hut zu Boden geworfen wurde, eskalierte der Konflikt, so dass es zu einem Handgemenge kam, das vorerst glimpflich endete. Die Männer verließen das Gasthaus und setzten den Streit im Hof fort. Dabei wurde der sozialdemokratische Arbeiter Paul Katzl von den Brüdern Moser sowie von einem dritten Heimatschützler brutal überfallen und mit Holzscheiten derart schwer verletzt, dass er mit der Rettung ins Krankenhaus nach Leoben gebracht werden musste. Die Täter kümmerten sich jedoch nicht um den Verletzten, sondern traten ihren Schichtdienst in der nahen Papierfabrik in Hinterberg an, wo sie wenig später von Wachebeamten ausgeforscht und festgenommen wurden. Inzwischen hatte sich eine aufgebrachte Menge vor den Toren der Fabrik angesammelt, so dass die Gendarmeriebeamten die beiden Brüder in Schutzhaft nehmen mussten, um sie vor drohender Lynchjustiz zu bewahren. Beinahe wäre es zu einem weiteren Unglück gekommen, als die empörten Arbeiter sich daran machten, an dem dritten Täter, Karl H., der sich im so genannten Burschenhaus versteckt hielt, Rache zu üben. Schließlich gelang es der Exekutive, den Mann zu stellen und in Sicherheit zu bringen. Damit war die Krise aber noch nicht zu Ende. Die Gewalttat der drei Heimatschützler provozierte weitere Protestmaßnahmen der Hinterberger Arbeiter und ihrer Frauen. Als der Betriebsleiter die von der Belegschaft geforderte Entlas-sung der Verhafteten am nächsten Morgen verweigerte, wurde die Fabrik gestürmt und eine sofortige Betriebseinstellung verlangt, was auch geschah. Erst am späten Abend, als sich die Wogen einigermaßen geglättet hatten, nahmen die Arbeiter den Schichtbetrieb im Einvernehmen mit der Direktion wieder auf.625

5.1.5.4 Eine Friedensbotschaft in Kapfenberg

Etwa vierzehn Tage vor dem von der Regierung Seipel forcierten Auftritt der Heim-wehren in Wiener Neustadt am 7. Oktober 1928 traf der Bundeskanzler persönlich in einer sozialdemokratischen Bastion des obersteirischen Industriegebietes ein. In der Böhlerstadt Kapfenberg feierte die dortige Ortsgruppe des Reichsbundes der katholi-schen Jugend ihre Fahnenweihe im Rahmen eines großangelegten Jugendtreffens, zu welcher außer dem Regierungschef auch Spitzen der Wirtschaft und Politik geladen waren. Nachdem Seipel höchstpersönlich die Weihe der Fahne vorgenommen hatte, sprach er zu den in den Räumen des Werkshotels versammelten Festgästen folgende denkwürdigen Worte:

625 StLA ZGS (BKA) K.74/1 (Fol. 107–109).

Diese Fahne ist keine Kriegsfahne, sondern eine Friedensfahne;(…); sie ist kein Trennungszeichen, sondern eine Mahnung zur Sammlung in wohlgeordneter Einheit. (…) Freilich ist es uns Menschen, solange wir hier auf Erden pilgern, nicht gegönnt, ohne jeden Kampf zu leben. (…) Ein jeder muss das, was ihm wert und heilig ist, gegen andere verteidigen, wenn diese unduldsam sind und ihn angreifen. (…) Aber nicht ein Krieg soll unter den Menschen geführt werden, der anstelle von Liebe den Haß treten ließe, sondern wir führen unseren Kampf (…) für das einzutreten, was wir zu verteidigen die Pflicht haben. (…) Die eben geweihte Fahne ist keine Kriegsfahne, aufgerichtet um andere zu reizen oder zu demütigen (…).

Das Gebet, das er eben gesprochen habe, verkündete Seipel, sollte eines um den Schutz Gottes für alle jene sein, die der Fahne folgten. Aber auch für die Feinde. Ja, hoffte er, gerade ihnen möge die Gnade Gottes nie vorenthalten werden. Seipels Friedens-botschaft mag man mit gemischten Gefühlen betrachten. Wollte er dem politischen Gegner inmitten des politischen Kampfgetümmels wirklich die Hand reichen? Aus sozialdemokratischer und kommunistischer Sicht war der „Prälat ohne Milde“ spä-testens seit seiner Verweigerung, Gnade bei den Sanktionen gegen die Anführer des 15. Juli 1927 walten zu lassen, personifizierter Feind der Arbeiterklasse.626 Bedenkt man, dass der Bundeskanzler eine Strategie der Eroberung sozialdemokratischer Lebensbereiche mit Hilfe der Heimwehren verfolgte – gerade in Kapfenberg wollte er ein starkes Zeichen setzen – muss seine Botschaft wie Hohn in den Ohren des einfachen sozialdemokratischen Arbeiters geklungen haben. Für viele Katholiken hingegen war er Garant des Glaubens und der Stabilität, ein Bollwerk gegen die atheis-tische Ideologie des Marxismus. Selbst kirchenferne bürgerliche Kreise konnten einem schrankenlosen „marxistischen“ Kurs in der Bildungs- und Erziehungspolitik wenig abgewinnen. Nach außen hin schien Seipel stark, unnahbar und berechnend. Aus seinen Tagebüchern geht jedoch hervor, dass ihm der Zwiespalt zwischen Seelsorge und Politik zu schaffen machte, dass er mit sich selbst haderte und sich stets ermahnte, aus Nächstenliebe für die „Feinde“ der Kirche zu beten. Besonders litt er unter der hasserfüllten Medienkampagne, die nach dem Brand des Justizpalastes gegen seine Person einsetzte, die eine Austrittswelle aus der römisch-katholischen Kirche zur Folge hatte. Der Priester und Politiker Dr. Ignaz Seipel ist, neben Engelbert Dollfuß, eine der umstrittensten Persönlichkeiten der Ersten Republik geblieben.627

5.1.5.5 Der „Spuk“ von Wiener Neustadt

Die angespannte Atmosphäre erfuhr eine weitere Verschärfung, als am 7. Oktober 1928 beide bewaffnete „Lager“ unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen in Wiener

626 Der Giftgasprälat verherrlicht die Heimwehrfaschisten. In: Arbeiterwille (4.9.1929) S. 1.

627 Viktor Reimann, Zu groß für Österreich. Seipel und Bauer im Kampf um die Erste Republik (Wien/Frankfurt/Zürich 1968) S. 74–79; 130–135; Maximilian Liebmann, 1934: Kirche, Kultur und Arbeiterschaft. In: Hinteregger/Müller/Staudinger, Freiheit, S. 291–297.

Neustadt aufmarschierten. Mit der moralischen und finanziellen Unterstützung der Regierung Seipel konnte die Heimwehr die Herrschaft der Sozialdemokratie über Wiener Neustadt in Frage stellen, ihr im „Kampf um die Straße“ eine Niederlage zufügen. Um diese „Schmach“ zu tilgen, veranstaltete der obersteirische Schutzbund an demselben Tag einen Aufmarsch in Leoben, bei dem wichtige sozialdemokratische Führer wie Reinhard Machold und Koloman Wallisch versuchten, die Stimmung der „Daheimgebliebenen“ zu heben. In seiner Eröffnungsansprache bezeichnete Landesrat Machold das Eindringen der bürgerlichen Wehrformationen in die sozi-aldemokratische Domäne als eine ungeheure Provokation, als einen „Stich in das Herz des niederösterreichischen Arbeiters“. Der Aufmarsch der Heimwehr in Wiener Neustadt sei nichts anderes als eine Generalprobe für den „Marsch nach Wien“. Im Gegensatz zur Heimwehr, die den „Betriebsfaschismus“ aufgerichtet hatte, wollten die sozialdemokratischen Arbeiter nichts lieber als Frieden und Freiheit, versicherte Nationalrat Domes den rund 6000 versammelten Schutzbündlern. Die Heimwehr versuche die Arbeiterschaft mit „schuftigen Mitteln“ zu spalten und zu schwächen;

er sei jedoch zuversichtlich, dass jene abspenstig gemachten Arbeiter bald in die Reihen der Sozialdemokratie zurückkehren würden, um zum Sieg des Sozialismus beizutragen. Um dieses Ziel zu erreichen, beschwor Schutzbundführer Köhler, seien Schutzbündler und Sozialdemokraten gegebenenfalls bereit, den Kampf bis zum letzten Blutstropfen zu führen und für ihre Ideale schließlich zu sterben.628

Wie nicht anders zu erwarten, wurden die Wiener Neustädter Ereignisse von der parteigelenkten Presse verschieden dargestellt. Die christlichsoziale „Reichspost“ berich-tete, in Wiener Neustadt habe man keine Spur von den befürchteten Feindseligkeiten, dem „Spuk“, vernommen; weder Pfiffe noch Pfui-Rufe seien zu hören gewesen. Im Gegenteil: Die Bevölkerung habe die schmucken Heimwehrformationen mit Heil-Rufen begrüßt und bei ihrem Triumphzug durch die Stadt begeistert zugejubelt. Nach der Feldmesse und den bewegenden Ansprachen ihrer Führer habe man die Männer mit herzlichen Worten verabschiedet. Dort wo Schweigen herrschte, sei der Eindruck ent-standen, so mancher Anhänger habe es nicht gewagt, seine Sympathie für die Heimwehr öffentlich zu zeigen. Aus sozialdemokratischer Perspektive hingegen war der Aufmarsch des Gegners nichts anderes als eine der Mehrheitsbevölkerung aufgezwungene Farce.

Durch totenstille Gassen sei der einsame Zug der „Hahnenschwänzler“ marschiert. Der Hauptplatz habe zudem wegen der getroffenen Schutzmaßnahmen – Stacheldrahtver-haue und Maschinengewehre waren aufgestellt worden – einem düsteren Heerlager geglichen. Trotz der markigen Sprüche Steidles und Pfrimers war keine „rechte“ Stim-mung aufgekommen. Nachdem der letzte Heimwehrmann pünktlich von der Bühne der sozialdemokratischen Hochburg abgetreten war, habe die Bevölkerung die Schutz-bündler stürmisch begrüßt, mit Blumen beworfen und noch rasch Häuser und Straßen mit zusätzlichen Girlanden und Flaggen geschmückt. Die Menschen in Wiener Neustadt hätten den „Faschisten“ ja doch gezeigt, für welche Seite ihre Herzen schlugen.629

628 StLA ZGS (BKA) K.74/1 (Fol. 77–80); Aufmarsch des Republikanischen Schutzbundes. In: Leobe-ner Zeitung (10.10.1928) S. 3.

629 Das Ergebnis des 7. Oktober. In: Reichspost (8.10.1928) S. 1–3; Ein Triumph der Freiheit. In: Das Kleine Blatt (8.10.1928) S. 1–3.

Gut is’ gangen, nix is g’schehn! sagt der Volksmund: Angesichts der für die „Bela-gerung“ der Stadt entstandenen Kosten stellt der Redakteur der „Neuen Freien Presse“ im Feuilleton erleichtert fest, es sei zunächst ein Glück für alle, dass kein einziger Tropfen Blut geflossen war. Bei nüchterner Betrachtung jedoch zeige sich der Wahnsinn in seiner ganzen tragischen Dimension: Wenn man bedenkt und überlegt, wie grotesk und phantastisch es eigentlich war und ist, daß hunderttau-sende Menschen, Söhne desselben Volkes, Bürger desselben Staates, von den gleichen politischen und wirtschaftlichen Nöten einer schweren und harten Zeit bedrückt, an einem Sonntag (…) nichts Besseres zu tun wissen, als gegeneinander die Fäuste zu ballen. Der viel strapazierte Wunsch nach Frieden sei ein bloßes Lippenbekenntnis, meint Herr Kisch resignierend, wenn politische Gegner, am selben Ort versammelt, aneinander vorbei, anstatt zueinander redeten. Seine Gedanken zum Tag schließt er mit der prophetischen Befürchtung, der „Spuk“ vom 7. Oktober könnte doch zur

„grausen Wirklichkeit“ werden.630

5.1.5.6 Und wieder der Hut …

Dass die Wirklichkeit längst „graus“ geworden war, konnte man am politischen Stimmungsbarometer in der obersteirischen Industrieregion leicht ablesen. Nicht lange nach Wiener Neustadt spitzte sich die Lage in der Brauereigemeinde Göß zu, als sich Angehörige des Heimatschutzverbandes und nicht näher definierte „Mar-xisten“ in die Haare gerieten. Laut Bericht des örtlichen Gendarmeriepostens hatten sich die Fälle in den Wochen zuvor gehäuft, in denen Mitglieder der Heimatschutz-Ortsgruppe Göß von sozialdemokratischen Arbeitern wegen Tragens des Heimat-schutz-Hutes angepöbelt und tätlich angegriffen worden waren. Die Ortsgruppe beschloss daher, am 15. November einen Kameradschaftsabend zu veranstalten, um vor aller Augen zu demonstrieren, dass die gegnerische Taktik der Einschüchterung und Provokation auf keinen Fall mehr geduldet würde. Wie den Aufzeichnungen der Exekutive zu entnehmen ist, hatte der Kameradschaftsabend offenbar eher eine Alibifunktion, um die gegnerischen Demonstranten, die sich vor dem Eingang des Hotels „Gösserbräu“ versammelt hatten, herauszufordern. Schon gegen 18 Uhr hatten

„nicht-ansässige Marxisten“, die sich im Ort und im Bereich der Brauerei herumtrie-ben, die Aufmerksamkeit der Gendarmerie erregt. Als um 20 Uhr etwa 150 Mitglie-der des Leobener Heimatschutzes und kurze Zeit später jene aus Donawitz vor dem Versammlungslokal eintrafen, wurden sie von den etwa 150 bis 200 Neugierigen mit Pfiffen, „Pfui“- und „Freundschaft“-Rufen geschmäht. Im Nu flogen die Fäuste, so dass die dort anwesenden Gendarmeriebeamten energisch einschreiten mussten, um die Raufenden zu trennen. Dabei wurde ein sozialdemokratischer Gemeindearbeiter von einem Heimatschützler derart verdroschen, dass er ins Krankenhaus gebracht werden musste. Nach einer kleinen Pause versammelte sich erneut eine erregte Menge vor dem Hotel, wo sich bald mehr sensationsgierige Anhänger des Heimatschutzes

630 Momentbilder vom 7. Oktober. In: Neue Freie Presse (8.10.1928) S. 1–3.

im Eingangsbereich aufhielten, als an der Veranstaltung teilnahmen. Den Exekutiv-beamten blieb nichts anderes übrig, als zwischen Hotel und Straße einen Kordon zu ziehen. Als dennoch zwischen den nun alkoholisierten Gegnern und der Exekutive eine Auseinandersetzung wegen Ehrenbeleidigung entstand – ein Heimatschützler behauptete, sie seien mit „Lausbuben“ beschimpft worden – drohte die Situation aber-mals zu eskalieren. Eine Beruhigung trat erst ein, als der Gösser Bürgermeister Flatt und sozialdemokratische Funktionäre aus Leoben ernste Ermahnungen aussprachen.

Am gefährlichsten schien die Lage, als sich die Heimatschützler anschickten, in Doppelreihen nach Hause zu marschieren; daher wurden die Zuschauer von der Gendarmerie solange zurückgehalten, bis die Heimatschutztruppen außer unmit-telbarer Reichweite waren. Trotzdem gelang es etwa 50 Verfolgern, die von dannen Marschierenden einzuholen und ihnen im Flüsterton „Schweine“ zuzurufen. Wieder gelang es den vor Ort anwesenden Gendarmen, die Gegner auseinanderzuhalten und eine weitere blutige Schlägerei zu vermeiden.631

5.1.5.7 Kapfenberg als Epizentrum der Unruhen

Im letzten Jahr vor dem Ausbruch der Wirtschaftskrise konnte der Heimatschutz-verband – auch dank in- und ausländischer Unterstützung – seinen „Siegeszug“

fortsetzen. Der Leobener Bezirksgendarmeriekommandant Johann Erhart notierte in seiner Chronik, die Ortsgruppe Donawitz habe seit ihrer Gründung im Herbst 1927 gewaltigen Zulauf verzeichnet und bereits 2600 Mitglieder, über 50 Prozent der gesamten „hiesigen Arbeiterschaft“, in ihre Reihen geholt.632 In den Jahren 1928 bis 1930 entwickelte sich jedoch nicht Leoben, sondern Kapfenberg und Umgebung zu einem Kristallisationspunkt gewalttätiger Vorfälle. In den allermeisten Fällen handelte es sich hierbei um organisierte Überfälle bei Versammlungen oder Auf-märschen (Steinwürfe, Hieb- und Stichwaffen, Faustfeuerwaffen) sowie um Provo-kationen einzelner oder kleinerer Gruppen auf offener Straße oder in Wirtshäusern (Raufhandel). Am emotionsgeladenen Tag der Arbeit 1929 wurde eine Autokolonne des Heimatschutzes, die von einer Störaktion in St. Marein im Mürztal heimwärts fuhr, auf dem Kapfenberger Hauptplatz von Mitgliedern des Republikanischen Schutzbundes überfallen und mit Steinen beworfen. Die „Neue Freie Presse“ berich-tete, die Heimatschützler waren aus den Lastautos gezerrt und geschlagen worden.

Während der anschließenden etwa halbstündigen Schlägerei seien insgesamt 19 Per-sonen verletzt worden, darunter 17 Heimatschützler. Der Überfall der Schutzbündler sei ein Racheakt gewesen, hieß es, weil die Heimatschützler versucht hatten, den Auftritt des bei der „heimattreuen“ Bevölkerung verhassten Koloman Wallisch bei der Maifeier in St. Marein zu vermasseln. Die Kakophonie dreier Musikkapellen und einiger Motorräder sollte die Festrede Wallisch’ übertönen. Die sozialdemokratische Korrespondenz behauptete, nicht die Heimatschützler, sondern die Schutzbündler

631 StLA ZGS (BKA) K.74/1 (Fol. 56–61).

632 Chronik des BGK Leoben, 1928.

seien überfallen worden. Dabei sei ein Arbeiter angeschossen worden, der sich in seinem Blut gewälzt habe.633

5.1.5.8 Der „Blutsonntag“ von St. Lorenzen

An jenem verhängnisvollen 18. August 1929 machte die Heimwehr ihre Drohung wahr, an der von der sozialdemokratischen Ortsgruppe St. Lorenzen geplanten Feier aus Vergeltung „teilzunehmen“.634 Die im Vorfeld erklärte Bereitschaft der Heim-wehrführer, ihre für denselben Tag behördlich bewilligte Veranstaltung andernorts

An jenem verhängnisvollen 18. August 1929 machte die Heimwehr ihre Drohung wahr, an der von der sozialdemokratischen Ortsgruppe St. Lorenzen geplanten Feier aus Vergeltung „teilzunehmen“.634 Die im Vorfeld erklärte Bereitschaft der Heim-wehrführer, ihre für denselben Tag behördlich bewilligte Veranstaltung andernorts