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der Staatsordnungen in Südosteuropa

Eine politik wissenschaftliche S k iz z e

Das Them a ist nicht erst seit dem U ntergang der Sozialistischen Bundesre- publik Jugoslawien akut. Überblickt man die politische Geschichte Süd- Osteuropas d er letzten 150 Jahre von d e r stufenweisen Verwirklichung d er staatlichen Unabhängigkeit an, so standen die Staatsführungen in allen Ländern bis zum Zweiten Weltkrieg vor dem Problem, wie sie angesichts d er H erausforderungen von innen und außen eine gewisse Stabilität der politischen Verhältnisse sichern sollten. In extrem en Fällen wie dem Unga- rischen Königreich bis 1918, in Jugoslawien und A lbanien während des Zweiten Weltkrieges, aber auch der Tschechoslowakei 1986 und 1939 läßt sich zeigen, daß selbst der territoriale Bestand gefährdet ist, wenn die inne- ren Spannungen von äußeren G egnern entsprechend ausgenützt werden.

Im Regelfälle wird Stabilität allerdings vom mangelhaften Funktionieren des Regierungssystems bedroht, und zwar in dem Sinne, daß sich Konflikte mit Hilfe der dafür vorgesehenen Institutionen und in den vorgesehenen Bahnen nicht m ehr lösen lassen. Nach herrschender Meinung zeigen sich die Symptome der Instabilität in anomischen Vorgängen wie politischen Gewaltsamkeiten, Aufständen, politischen M orden u.dgl.m . Damit ist freilich noch nichts erklärt. Denn die Frage m uß schließlich lauten: Wie kommt es, daß die durch Verfassung o d e r überkom m ene Regeln vorgese- henen politischen Prozesse nicht stattfinden und statt dessen andere Wege eingeschlagen werden? Hierzu hält die Wissenschaft die allgemeine Hypo- these bereit: Jedes politische System m uß in der Lage sein, letztverbindli- che Entscheidungen zu treffen und diese auch gegen Widerstand durchzu- setzen. Bei den Entscheidungen handelt es sich um die Lösung von Problemen, die auf das politische System in der G estalt von Erwartungen zukommen.

Im Vergleich zu den Staaten des übrigen E uro p a bietet Südosteuropa ein Bild derständigen Veränderungen, der U nbeständigkeit und Unsicher- heit. Nicht nur die Grenzen der Staaten erweisen sich als flüssig, auch die Zusam m ensetzung der Völker und Volksgruppen innerhalb der Staaten ist dem Wandel unterworfen.

Es geht mir jedoch nicht um die Wiederholung dieser von der Staatswis- senschaft und Ethnologie im einzelnen erforschten Tatbestände. Mein Blick richtet sich auf die politischen Konsequenzen. Was bedeutet es, daß dieser R aum politisch nicht zur Ruhe kommt, daß die Staaten einander im- m er wieder in Frage stellen, daß Konflikte wie die ethnischen und wirt- schaftlichen A useinandersetzungen zwischen Serben, Kroaten und Slowe- nen zu einem mörderischen Krieg führen, in den früher oder später auch die anderen jugoslawischen Völker und Volksgruppen einbezogen werden dürften (die A lb an e r sind bereits auf dem Sprung, bei günstiger Gelegen- heit den Konflikt für eigene Zwecke zu nützen).

Was bedeutet es, daß sich das serbische Volk offenbar von einer militāri- sehen Clique regieren läßt und keine A nstalten macht, auf die Völkerrecht- liehe Ä chtung durch die Vereinten Nationen zu reagieren. Was muß geschehen, daß die demokratisch gesinnten Serben, die es nach aller Er- fahrung ja gibt, sich gegen das bestehende Regime wenden!

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So könnte man noch weiter fragen. Nicht nur die europäische Offent- lichkeit empfängt täglich haarsträubende Nachrichten über die planmäßi- ge Z erstörung von Städten und D örfern, von Toten und Verwundeten.

D ennoch d arf es niem anden wundern, daß sich die europäischen Nach- barn militärisch nicht einmischen, von den Vereinten Nationen ganz zu schweigen. Wie könnte denn eine ״ Strafexpedition“ aussehen! Nach den Erfahrungen des Golfkrieges werden sich auch die U SA zurückhalten.

Was also steht der Völkergemeinschaft überhaupt an Instrumenten zur Verfügung, um ein G ebiet von d er G rö ße und A rt Südosteuropas zu

״ befrieden“ ? Bekannt sind die Versuche, durch Verhandlungen im Namen der Vereinten N ationen und der Europäischen Gemeinschaft sowie der Westeuropäischen U nion wenigstens einen Waffenstillstand herbeizu- führen, allein, um humanistische M aßnahm en möglich zu machen. Allein d er Verlauf des Golfkrieges und der Golfkrise haben gelehrt, daß erst ent- schlossene militärische M aßnahm en dazu führten, dem Völkerrecht Gel- tung zu verschaffen. Ein Em bargo gegen Waffenlieferungen, Ö lim porte und sonstige U nterstützungen der serbischen Kriegführung erweist sich bisher als ergebnislos. Die Interessen der beteiligten Staaten sind zu hete- rogen, als daß ein wirksames gemeinsames H andeln zustande kommen könnte. Wird also am Ende der Aggressor doch siegen, wenn die verwüste- ten bosnischen und kroatischen G ebiete an ein G roßserbien fallen? O d er werden den Bosniern außereuropäische Mächte zu Hilfe kom m en?

Schlägt die Stunde der islamischen Einigung ausgerechnet in einem Fall, d er essentielle europäische Interessen tangiert?

Was bedeutet es schließlich, daß mit der Auflösung Jugoslawiens als dem militärisch stärksten Nachfolgestaat d e r H absburger Monarchie nun auch die am meisten technisch entwickelte Tschechoslowakei auseinan- derbricht und die Nachfolgestaaten G roßru m äniens ihre A nsprüche

stel-len (Siebenbürgen, D obrudscha, Transnistrien, Bessarabien)? Was bedeu- tet es, daß Bulgaren ihren Blick auf Thessalonien und M azedonien werfen k önnten? Was bedeutet es, daß die A lb an er m ehr als eine A utonom ie im untergehenden Jugoslawien fordern?

Mit einem Schlage scheinen alle in den letzten Jahrzehnten politisch dis- kutierten und geforderten territorialen A nsprüche wieder aufzuleben und auf ״ L ösungen“ zu drängen. Es ist nicht auszudenken, was dies für den Weltfrieden bedeutet. Wir haben es schließlich mit globalen Prozessen zu tun, für die die E rhaltung Südosteuropas lediglich ein erw artbares Exem- pel darstellt.

Im folgenden will ich den revolutionären Wandel, der sich in Südosteu- ropa abspielt, unter dem Gesichtspunkt betrachten, ob au ß er den auf Ver- änderung und U m sturz drängenden Kräften auch Tendenzen erkenn b ar sind, die auf Beständigkeit und Stabilität ausgerichtet sind. Dabei kommt es weniger auf Definitionen an, als vielmehr auf deren konkrete Erschei- nungsformen. In der politischen Wissenschaft w urde im Laufe d er letzten Jahrzehnte Stabilität vielfach kontrovers diskutiert, insbesondere im Zu- sam m enhang der Stabilisierung von politischen Systemen in den sog.

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Entwicklungsländern, bzw. in Ubergangsgesellschaften. Wissenschaftsge- schichtlich haben wir es dabei mit Begegnungen zwischen Staatswissen- schaft, insbesondere Rechts- und Sozialwissenschaft zu tun, wobei be- stimmte Prozesse aus dem Bereich der Naturwissenschaft eine Rolle als Modell spielen. Wir sprechen von Systemstabilität als d er Eigenschaft von Systemen, bei Abweichungen von einem Gleichgewicht aufgrund von Störungen zu einem neuen Gleichgewichtszustand zurückzukehren.

W ährend in den Naturwissenschaften, besonders in d e r Physik, die Stabi- litätstheorie seit langem bekannt ist, hat sie in den Sozialwissenschaften erst mit dem Einzug der Kybernetik an B edeutung gewonnen. Seit den 50er Jahren unseres Jahrhu n derts sprechen wir von selbstregulierenden Systemen auch bei entsprechenden Vorgängen in sozialen Systemen. Da- bei haben sich Begriffe wie Gleichgewicht und R ückkoppelung eingebür- gert. Das gilt vor allem im politischen Bereich.

U n te r politischer Stabilität verstehen wir die Fähigkeit politischer Syste- me, sich in d e r A useinandersetzung mit ihrer Umwelt dauerhaft inhalt- lieh und strukturell identisch zu behaupten. H eute werden Vergleiche von politischen Systemen generell u n ter Zuhilfenahm e der politischen System- theorie durchgeführt. Wir haben uns angewöhnt, in diesem Zusam m en- hang von politischen Funktionen zu sprechen, die in jedem politischen Sy- stem erfüllt werden müssen, wenn es überleben will. Dabei kommt es vor allem d a ra u f an, diese Funktionen je nach den strukturellen G egebenhei- ten zu identifizieren. Stabilität erweist sich dabei als ein wesentliches Un- terscheidungsmerkmal für die Lebensfähigkeit von politischen Systemen, im engeren Sinne von Staaten.

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Dabei hat es sich als hilfreich erwiesen, auf Gleichgewichtszustände zu achten: Gleichgewicht zwischen agrarischen und städtischen Strukturen, also zwischen Land und Stadt, Gleichgewicht zwischen klein- und großbe- trieblichen Strukturen, zwischen kleinen und großen Verwaltungseinhei- ten, aber auch zwischen entsprechenden staatlichen Verantwortlichkeiten (Subsidiaritätsprinzip), zwischen den Staatsgewalten, zwischen den Gra- den politischer Partizipation und politischer Institutionalisierung. Wesent- liehe Stabilitätsfaktoren sind Legitimität und Effektivität des politischen Handelns, ein M indestm aß an Zustim m ung und A kzeptanz demokrati- scher Regeln sowie ihr erk en n b ares Funktionieren in der Praxis. Mehrere Stabilitätstheorien befassen sich mit d e r Frage, in welchem Ausmaß das Verhältnis von Wandel zur Stabilerhaltung oder zum U m kippen in Instabi- lität führt.

Wenden wir uns den politischen Institutionen zu, so ist ohne weiteres einsehbar, daß Stabilität hauptsächlich davon abhängt, in welchem Aus- maß die zentralen Institutionen wie das Rechtswesen, die sittlichen und re- ligiösen N orm en, die H om ogenität der politischen Werte, aber auch das Alltagsverhalten im Verkehr, das Verhalten in d er Familie, in den Schulen, aber auch im Sport beachtet und verläßlich eingehalten werden.

Von soziologischer Seite wird darauf hingewiesen, daß eine der unerläß- liehen Bedingungen für politische Stabilität das Vorhandensein einer breiten sozialen Mittelschicht sei. Weil gerade dies in vielen der jüngeren Entwicklungsländer nicht, bzw. noch nicht der Fall ist, greifen die institu- tionellen Voraussetzungen der Stabilität oft nicht oder zu spät. Damit hängt das Defizit an hom ogenen Werten zusamm en, über das in der Ent- wicklungsländerforschung geklagt wird. Wenn man bedenkt, wie lange es in den entwickelten D em okratien Europas gedauert hat, bis sich der ״ Drit- te S tand“ der französischen Revolution als soziale Schicht etablierte, läßt sich ermessen, was in den Gesellschaften Südosteuropas und erst recht von Übergangsgesellschaften der D ritten Welt erreicht werden muß, um sozia- le und politische Stabilität zu gewährleisten.

Mit der Existenz eines gewissen W ertekonsenses und den entsprechen- den Einstellungen der Bürger zur D em okratie hängt schließlich das Loya- litätsproblem zusammen. So bedeutsam die Bereitschaft d e r Bürger ist, sich für unterschiedliche politische Ziele (etwa durch Bindungen an politi- sehe Parteien) einzusetzen und dadurch A npassung an neue Lagen und po- litischen Wandel zu ermöglichen, so notwendig erachten führende Polito- logen das Bestehen von sozialem Vertrauen und Kooperationsgeist sowie den Sinn für die Zusam m engehörigkeit einer Staatsnation. Dieses sei die sicherste G ew ähr gegen allzu affektive Bindungen an politische G ruppen.

Im folgenden soll zunächst ein politisches Instrum ent behandelt werden, das seit dem Zw eiten Weltkrieg mehrfach zum Einsatz kam: die Teilung von Staaten. Diese ereignete sich, wenn sich Stabilitätsprobleme nicht

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m ehr durch innerstaatliche M aßnahm en lösen ließen. Selbstverständlich bezieht sich das Instrum ent nicht nur auf Südosteuropa. Es handelt sich auch nicht allein um eine Erscheinung des 20. Jahrhunderts. Das Teilen von Herrschaftsgebieten ist so alt wie die staatlichen O rganisationen über- haupt, vor allem seit Beginn des m odernen Territorialstaates. In den Jahr- hunderten der dynastischen Erbfolge im Absolutismus w urden Länder, Staaten und Bevölkerungen wie persönliches Eigentum behandelt.

Davon soll hier nicht die R ede sein. Die Teilung von Staaten wurde zum Problem, als der m oderne Verfassungsstaat im Gefolge des Konstitutiona- lismus d er Willkür der absolutistischen H errscher G renzen setzte und m ehr und m ehr politische Entscheidungen verrechtlichte. Die Rechtsper- sönlichkeit des Staates setzt der Teilung von Staatsgebieten eine institutio- nelle Grenze. Veränderungen d er Staatsgrenzen und das Teilen von Staats- gebieten werden nunm ehr als Verstoß gegen elem entare Rechte des Volkes auf Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung beurteilt. Man geht von d e r A nn ah m e aus, daß V ölker sich nicht freiwillig teilen, sondern daß sie nur der Macht weichen.

Die Politik der Teilung bedeutet also einen Einbruch in die wohlverstan- denen Interessen von Völkern und Volksgruppen. Läßt sie sich dennoch rechtfertigen? Die bisher überschaubaren Fälle haben militärische Kon- flikte beendet oder zu ihrer Vermeidung beigetragen. D e r weltpolitische H intergrund besteht in der Beschwörung von atom aren G efahren. Diese können als A ntw ort auf die E rhaltung des atom aren Gleichgewichts ver- standen werden.

Kommen wir zurück zur prinzipiellen B edeutung von Staatsgrenzen im gegenwärtigen Zeitalter. D e r Wandel in ihrer Beurteilung setzte mit dem A ufkom m en des Nationalstaates ein. Mit dem Staatsnationalismus trat ein völlig neuer Rechtfertigungsgrund in Erscheinung, der im Verlaufe von

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zwei bis drei Jah rh u n d erten das Übergewicht gewinnen sollte: Das Prinzip von der Einheit und Unteilbarkeit d e r V ölker oder Nationen. Erst aus die- sem D enken läßt sich so etwas wie eine Vorstellung von der gerechten Grenze gewinnen. Selbst bestehende Staatsgrenzen werden nicht m ehr als politische Tatsache einfach hingenom m en, sondern sie werden prinzipiell in Frage gestellt und nach dem G ra d erreichter nationaler Gerechtigkeit beurteilt, den sie ausdrücken. Zu den alten Konfliktherden ist also ein neu- er hinzugekommen, denn die Verwirklichung d er Forderungen nach natio- nal gerechten G renzen stößt überall auf W iderstand der vertraglich verein- barten und im Sinne der faktischen Kraft des Normativen anerkannten bzw. einmal festgelegten Grenzen. Hinzu kommt, daß gerade in E uropa die national gerechte G renze infolge d e r A usuferung und Verzahnung der Siedlungsböden vielfach gar nicht zu verwirklichen ist. So zeigt die Ent- wicklung seit 1918 sehr eindringlich, daß die A n erk en n un g der nationalen Einheitlichkeit und U nteilbarkeit keineswegs zu einer befriedigenden

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sung der Grenzfragen führte. Seither beschäftigt uns das Schicksal der na- tionalen M inderheiten nicht weniger als das der nationalen Einheit.

W ährend sich aber in der Zwischenkriegszeit keine wirksamen Ansätze für die Erzwingung des Friedens als Voraussetzung für einvernehmliche Regelung von G renzproblem en zeigte, leben wir gegenwärtig in einer Pha- se der Weltpolitik, in der das atom are Gleichgewicht o d er das atom are Patt zumindest zeitweise den Weltfrieden zu sichern scheint. Diese A rt von Friedenssicherung ist jedoch genau das Gegenteil dessen, was seit Jahr- zehnten im N am en der nationalen Einheit und U nteilbarkeit gefordert wird: nämlich eine Friedensordnung, welche auf den Prinzipien morali- scher und rechtsstaatlicher Gerechtigkeitsvorstellungen beruht. Zwei A spekte der nationalen Selbstbestimmung verschärfen den Konflikt be- sonders und erschweren seine Lösung: die Ideologisierung d er Nation und die Ideologisierung der Staats- und Gesellschaftsordnung. Beides geht in der Praxis häufig ineinander über.

Die Ideologisierung der Nation begann spätestens mit d e r Französi- sehen Revolution und erreichte einen H ö h ep u n k t in den faschistischen und nationalsozialistischen Nationsbegriffen. Prinzipiell stehen individua- listische und kollektivistische Konzepte einander gegenüber. Eine hohe Brisanz erreichte die Nationsideologie durch die Verbindung von nationa- 1er Einheit und D em okratie in den Befreiungsideologien d er osteuropäi- sehen Völker des 19. und 20. Jahrhunderts. Diese nationaldemokratische Ideologie formte sich in der A useinandersetzung mit den monarchisch

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führten multinationalen Reichsgebilden Ö sterreich-U ngarn, Rußland und Osmanisches Reich. Das Ideologische des N ationaldem okratism us trat freilich erst offen zutage, nachdem die tatsächlichen politischen G egner der neuen Staaten am Ende des Ersten Weltkrieges untergegangen waren und die Nachfolgestaaten die E rfahrung machen m ußten, daß weder natio- naie Einheit noch D em okratie erreicht w orden waren. A uf die Gegenideo- logie des Faschismus mit ihrer Mystik des Blutes, d e r Rasse, des gesunden Volksempfindens u.s.f. braucht nicht m ehr eingegangen zu werden. Zwi- sehen den beiden Extrem en bewegen sich mancherlei biologistische, indi- vidualistische, soziologische Nationsverständnisse. Das problematische der gegenwärtigen Situation dürfte darin bestehen, daß die Nationsideolo- gien zwar verbraucht und abgenutzt sind, nichtsdestoweniger aber aus dem Affekt der Dekolonialisierung einen epochalen Impuls erhalten haben, der wiederum auf die europäische Ausgangslage des Nationalismus zurückwirkt.

Mit dieser Wendung erfährt die Staatsgrenze selbst eine neue Bestim- mung. Es wird zwar nicht m ehr nach geographischer, geschichtlicher, ethnischer, rechtlicher Rechtfertigung gesucht: die Willkürlichkeit von Grenzziehungen erscheint gleichzeitig als A ufforderung zu ihrer Beseiti- gung durch den Besitzer der ״ besseren“ Ideologie. Wir haben es also mit

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D em arkationslinien zu tun, durch welche die Einflußsphären d e r hinter den Ideologien stehenden Mächte geschieden werden.

״ A n die Stelle des cuius regio eius religio des konfessionellen Zeitalters und des cuius regio eius natio des neuen Zeitalters in E u ro p a ist heute un- ausgesprochen aber praktisch überall wirksam der G rundsatz cuius regio eius ordo socialis getreten.“ (G o tth o ld R h o de)

Wenn dies die ״ neue Lage“ ist, dann äußert sie sich nicht zuletzt darin, daß die Teilungen in einem so hohen G ra d e A usdruck d er weltpolitischen Gesamtlage sind und damit vom jeweiligen Stand der weltpolitischen mili- tanten A useinandersetzungen abhängen, daß man durchaus von einem Q ualitätssprung sprechen kann. Wir haben es mit einer neuen Welttatsa- che zu tun, für die es geschichtlich keine Vorgänge und somit auch keine Lösungsmodelle gibt. Zum indest sind den leidenden Nationen Initiative und H andlungskonzept weitgehend aus d er H and genom m en. Ihr Spiel- raum, die nationale Einheit ernsthaft zu betreiben, ist vermutlich sehr viel kleiner als sie selbst glauben. Die A to m b o m b e hat seit 1945 die Rangord- nung der weltpolitischen Werte umgekehrt. Wenn auch seit jeh er der G rundsatz galt: pax optim a rerum, so war d er Krieg auch noch nach seiner

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Achtung im Kellog-Pakt ein legitimes Mittel, die berechtigten Interessen des eigenen Landes durchzusetzen. Seit 1945 aber scheint der G rundsatz zu gelten: pax unica rerum, so daß sich alles andere der E rhaltung des Frie- dens unterzuordnen hat.

Was b edeuten diese allgemeinen Ü berlegungen für die gegenwärtige Lage in Südosteuropa? Nach zwei Jah rzehnten politischer Labilität und vier Jah rzehnten einer quasi-Stabilität in den kommunistischen Staaten befinden sie sich gegenwärtig in einer Phase äußerster Unsicherheit. Bei einer Analyse der politischen Verhältnisse müssen wir von vornherein auf zwei wesentliche Them en verzichten: auf die A ufarbeitung des kommuni- stischen Erbes und auf die B ehandlung Jugoslawiens. Im ersteren Falle kommen wir ohne eine weltgeschichtliche Betrachtung des Zusam m en- bruchs d er sozialistisch-kommunistischen Herrschaft in Theorie und Pra- xis nicht herum. Im zweiten Falle befinden wir uns noch mitten in einer politischen und kriegerischen A useinandersetzung mit allen denkbaren Risiken der Fehleinschätzung d e r beteiligten Kräfte. Die Verhältnisse dürften noch für längere Zeit keine Hinweise für die künftige Entwicklung bieten. Es ist zu befürchten, daß selbst nach Beendigung der Kampfhand- lungen mit einem größeren Z eitraum d e r nachfolgenden politischen, so- zialen und wirtschaftlichen Instabilität gerechnet werden muß. Für diese Phase dürften selbst die Begriffe Wandel und Beständigkeit keine Gültig- keit haben. Wir müssen eh er mit chaotischen Verhältnissen rechnen. An Konsolidierung ist bestenfalls in Slowenien zu denken; dort sind auch die Kriegsschäden noch relativ gering. Vom Standpunkt einer internationalen

״ G erechtigkeit“ ist das Schicksal Serbiens begünstigt. Das Land hat bisher

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am wenigsten gelitten. Was das für die Zukunft bedeutet, läßt sich eben- falls nicht absehen. Falls es ein kollektives G edächtnis d e r V ölker gibt, müssen wir mit weiteren Turbulenzen rechnen. Kroatien und Bosnien sind in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung um viele Jahre zurückgeworfen, doch auch die M ontenegriner und Mazedonier, ganz zu schweigen von den A lbanern, sind hart betroffen. Es ist jedenfalls schwer vorstellbar, daß ein Konflikt von den A usm aßen, an dem die gesamte Weltöffentlichkeit teil-genom m en hat, ohne ernsthafte Konsequenzen für den Aggressor bleibt.

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Im letzten Teil d e r Ü berlegungen soll der Versuch u n ternom m en wer- den, auf Problem e d er Beständigkeit in den anderen südosteuropäischen Ländern hinzuweisen. Dabei kann es sich verständlicherweise lediglich um allgemeine E rörteru n gen handeln, denn von Land zu Land sind die Ver- hältnisse verschieden.

1. Am wenigsten sind die religiösen/kirchlichen Verhältnisse dem Wan- del unterworfen. So widersprüchlich und unvergleichbar die A useinander- Setzungen zwischen den beiden christlichen Kirchen auf der einen, dem Is- lam auf der anderen Seite verliefen, so stabil erweisen sich die bestehenden

1. Am wenigsten sind die religiösen/kirchlichen Verhältnisse dem Wan- del unterworfen. So widersprüchlich und unvergleichbar die A useinander- Setzungen zwischen den beiden christlichen Kirchen auf der einen, dem Is- lam auf der anderen Seite verliefen, so stabil erweisen sich die bestehenden