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Sozialpolitische Hilfen für Südosteuropa

Die kommunistischen Systeme in Osteuropa waren trügerische Fassaden- gebilde. Sie haben ihren Bürgern nicht nur die Freiheit vorenthalten, sondern auch alle politischen Ziele zugleich verfehlt, die von ihren ideo- logischen Bannerträgern verkündet worden waren: Ihre ökonomischen Monostrukturen waren ineffizient, sie verschwendeten Ressourcen und erwirtschafteten Produkte, für die es auf einem funktionierenden Markt keine Abnehmer gibt. Ökologisch wurden so tiefe Wunden gerissen, daß die Folgen noch über Generationen spürbar sein werden. Und sozialpoli- tisch blieb die Versorgung auf so geringem Niveau, daß nur die Gleichheit im Mangel ein Gefühl von Teilhabe an der allgemeinen Entwicklung ent- stehen lassen konnte.

In Südosteuropa gab es besonders krasse Beispiele der Versklavung ganzer Völker: In Rumänien behandelte eine hemmungslose Parteispitze das gesamte Land wie ihr Privateigentum und preßte aus den Menschen die letzte Energie, um die gigantischen Weihetempel des Personenkult-So- zialismus zu errichten. In Albanien wurden - mitten in Europa - die Men- sehen gar zu Zivilisationseremiten verbogen. Erst jetzt, nach Ende der Ge- waltherrschaft, zeigt sich überall das ganze Ausmaß der Repression und Perversion dieser Systeme, die ihren Opfern sogar voller Zynismus den Glorienkranz von Siegern im Marathonlauf zum irdischen Paradies um- hängen wollten.

Die kommunistischen Systeme sind an der Auszehrung durch eigene Unfähigkeit verendet; der Abstand zwischen Sein und Schein wurde un- überbrückbar und die Menschen haben mit mutigem Protest die waffen- starrenden Machthaber überwunden.

Langer Weg der Reform nötig

So erfolgreich diese demokratische Revolution auch war, so dornenreich erweist sich der lange Prozeß der jetzt notwendigen Reformen. Die Einig- keit im Kampf gegen die Tyrannen weicht dem Streit um den richtigen Weg in der Demokratie. Nun gehört die Auseinandersetzung über politische Ziele zum fruchtbarsten Teil des demokratischen Prozesses, vorausgesetzt sie vollzieht sich im Rahmen akzeptierter Spielregeln und in gefestigten Strukturen. Beides ist jedoch in Südosteuropa noch nicht vorhanden.

Des-halb ist dieser Prozeß schmerzhafter und langsamer als nötig und wohl auch möglich. Nach der erzwungenen Harmonie in vermeintlicher Gleich- heit suchen viele Menschen ihre Identität zunächst in der nationalen oder politischen Abgrenzung, die immer ein kräftezehrendes Gegeneinander bedeutet und oft sogar in offenen Kampf mit nackter Gewalt mündet. M it- ten in Europa gibt es wieder Krieg, Bürgerkrieg und Instabilität. Es fehlt an einer internationalen Feuerwehr, die vielen Brandherde wirkungsvoll zu löschen, und erst recht fehlt es an probaten M itteln, die Brandursachen selbst zu bekämpfen.

Ich bin Optimist genug, um eine jugoslawische Entwicklung nicht für zwangsläufig zu halten. Zumindest müssen w ir alles tun, um beim Weg der friedlichen Reform nach Kräften zu helfen. Das ist leichter gesagt als ge- tan, zumal die Erwartungen der Menschen höher sind als die objektiven Möglichkeiten. Dennoch gibt es für uns um der Betroffenen willen, aber auch aus eigenem politischen Interesse keine Alternative.

Notwendigkeit westlicher Unterstützung

Auch wenn die Aufgabe aufgrund ihrer Dimension fast unlösbar erscheint:

in den Völkern Südosteuropas steckt ein großes Potential kreativer Kraft, die noch gar nicht entfesselt wurde, aber aktiviert werden muß, um den Re- formprozeß zum Erfolg zu führen. Mich erschreckt nicht so sehr, daß der Berg der Probleme kaum beherrschbar scheint. Viel schlimmer ist eine im Westen unterschwellige Haltung, wegen der Größe der Aufgabe lieber gar nichts zu tun, weil man alles ohnehin nicht schafft. Diese A ttitüde soll den- jenigen ein gutes Gewissen beim Verschließen der Augen geben, die das Mögliche nicht tun wollen. Ich persönlich finde es weniger entmutigend als faszinierend, daß die westlichen Staaten bei diesem Reformprozeß mitge- fordert werden. Es ist eine Jahrhundertaufgabe mit zivilen Friedenszielen;

ein Wandel zum Besseren, nachdem w ir alle so lange Zeit gezwungen wa- ren, Sicherheitspolitik vor allem militärisch zu definieren.

Dabei ist klar: Jedes Volk muß seinen Weg selbst bestimmen. Es gibt kei- ne allgemeingültigen Rezepte für den Staatsaufbau und die soziale Infra- struktur. Traditionen, Mentalitäten, Möglichkeiten und Ressourcen sind von Land zu Land verschieden, und grundlegende Systementscheidungen sind ohnehin immer Kosten/Nutzen-Abwägungen, die jeder für sich selbst anders beantwortet. Die westlichen Demokratien sind dabei als Ratgeber ihrer östlichen Nachbarn gefragt, nicht als Besserwisser, deren Entschei- dung an die Stelle des Votums der Betroffenen tritt.

Es ist nicht nur privat H ilfe notwendig, sondern auch die der westlichen Staatengemeinschaft. Dies ist umso wichtiger, als allerlei Glücksritter in Osteuropa unterwegs sind, die zuweilen Unerfahrenheit und

Gutgläubig-keit schamlos zu ihrem persönlichen Vorteil ausnutzen. Was die Reform- Staaten indes brauchen sind seriöse Partner mit langfristigen Interessen - auch im Bereich privater Unternehmen. Deshalb ist es gut, funktionieren- de Informationsstränge zu den westlichen Administrationen aufzubauen.

Sie können zudem dabei helfen, die im Umbruch befindlichen und verunsi- cherten Verwaltungen der Reformstaaten mit dem erforderlichen Know- how auszustatten. In Staaten, die einen so grundlegenden Wandel zu bewältigen haben, ist eine effizient arbeitende öffentliche Verwaltung überlebensnotwendig für den Reformprozeß. Sie ist der erforderliche Sta- bilitätsanker in einer Zeit, in der alle anderen Werte und Strukturen aus dem Gleichgewicht geraten sind. Politisches System, Rechtsordnung, ge- sellschaftliche Organisationen, Wirtschaft, Sozialsystem, Eigentumsver- hältnisse - alles ist gleichzeitig einer grundsätzlichen Veränderung unter- worfen. Hinzu kommt in vielen Bereichen eine personelle Diskontinuität bei den Entscheidungsträgern, wobei natürlich nicht nur politisch

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stete Ä m ter verlieren, sondern oft auch die einzigen Träger administrati- ver Erfahrung.

Soziale Flankierung als Erfolgsvoraussetzung für Reform

Die politische und ökonomische Neuorientierung der Reformstaaten wird begleitet durch große Verunsicherung der Bürger. Sie befinden sich trotz gewohnter Umgebung in einer völlig neuen Welt, die zwar bessere Chan- cen eröffnet, aber auch vertraute Sicherheiten zerstört. Dies betrifft vor al- lem das soziale Umfeld. Denn für die Menschen war in den kommunisti- sehen Systemen auf einem zwar niedrigen Niveau doch umfassend gesorgt.

Arbeitsplätze waren für den Einzelnen sicher, auch wenn die A rbeit mehr Pflicht als Neigung und die Form der Beschäftigung oft Beweis für ver- steckte Arbeitslosigkeit war. Die Gesundheitsversorgung war für den ein- zelnen kostenlos, wenngleich auf einem Niveau, dem sich westliche Patien- ten nie aussetzen möchten. Wohnungen waren billig, wenn auch rar und oft von einer Qualität, die selbst bei Neubauten schlecht war und in älteren Gebäuden jenseits der Zumutbarkeitsgrenzen lag; vom allgemeinen Phä- nomen des rasanten Substanzverfalls aller mit mangelhaften Materialien errichteten Bauwerke ganz abgesehen.

Vor allem wurden die Menschen in einem umfassenden Sinne betreut:

Ihnen wurden einerseits viele persönliche Entscheidungen abgenommen, andererseits viel Initiative und Ausdauer beim Erwerb des Selbstverständ- liehen abverlangt. Heute zerbricht mit dem alten Regime auch das bis- herige soziale System. Es gibt keine funktionierende Arbeitsverwaltung, die den sich rasch vermehrenden Arbeitslosen wirkungsvolle Hilfe lei- sten können. Ein unserer Sozialhilfe vergleichbares Auffangnetz existiert

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nicht. Die schon in der kommunistischen Zeit in das soziale Abseits ge- drängten alten Menschen geraten angesichts der bedrohlichen Finanzent- wicklung und hohen Inflation weiter an den Rand der Gesellschaft. Das Gesundheitssystem ist bankrott; oft fehlt es an der notwendigsten Grund- ausstattung. Behinderte, die im Sozialismus ein kümmerliches Dasein fri- sten mußten, warten noch immer auf Besserung.

Die ohnehin verbreitete Unsicherheit wegen des allgemeinen

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bruchs paart sich mit persönlichen Angsten im Hinblick auf die eigene Le- benssituation. Der ökonomisch richtige Hinweis, daß nur rentable A r- beitsplätze auf Dauer sicher sind, hilft dem einzelnen in keiner Weise, wenn er zusammen mit tausenden Kollegen den Arbeitsplatz in einem Großkombinat verliert, ohne irgendeine greifbare Alternative oder auch nur eine hinreichende finanzielle Absicherung zu haben. Gerade weil Här- ten unvermeidbar sind, ist die soziale Flankierung des Reformprozesses unabdingbar. Noch ist das Wissen um die Schrecken der Vergangenheit frisch; das gibt der marktwirtschaftlichen Demokratie aber nicht mehr als einen Vertrauensvorschuß. Wird er nicht eingelöst, kann die Stimmung schnell umschlagen in Nostalgie, Resignation oder Wut. A lle Alternativen wären gleichermaßen verheerend für die künftige Entwicklung.

Hilfe im Interesse des Westens

Dabei wäre es zu kurzsichtig, Gefahren nur für die osteuropäischen Staa- ten selbst zu sehen. Die Probleme können leicht überschwappen in das bisher behütete westliche Europa. Eine Umfrage der EG in zehn mittel- und osteuropäischen Ländern ergab, daß rd. 13 M illionen Menschen nach Westeuropa auswandern wollen. Aber das Potential ist nach oben offen. Je schlechter die Perspektiven, desto größer der Migrationsdruck. Dies gilt um so mehr, als in M ittel- und Osteuropa viele nationale Minderheiten sich ohnehin veranlaßt sehen, ihre angestammten Siedlungsgebiete zu verlas- sen. Wer die gewohnte Umgebung hinter sich lassen muß, ist leichter т о - tiviert, sich westliches Wohlstandsniveau dort zu suchen, wo es schon existiert. Jede Auswanderungswelle belastet aber Herkunfts- wie Aufnah- meländer gleichermaßen. Die südosteuropäischen Staaten deshalb, weil vor allem mobile, flexible und auch qualifizierte Personen gehen, die für den Aufbau des eigenen Landes nötig wären. Und die westeuropäischen Staaten sehen sich unter Druck, weil ihre Aufnahmefähigkeit höchst be- grenzt und heute schon erreicht ist.

Die Bundesrepublik Deutschland ist bisher der Hauptträger finanzieller Hilfsmaßnahmen für M ittel- und Osteuropa. Aber auch die anderen Staa- ten der EG und die übrigen führenden Wirtschaftsnationen erkennen zu- nehmend, daß sie ebenfalls - aus eigenem Interesse - gefordert sind. Ein

Rückschlag der Reform politik hätte weitreichende politische, auch sicher- heitsrelevante Folgen mit unabsehbaren finanziellen Konsequenzen. Des- halb muß es eine internationale Verantwortungsgemeinschaft geben, die auch die sozialpolitischen Dimensionen einzubeziehen hat. Denn die so- ziale Flankierung der Reformen ist conditio sine qua non für ihren Erfolg.

Schwerpunkte deutscher sozialpolitischer Kooperation

Die Forderung nach internationaler Koordination und gemeinschaftlicher Anstrengung ist kein A lib i; sie darf aber notwendige H ilfe nicht verzögern.

Deshalb hat Deutschland den Umbruch in Osteuropa von Anfang an poli- tisch unterstützt. Hierbei ging es im Bereich der Sozialpolitik um drei zen- trale Aufgaben.

- Unterstützung beim Aufbau einer völlig neuen sozialen Infrastruktur, vor allem bei der funktionsfähigen Arbeits- und Sozialverwaltung, aber auch bei der raschen Weiterentwicklung der Einrichtungen der gesund- heitlichen Versorgung.

- H ilfe bei der Verabschiedung neuer arbeits- und sozialrechtlicher Ge- setze - vor allem als neue Grundlagen für die Beschäftigung, die A r- beitsförderung und die soziale Sicherung bei Arbeitslosigkeit. Es geht um die Verzahnung marktwirtschaftlicher und sozialer Elemente von Anbeginn.

- Besonders wichtig ist die Schaffung neuer Gewerkschafts- und Arbeit- geberstrukturen. Die alten kommunistischen Gewerkschaften verdien- ten diesen Namen nicht und waren Erfüllungsgehilfen des repressiven Staates. Freie Gewerkschaften sind hingegen Träger der sozialpoliti- sehen Innovation in einer Verantwortungsgemeinschaft mit den Arbeit- gebern. Da private Arbeitgeber aber erst entstehen und mithin deren Organisationen noch in den Kinderschuhen stecken, sind die Vorausset- zungen für den Abschluß von tariflichen Vereinbarungen völlig unter- entwickelt.

Bei den drei genannten Aufgaben kann Deutschland auf große Erfah- rung und gute Erfolge verweisen. Dies ist in den Reformstaaten bekannt;

deshalb ist deren Interesse an diesen deutschen Erfahrungen groß.

Kooperationsabkommen

In Südosteuropa gibt es auf der Grundlage von Ressortvereinbarungen zwischen dem Bundesarbeitsministerium und den entsprechenden Part- nerministerien eine sozialpolitische Beratungshilfe für Rumänien, Bulga- rien, Slowenien, Kroatien und Albanien. Darüber hinaus sind in die

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Kooperation auch die mittel- und osteuropäischen Staaten Tschechoslowa- kei, Polen, die baltischen Staaten, Rußland und die Ukraine einbezogen.

Neben dem Austausch von Informationsmaterial sehen die Kooperati- onsvereinbarungen vor allem die Beratung und Fortbildung von Fachleu- ten in den Reformstaaten vor, außerdem die gezielte Entsendung deut- scher Experten, die Erarbeitung politischer Expertisen, die Förderung der Kooperation von Forschungsinstitutionen sowie als besonderer Schwer- punkt eine Unterstützung für Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände bei der Herausbildung neuer Sozialpartnerbeziehungen. A u f der einen Seite geht es also darum, Hilfestellung bei der Erarbeitung der politischen Reformziele zu geben, auf der anderen Seite werden modellhafte Einrich- tungen - etwa Arbeitsämter oder Rehabilitationseinrichtungen - geför- dert.

Kooperationsbeziehungen gibt es nicht nur auf ministerieller Ebene.

Die deutsche Seite legt Wert darauf, auch andere Institutionen und Ex- perten in den Erfahrungsaustausch einzubeziehen. Arbeitsverwaltung, Rentenversicherungsträger, Unfallversicherung und Krankenkassen sind ebenso eingebunden wie Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände.

Schwerpunkt Arbeitsverwaltung

Besonderer Schwerpunkt für alle Reformstaaten ist der Aufbau von A r- beitsämtern und einer reorganisierten Arbeitsverwaltung. In enger Zu- sammenarbeit mit der Bundesanstalt für Arbeit werden unsere admini- strativen und instrumentellen Erfahrungen weitergegeben. Dies geschieht im Rahmen von Seminaren in Deutschland oder durch Expertentreffen in den Reformstaaten selbst. Allein in diesem Bereich wurden 1992 rd.

1000 Experten geschult. Da sich die neuen Strukturen einer Arbeitsver- waltung nicht in einem rechtlichen Vakuum vollziehen können, geben deutsche Experten auch Hinweise auf die erforderlichen gesetzlichen Grundlagen.

So wenig Deutschland hierbei darauf drängt, seine Strukturen zu expor- tieren, so wichtig ist doch die in jahrelanger Praxis gewachsene Erkenntnis, eine Arbeitsverwaltung nicht nur als Arbeitsvermittlung und Zahlstelle für Arbeitslosengeld zu organisieren, sondern von Anbeginn Instrumente zur Reintegration Arbeitsloser in den Arbeitsmarkt vorzusehen. Hier ist die Palette der deutschen Erfahrungen - berufliche Qualifizierung, A r- beitsbeschaffungsmaßnahmen, Existenzgründungshilfen usw. - vor allem vor dem Hintergrund der Entwicklung in Ostdeutschland hilfreich. In den

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neuen Bundesländern vollzieht sich der Übergang von einer verstaatlich- ten Planwirtschaft hin zur Marktwirtschaft mit allen Arbeitsmarktfolgen in großer Geschwindigkeit. Für die Reformstaaten ist es sehr wertvoll,

un-sere arbeitsmarktpolitischen Strategien - ihre Erfolge und ihre Mängel - kennenzulernen und hieraus eigene Schlußfolgerungen zu ziehen.

Auch Sozialpartner gestalten Sozialpolitik

Bei unserer Beratungstätigkeit legen w ir großes Augenmerk auf die Tatsa- che, daß der Staat allein die sozialpolitische Verantwortung nicht tragen kann. Löhne, Arbeits־ und Wirtschaftsbedingungen werden in Deutsch- land ganz wesentlich von den Tarifvertragsparteien in eigener Verantwor- tung bestimmt. Die Sozialpartnerschaft hat bei uns eine gute und lange Tradition, die sich auch in den Strukturen der Sozialversicherung wider- spiegelt: ln den Selbstverwaltungsorganen haben neben dem Staat auch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände Sitz und Stimme. Hinzu kom- men vielfältige Beteiligungsrechte der Betriebsräte, die für einen Interes- senausgleich auf der Unternehmensebene sorgen.

In Südosteuropa sind die sozialpartnerschaftlichen Strukturen noch we- niger entwickelt als die neue politische Ordnung. Aber ihre Bedeutung ist damit nicht geringer. Ihnen kommt eine große Verantwortung und eine so- ziale Befriedigungsfunktion zu, weshalb der Wunsch nach Hilfestellung für diese Organisationen mit besonderem Nachdruck vorgetragen wird. Be- merkenswert - aber nur scheinbar paradox - ist, daß Gewerkschaften die

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Notwendigkeit starker und zur Übernahme von Verantwortung bereiter Arbeitgeberverbände besonders hervorheben, und daß die Arbeitgeber- seite besonders an effizienten Gewerkschaftsstrukturen interessiert ist.

Man braucht das Gegenüber als Verhandlungs- und Vertragspartner, und man erkennt zunehmend die große Bedeutung beider Sozialpartner bei der Strukturierung und Organisation marktwirtschaftlicher Abläufe.

Daneben ist der Aufbau eines sozialen Sicherungssystems erforderlich, das die Gesundheitsversorgung der gesamten Bevölkerung garantiert, den Lebensunterhalt im A lte r dauerhaft finanziert und für Personen ohne aus- reichende eigene Einkünfte das Existenzminimum sichert. Die neue sozia- le Infrastruktur muß nicht nur effizienter sein als das Bisherige, also seine Mängel vermeiden, sondern sich zugleich in ein marktwirtschaftliches Sy- stem und in einen demokratischen Staat einfügen. Es geht um die Kombi- nation von notwendiger solidarischer Absicherung bei gleichzeitiger An- erkennung individueller Verantwortung für das eigene Leben; dieser Balanceakt sollte von Anfang an Strukturelement der neuentstehenden Sozialsysteme sein, die außerdem nationale Traditionen gleichermaßen aufnehmen müssen wie sie die potentielle Hinentwicklung auf eine stärke- re europäische Integration erlauben sollten.

Das in Deutschland seit einem Jahrhundert in allen Höhen und Tiefen unserer Geschichte bewährte System einer beitragsfinanzierten

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sehen Absicherung hat für die Reformstaaten hohe A ttra ktivitä t. Es hat in Deutschland einen international einmalig hohen sozialen Standard ge- schaffen, und es sieht eine automatische Kopplung an die wirtschaftliche Entwicklung und Leistungsfähigkeit vor. Es vermeidet die Gefahr ökono- mischer Überforderung, wodurch die Kuh geschlachtet würde, auf deren Milch man künftig angewiesen ist.

Natürlich gibt es viele Unterschiede zwischen Deutschland und Südost- europa, auch zwischen den Reformstaaten selbst. Bei uns diskutieren wir heute über die letzten Facetten, die unseren Sozialstaat komplettieren soll- ten. In Südosteuropa geht es um die grundlegenden Strukturen. Dennoch ist es wichtig, ein für Neuerungen offenes System zu schaffen. Unser deut- scher Sozialstaat ist nicht perfekt, er wird auch nie fertig sein. Er ist Be- standteil einer sich dynamisch verändernden Gesellschaft, die auch ihren Sozialsystemen Flexibilität abverlangen muß. Trotz mancherlei Verkru- stungen, die uns heute Mühe machen beim Setzen neuer sozialpolitischer Prioritäten: unser System hat über die Jahrzehnte seine Innovationsfähig- keit immer wieder bewiesen.

Die A ttra ktivitä t des deutschen Sozialsystems beruht neben seiner, bei aller notwendigen D etailkritik, im internationalen Vergleich sehr guten Effizienz vor allem auf seiner hohen Akzeptanz: In Deutschland wissen die Bürger, daß ihnen bei Krankheit unabhängig von ihrem Einkommen eine gute ärztliche Behandlung garantiert ist. Sie wissen, daß im A lte r über die Rente ein angemessener Lebensstandard gesichert wird. Sie wissen, daß der einzelne bei Arbeitslosigkeit eine vernünftige finanzielle Absicherung und vielfältige Hilfen zur Reintegration in das Arbeitsleben erhält. Sie ha- ben durch ihre Beiträge zur Sozialversicherung aber zugleich ein direktes Empfinden für die Finanzierungsseite, für die Kosten des Sozialstaates.

Schließlich garantiert die gemeinsame Aufbringung der Beiträge durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber, daß beide Seiten Mitverantwortung im System der sozialen Sicherung tragen.

Nicht die oft zufällig entstandenen Einzelheiten unseres Sozialsystems sind für die Reformstaaten interessant, sondern seine Grundprinzipien.

Sie haben den Vorzug, auch auf Gesellschaften mit anderem Entwick- lungsstand übertragbar zu sein. Das Sozialleistungsniveau kann dann Schritt für Schritt mit der politischen und ökonomischen Entwicklung wachsen. Auch wenn die Wünsche der Menschen nicht allzu schnell in Er- füllung gehen: es gäbe doch eine Perspektive auf Besserung im eigenen Land. Und dies ist die Grundvoraussetzung dafür, die eigenen Kräfte ent- falten zu können.

Pari Staatssekretär W ilhelm Ra we, M dB

Bundesministerium für Post und Telekom m unikation, Bonn