• Keine Ergebnisse gefunden

2. Professionssoziologische Perspektive als Analyseinstrument

2.1 Soziologische Professionsforschung

Historisch betrachtet sind Professionen gesellschaftliche Institutionen, die im Übergang von Vormoderne zu Moderne als Reaktionen auf spezifische Prob-leme der modernen Gesellschaft (z.B. Komplexitätssteigerung, Wissensdiffe-renzierung, Anonymisierung etc.) entstanden sind. Aufgrund ihres Potenzials zur Lösung spezifisch mit der Moderne verbundener Probleme wurden sie zu herausgehobenen, berufsförmig organisierten und für die moderne Gesell-schaft besonders relevanten Tätigkeitskomplexen verdichtet (Schmidt 2008, S. 837f.). Dahinter verbirgt sich die Überlegung, dass ein bedeutsames Mo-ment gesellschaftlicher Selbsterhaltung darin besteht, zentrale Probleme stabilen dauer- und musterhaften Lösungen zuzuführen und dadurch Struktu-ren trotz stetigem Wandel aufrechtzuerhalten. Im Zuge der AusdiffeStruktu-renzie- Ausdifferenzie-rung von Gesellschaften werden zentrale Bereiche der gesellschaftlichen Selbsterhaltung (z.B. Erziehung, Medizin, Religion, Recht etc.) zunehmend spezialisierten Institutionen mit speziell ausgebildetem und daher in besonde-rer Weise qualifiziertem und berufsförmig organisiertem Personal übertragen (Schmidt 2008, S. 835). Aus Sicht der Wissenssoziologie (vgl. dazu auch Kap. 2.4.) erwächst daher Professionalität grundsätzlich aus der Verknüpfung zweier Entwicklungsstränge: Erstens aus der zunehmend berufsförmigen Organisation von Arbeit im Sinne einer langfristigen und exklusiven Aus-übung einer spezialisierten Tätigkeit zur Sicherung des Lebensunterhalts.

Zweitens aus der fortschreitenden Differenzierung und Systematisierung des Wissens, die abgesonderte Wissensbereiche mit einer gewissen Autonomie ihrer inneren Sinnstruktur gegenüber anderen Wissensbereichen, mit einer eigenen Methodik und Pädagogik hervorbringt (Schütz/Luckmann 1979).

Im Hinblick auf dieses grundlegende moderne Phänomen der Professio-nen hat sich in den letzten Jahrzehnten in den USA und in Europa eine weit verzweigte professionssoziologische Forschungslandschaft mit einer großen Vielfalt von Publikationen etabliert (Schmeiser 2006, S. 295), weshalb sich die Professionssoziologie als Teildisziplin der Soziologie42 durchsetzen _______________________

42 Teildisziplinen werden auch als spezielle Soziologien oder sogenannte Bindestrich-Soziologien bezeichnet und sind unter Anwendung der Begriffe und Theorien der allgemei-nen Soziologie und der Methoden der empirischen Sozialforschung auf die Erforschung einzelner sozialkultureller Bereiche ausgerichtet. Je nach Komplexität ihres Gegenstandsbe-reichs und je nach ihrem wissenschaftlichen Entwicklungsniveau sind sie z.T. wiederum in spezielle Soziologien aufgefächert. Oft folgt die Entfaltung einer speziellen Soziologie erst

te. In der Betrachtung dieses Forschungsfeldes muss notwendigerweise zwi-schen der anglo-amerikanizwi-schen und der deutschsprachigen Soziologie unter-schieden werden, weil divergierende gesellschaftliche Entwicklungen der jeweiligen Kulturkreise Gegenstand und Begrifflichkeiten geprägt haben und von daher unterschiedliche Bedeutungen aufweisen (vgl. Kap. 2.2.). 43

Für diese Unterscheidung wesentlich sind zwei heterogene Formen von Professionalisierungsprozessen (Mieg 2005, S. 342): In England und in den USA haben sich die typischen Professionen (‚professions‘) wie z.B. Juristen und Ärzte aus sich selbst heraus entwickelt und über die Zeit eine starke gesellschaftliche Stellung und damit Autonomie erlangt (‚bottom-up-Prozess‘). Diese Autonomie äußert sich in der Kontrolle über Arbeitsbedin-gungen wie der Definitionsmacht für die Berufsausübung, der Kontrolle über den Marktzutritt sowie in der Macht über Definition, Organisation und Be-wertung bestimmter professioneller Leistungen (Mieg 2003, S. 11f.). In Kon-tinentaleuropa (z.B. Deutschland, Frankreich) wurden hingegen wichtige Berufsgruppen von oben durch staatlich regulierte Ausbildungsgänge und Berufsverordnungen definiert, was mit einem geringeren Ausmaß an Auto-nomie einherging (‚top-down-Prozess‘). Hinzu kommt, dass in der anglo-amerikanischen Berufswelt der Begriff ‚professions‘ für organisierte Berufs-gruppen in Abgrenzung zu den gewöhnlichen Berufen (sogenannte ‚occupa-tions‘) steht (Mieg 2003, S. 11) – eine Art Entsprechung findet er in der deutschsprachigen Arbeitswelt im Begriff der ‚freien Berufe‘.44 Herauszuhe-bende Merkmale dieser freien Berufe sind die persönliche Leistung gekoppelt mit einem schutzwürdigen Vertrauensverhältnis zu den Klienten, die selbst-ständige, weisungsungebundene Arbeit sowie die Bindung an spezielle ge-setzliche Rahmenbestimmungen. Obwohl sich diese Merkmale auch in der anglo-amerikanischen Diskussion um die ‚professions‘ wiederfinden, ist der Begriff ‚freier Beruf‘ für die Charakterisierung von Professionen nicht hin-reichend und bildet daher kein Äquivalent für den Begriff ‚professions‘

(Mieg 2005, S. 346). Diese Tatsache kann erklären, warum in der ________________________________________________

verspätet dem gestiegenen Problemdruck in dem jeweiligen Lebensbereich. (Hillmann 2007, S. 846)

43 Schützeichel (2007, S. 551) spricht in diesem Zusammenhang von einem angloamerikani-schen und einem kontinentaleuropäiangloamerikani-schen „Professionalisierungspfad“.

44 Der Berufsverband der Freien Berufe (BfB 2011a, o.S.) definiert: „Angehörige freier Berufe erbringen auf Grund besonderer beruflicher Qualifikationen persönlich, eigenver-antwortlich und fachlich unabhängig geistig-ideelle Leistungen im Interesse ihrer Auftrag-geber und der Allgemeinheit. Ihre Berufsausübung unterliegt in der Regel spezifischen be-rufsrechtlichen Bindungen nach Maßgabe der staatlichen Gesetzgebung oder des von der jeweiligen Berufsvertretung autonom gesetzten Rechts, welches die Professionalität, Quali-tät und das zum Auftraggeber bestehende Vertrauensverhältnis gewährleistet und fortentwi-ckelt.“ Er unterscheidet heute vier Kreise von freien Berufen: 1. Heilkundliche Berufe (z.B.

Ärzte, Apotheker, Krankenpfleger etc.), 2. Rechts-, Wirtschafts- und Steuerberatende Beru-fe (z.B. Rechtsanwälte, WirtschaftsprüBeru-fer etc.), 3. Technische BeruBeru-fe (z.B. Architekten, In-genieure etc.) und 4. Kulturberufe (z.B. Psychologen, Journalisten etc.) (BfB 2011b, o.S.).

sprachigen Professionssoziologie nur selten die historischen und gesetzlichen Bestimmungen von freien Berufen aufgegriffen werden (Mieg 2005, S.

346f.).

Während in der anglo-amerikanischen Entwicklung erst in den 1920er Jahren im Verbund mit übergeordneten staatlichen Organen eine Standardi-sierung der Ausbildung und eine Normierung der Zulassung erreicht werden konnte, nahm der Staat in Kontinentaleuropa von Anfang an Einfluss auf die Struktur und die Inhalte der Ausbildung und auf die Verfahren, mit denen die Professionsvertreter rekrutiert wurden (Schützeichel 2007, S. 552). Hier übernahmen die Professionen eine führende Funktion im Modernisierungs-prozess und der Staat gab ihnen die Möglichkeit einer ständischen Reproduk-tion. Darüber hinaus standen in Kontinentaleuropa die Professionen von Beginn an in sehr engem Konnex mit dem universitären Ausbildungssystem (Kopplung von Professionen an gewisse Fakultäten der Universität), während sich im anglo-amerikanischen Raum die professionelle Ausbildung bis in das frühe 19. Jahrhundert nicht an den Universitäten, sondern im Rahmen einer praktisch-korporativen Lehre vollzog (Schützeichel 2007, S. 551f.). Für die kontinentaleuropäischen Professionen war schließlich im 19. Jahrhundert die Umgestaltung des Universitätssystems hin zur disziplinären Ausdifferenzie-rung der Anwendungswissenschaften (im Gegensatz zu den Grundlagenwis-senschaften) prägend. Aus diesen Entwicklungen resultierten sehr unter-schiedliche Professionalisierungspfade unterunter-schiedlicher Professionen (Schützeichel 2007, S. 553).

Trotz dieser Unterschiede kam es zu gegenseitigen Beeinflussungen und Wechselwirkungen der beiden Diskursstränge, was eine strikte Separierung unmöglich macht. Gemeinsam ist beiden, dass in der Analyse zwischen den klassischen Professionen (Mediziner, Juristen, Theologen etc.) und jüngeren Professionen (Sozialarbeiter, Ingenieure, Betriebswirte, Psychologen etc.) unterschieden werden muss (Brint 1996 in: Schützeichel 2007, S. 554). Wäh-rend jedoch die anglo-amerikanische Professionssoziologie mit der Erörte-rung von Werdegang und Stand verschiedener ‚professions‘ in den 1930er Jahren ihren Anfang fand (Mieg 2003, S. 12)45 und sich seit den 1950er Jah-ren bis heute eine intensive Diskussion um ‚professions‘ nachzeichnen lässt (Schmeiser 2006, S. 301), wurde die Professionssoziologie im deutschspra-chigen Raum lange als Teilgebiet einer im Kanon soziologischer Spezialisie-rungen randständigen Berufssoziologie verortet.46 Eine relative Hochphase _______________________

45 Vgl. dazu: Carr-Saunders, Alexander; Wilson, Paul Alexander (1933): The Professions.

Oxford: Oxford University Press.

46 Diese historisch gewachsene Verortung hat ihre inhaltliche Begründung: Die Berufssozio-logie, die den Beruf in den Mittelpunkt der Bestimmung der sozialen Lage der Menschen in Industriegesellschaften stellte (Hillmann 2007, S. 86f.), brachte schließlich als Spezialge-biet und in der Auseinandersetzung mit der anglo-amerikanischen Diskussion um die ‚pro-fessions‘ die Professionssoziologie hervor. Die Berufssoziologie wiederum kann als spe-zielle Soziologie der Arbeitssoziologie angesehen werden, welche sich in weitere

Teilge-der Debatte lässt sich hier auf die 1950er bis in die 1970er Jahre datieren (Sektion Professionssoziologie der DGS 2011a, o. S.). Beide Entwicklungsli-nien werden jedoch zunehmend von der „europäischen Harmonisierung“

überlagert, welche auch Großbritannien mit einbezieht (Mieg 2003, S. 42f.).

Erwartet wird eine langfristige Angleichung von Formen der Berufsausübung in Europa und damit verbunden potentiell steigende Einflussmöglichkeiten internationaler Vereinigungen von Berufsgruppen.

Insgesamt ist in der Entwicklung der soziologischen Professionsfor-schung eine Hinwendung zum Begriff der Professionalisierung auszumachen (vgl. Kap. 2.2.), wodurch das lange vorherrschende statische Professionsver-ständnis erweitert und der Blick auf Prozesse sozialen Wandels gerichtet wird (Sektion Professionssoziologie der DGS 2011a, o.S.). Als Prozesse sozialen Wandels können in diesem Kontext beispielsweise die Herausbildung von Professionen oder die Entwicklung von Berufen zu Professionen verstanden werden. Mit Blick auf diese Perspektive gründete sich 1997 ein informeller Arbeitskreis „Professionelles Handeln“, in dem eine disziplinübergreifende Zusammenarbeit von Soziologen, Erziehungswissenschaftlern, Psychologen, Politikwissenschaftlern, Kommunikationswissenschaftlern und Wirtschafts-wissenschaftlern aus Deutschland, Österreich und der Schweiz stattfand.47 Diese Veränderung des Blickwinkels ist auch für die professionssoziologi-sche Analyse der Entwicklung der Sozialen Arbeit von entprofessionssoziologi-scheidender Be-deutung (vgl. Kap. 3.): Mit der zunehmenden Ablösung von einem statischen ________________________________________________

biete wie z.B. die Industrie-, Betriebs- oder Agrarsoziologie auffächert und allgemein ge-fasst die soziale Dimension des Arbeitens und der Arbeitssituationen behandelt (Hillmann 2007, S. 45). Detailliertere Ausführungen zur Entstehung der professionssoziologischen Forschung in Deutschland finden sich u.a. bei Schmeiser 2006, S. 299f..

47 Der Arbeitskreis wurde im Jahr 2005 von der Deutschen Gesellschaft für Soziologie e.V.

(DGS) zunächst als Arbeitsgruppe akkreditiert und schließlich im Oktober 2006 als „Sekti-on Professi„Sekti-onssoziologie“ anerkannt. Die Sekti„Sekti-on hält in ihrer Programmatik fest, dass sich die soziologische Professionsforschung „[…] keineswegs erschöpfen kann in Berufssozio-logie, sondern dass Professionalität – allein schon im Rahmen der Soziologie betrachtet –

‚quer‘ liegt zu Problemstellungen etwa der Arbeits-, der Wirtschafts- und der Organisati-onssoziologie, dass sie wenigstens ebenso starke Bezüge aber auch aufweist zur Politischen Soziologie, zur Wissenssoziologie und zur Wissenschaftssoziologie und dass sie natürlich auch vielfältig korrespondiert mit der Soziologie Sozialer Ungleichheiten, der Bildungsso-ziologie, der Biographieforschung usw.“ (Sektion Professionssoziologie der DGS 2011a, o.S.). Wie aus der personalen Zusammensetzung der Sektion ablesbar, haben neben der So-ziologie auch andere Fachdisziplinen jeweils spezifisches Interesse an der Professionsfor-schung und leisten eigene Beiträge (z.B. Geschichtswissenschaft oder Psychologie). Da sich die interdisziplinäre Zusammenarbeit der einzelnen Fachdisziplinen noch in den An-fängen befindet, plädiert Mieg (2003, S. 44ff.) dafür, in der Analyse von Professionen ne-ben der soziologischen Dimension immer auch die historische, die rechtliche, die politi-sche, die ökonomische und die psychologische Dimension zu berücksichtigen. Fruchtbar werde der Forschungsaustausch jedoch erst dann, wenn es „Brückenhypothesen und Brü-ckenkonzepte“ gebe. Als Beispiel nennt er Professionalisierung als Brückenkonzept zur Geschichtswissenschaft oder Arbeitsmarkt als Brückenkonzept zur Ökonomie (Mieg 2003, S. 46).

Professionsverständnis und damit von der klassischen Professionalisierungs-diskussion wurde der Weg frei für neue und weitergehend auch eigenständige Professionsmodelle der Sozialen Arbeit.

Mieg (2003, S. 43f.) konstatiert darüber hinaus eine methodisch-empirische Herausforderung an die deutschsprachige Professionssoziologie.

Aufgrund der unterschiedlichen Erklärungsansätze im Kontext von Professi-onen (vgl. Kap. 2.3.) und der Tatsache, dass das Phänomen der ProfessiProfessi-onen so vielfältige Aspekte aufweist, ist eine Methodenvielfalt unumgänglich. Je nach Ansatz werden andere Methoden zum Analyseinstrument wie bei-spielsweise das biographische Interview, die ethnographische Fallstudie, die Textanalyse oder die Sequenzanalyse im Sinne der objektiven Hermeneutik.

Von großer Methodenvielfalt zeugen auch aktuelle Veröffentlichungen aus dem professionssoziologischen Diskurs (vgl. Kap. 2.4.1.).

Die aufgezeigten Voraussetzungen und Besonderheiten der soziologi-schen Professionsforschung sind – gekoppelt mit der Fülle von heterogenen (gesellschafts-) theoretischen Positionen innerhalb der Professionssoziologie (vgl. Kap. 2.3.) – der Grund für die existierende Vielfalt an Definitionen des Gegenstandes und gegenstandsnaher Begrifflichkeiten. Sie bildet die begriff-liche Grundlage für die Analyse der Entwicklung der Sozialen Arbeit aus professionssoziologischer Perspektive (Kap. 3).