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1. Soziale Arbeit als wissenschaftlich fundierte Praxis

1.2 Soziale Arbeit als integrative Handlungswissenschaft

Wie alle anderen Wissenschaftsdisziplinen auch, ist die Soziale Arbeit als relativ autonome Wissenschaftsdisziplin mit anderen Wissenschaften vernetzt und auf Kooperation mit ihnen sowie gegenseitige Unterstützung angewie-sen. Dabei geht es darum, als gleichwertige Partner der Entstehung sozialer Probleme vorzubeugen und bestehende – immer komplexer werdende – sozi-ale Probleme zu bewältigen. Die Wissenschaftsdisziplinen, die eng mit ande-ren Wissenschaftsdisziplinen verbunden sind nennen Engelke et al. (2009, S.

299) „Bezugswissenschaften“: Dabei verstehen die Autoren unter ‚Bezugs-wissenschaften‘ solche Wissenschaften, die einen gemeinsamen Bezug haben – dieser kann aber ganz unterschiedlich aussehen: gemeinsames Materialob-jekt, Teile des Formalobjekts überschneiden sich, Erkenntnisinteressen stim-men überein, Verwendung derselben Forschungsmethoden, etc..24 Engelke et al. (2009, S. 300ff.) betonen, dass in den Wissenschaften zunehmend die Notwendigkeit zum interdisziplinären, auf die Lösung komplexer Systeme _______________________

24 Der Begriff ‚Bezugswissenschaften‘ kann damit als eine Wortschöpfung identifiziert wer-den, die aus der Sozialen Arbeit stammt. Obwohl der Begriff nicht unumstritten ist, wird er aufgrund seiner Popularität in der Fachwelt der Sozialen Arbeit auch in dieser Arbeit ver-wendet.

gerichteten Forschungshandeln entdeckt und praktiziert wird. Ihr Resümee eines Vergleichs ist, dass Soziologie, Ethik, Rechtswissenschaft, Pädagogik, Psychologie, Biologie, Medizin, Ökonomie, Politikwissenschaft, Geschichte, Philosophie und Theologie zur Gruppe der ‚Bezugswissenschaften‘ der Sozi-alen Arbeit gehören, da sie sich alle in irgendeiner Form mit dem Bearbeiten sozialer Probleme befassen. Dabei ist die große Zahl an ‚Bezugswissenschaf-ten‘ kein Spezifikum der Sozialen Arbeit, andere Wissenschaften wie z.B. die Medizin zeigen dasselbe Bild. Folglich ist die Wissenschaft Soziale Arbeit nicht monodisziplinär verfasst, sondern sie konstituiert sich aus den Beiträ-gen unterschiedlicher Fächer sowie deren Perspektiven und Methoden. Der Sozialen Arbeit kommt dabei eine integrierende Funktion zu: Sie ist der wis-senschaftliche Ort, an dem die unterschiedlichen Perspektiven zusammenge-führt werden und wo sich zeigt, dass die Wissenschaft Soziale Arbeit mehr ist, als die rein additive Kompilation von Wissensbeständen und Methoden.

Von großer Bedeutung ist hierfür der inter- bzw. transdisziplinäre Dialog aller beteiligten Fächer – er ist orientiert an der gemeinsamen Zielsetzung der die Soziale Arbeit trotz der Vielfalt und Heterogenität verpflichtet ist (For-malobjekt) sowie an der Schaffung von Handlungskompetenz (KatHO NRW, Abteilung Köln 2012, S. 1).

Die Begriffe Interdisziplinarität und Transdisziplinarität können dabei als Modelle der Verknüpfung einer Wissenschaft mit ihren ‚Bezugswissenschaf-ten‘ verstanden werden:25 Nach Engelke et al. (2009, S. 49-50) besagt Inter-disziplinarität, dass Vertreter mehrerer Wissenschaftsdisziplinen mit ver-schiedenen Fragestellungen (Formalobjekt) den gleichen Gegenstandsbereich (Materialobjekt) erforschen, sich über ihre Erkenntnisse austauschen, sich ergänzen und ihre Erkenntnisse vernetzen, um zu einer tragfähigen Synthese verschiedener Methoden und Einzelerkenntnisse zu gelangen. Transdiszipli-narität gleiche der InterdiszipliTransdiszipli-narität mit dem Unterschied, dass grundsätz-lich gemeinsam geforscht wird (Engelke et al. 2009, S. 50). Büchner (2012, S. 23), die sich intensiv mit Sozialer Arbeit als transdisziplinärer Wissen-schaft und den dazu vorhandenen Modellen auseinandergesetzt hat, ergänzt:

„Transdisziplinarität stellt im weitesten Sinne ein Arbeitsprinzip dar, mit dem diszipli-när verfasste Wissenschaft sich der Bearbeitung komplexer lebensweltlicher Problem-lagen widmet. Auf die Definition der „Problemlage“, dass heißt den Gegenstand wis-senschaftlicher Bemühungen, haben bewusst nicht ausschließlich innerwissenschaftli-che Akteure Einfluss. Transdisziplinarität überwindet mehr noch als Interdisziplinarität disziplinäre Grenzen. […] Häufig geht es neben dem Erklären des Gegenstandes (der spezifischen Problemlage) um die Veränderung desselben. Transdisziplinären Bemü-hungen wohnt deshalb häufig, wenn auch nicht notwendig, ein Veränderungsinteresse inne.“

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25 So existieren noch weitere Modelle wie die Multi- oder die Intradisziplinarität (Engelke et al. 2009, S. 49-50).

Von daher wird die Soziale Arbeit zuweilen auch als Integrationsdisziplin bezeichnet, in der Kenntnisse und Arbeitsweisen verschiedener Disziplinen zusammengeführt werden (Engelke et al. 2009, S. 50).

Wie anhand der inneren Struktur der Wissenschaft Soziale Arbeit bisher gezeigt werden konnte, zentriert sich diese in ihren Elementen Disziplin, Profession und Praxis auf den Aspekt des Handelns: Gegenstand der Diszip-lin sind das Handlungssystem und die Profession, es geht folglich primär um die Klärung lebensweltlicher Probleme. Das Professionswissen steht in seiner Anwendung stets unter Handlungszwang und konstitutiv für die Praxis ist ein eher technologisch inspiriertes Handeln (vgl. Kap. 1.1.2). Darüber hinaus konnten – unter Bezug auf die aristotelische Handlungstheorie – die Tätigkei-ten in der Sozialen Arbeit grundsätzlich als Tätigkeitstypen der Handlung (Aristoteles verwendet dafür den Begriff ‚Praxis‘) identifiziert werden, die bestimmte Merkmale wie beispielweise Personalität, Situationsabhängigkeit, Hyperkomplexität und Unwiederholbarkeit aufweisen. Die aus diesem Tätig-keitstyp der Handlung ableitbaren benötigten Fähigkeiten und Kompetenzen der professionell Tätigen lassen sich mit dem Begriff Handlungskompetenz umschreiben (vgl. S. 39). Was konkret lässt aber nun die Wissenschaft Sozia-le Arbeit zur Handlungswissenschaft und mit Birgmeier/Mührel (2011, S.

103) zu der Handlungswissenschaft schlechthin avancieren? Und was be-zeichnet im Vorgriff der nicht ganz unumstrittene und nicht allgemeingültig bestimmte Begriff der Handlungswissenschaft generell?

Für Birgmeier und Mührel (2011, S. 103ff.) ist der Begriff der Hand-lungswissenschaften abhängig davon, welche Erwartungen, Verständnisse und Logiken an die Wissenschaft im Allgemeinen und auch an die jeweils betrachtete spezifische Wissenschaft im Speziellen verknüpft werden. Sie differenzieren zwei unterschiedliche Verständnisse oder ‚Lesarten‘ einer Handlungswissenschaft, die im Fachdiskurs leider häufig nicht beachtet wür-den26: „einerseits als Wissenschaft, die ein objektives, allgemeingültiges methodologisch erforschtes Wissen über den anthropologisch bestimmbaren Gegenstandsbereich der Handlung (aller Menschen) sammelt; andererseits als Wissenschaft, die Angaben, Vorgaben und Vorschläge für ein (bestimmtes) Handeln von (bestimmten) Menschen […] in der Praxis macht. [Hervorhe-bungen im Original, Anmerk. K.M.]“ (Birgmeier/Mührel 2011, S. 104f.) Diese zweifache Sichtweise von Handlungswissenschaften rühre wissen-schaftstheoretisch daher, dass jede Wissenschaft Ziele bestimmen muss, die sie verfolgt. Grundsätzlich kann dabei unterschieden werden, ob _______________________

26 Als einer der Hauptgründe für das Missverstehen des seit vielen Jahrzehnten genutzten Begriffes Handlungswissenschaft sehen Birgmeier und Mührel (2011, S. 105) die stark ver-kürzende und daher abzulehnende Gleichsetzung der Begriffe Handlung und Praxis. Hand-lungswissenschaften sind demnach Praxiswissenschaften – was jedoch diejenigen ablehnen, die im Begriff der Handlung weit mehr sehen, als lediglich die Erforschung einer konkreten Praxis.

schaften eher praktische oder eher theoretische Erkenntnisse schaffen wollen.

Zielt das Erkenntnisinteresse mehr auf die praktische Umsetzung sowie die Anwendungsrelevanz von Wissen, so kann von ‚angewandten Wissenschaf-ten‘ gesprochen werden; demgegenüber werden Wissenschaften, die vorwie-gend theoretische Erkenntnisse fokussieren, als ‚Grundlagenwissenschaften‘

bezeichnet. Je nach Zielsetzung einer Handlungswissenschaft kann sie des-halb als praktisch-angewandte Wissenschaft oder als theoretische Grundla-genwissenschaft bestimmt werden.

Konkret ist eine Handlungswissenschaft als angewandte Wissenschaft auf die Anforderungen, Aufgaben und gesellschaftlichen Funktionen eines praktischen Gegenstandbereichs ausgelegt und bearbeitet damit einen be-stimmten Ausschnitt gesellschaftlicher Wirklichkeit und Praxis. Sie basiert auf praktischen Handlungs- und normativen Bewertungslogiken einer spezi-fischen, unter Handlungsdruck stehenden Berufspraxis von Professionellen, die soziale Probleme mithilfe von Professions-, Interventions- und Verände-rungswissen für ihre Adressaten bearbeiten und lösen sollen (Birgmei-er/Mührel 2011, S. 109). Dagegen ist die Handlungswissenschaft als Grund-lagenwissenschaft prinzipiell darauf ausgelegt, dass der Mensch ein handeln-des Wesen ist und erhebt damit einen bestimmten Teilbereich menschlicher Wirklichkeit zum Gegenstand seiner Forschung. Eine Grundlagenwissen-schaft basiert des Weiteren auf einer wissenGrundlagenwissen-schafts- und erkenntnistheore-tisch gesicherten Denk- und Forschungslogik einer Gemeinschaft von inter-disziplinär forschenden Wissenschaftlern. Diese sollen spezifische Aspekte des Handelns von Menschen mithilfe eines auf Wahrheit und Richtigkeit im wissenschaftlichen Forschen zielenden wissenschaftlichen Wissens erklären, beschreiben bewerten oder verstehen (Birgmeier/Mührel 2011, S. 112). Auf-bauend auf dieser Logik können angewandte Wissenschaften nicht mit Hand-lungswissenschaften gleichgesetzt werden – denn Handlungswissenschaft ist nicht nur eine Bezeichnung für die praxistheoretische Ergründung des Han-delns von Professionellen; ebenso problematisch ist die Verwechslung von Handlungstheorien mit Praxistheorien.

Bezogen auf die Wissenschaft Soziale Arbeit plausibilisieren Birgmei-er/Mührel (2011, S. 104ff.) beide Lesarten einer Handlungswissenschaft, wobei sofort die von ihnen vorgeschlagene Zuordnung anhand der beiden Elemente Profession und Disziplin aus dem wissenschaftstheoretischen Drei-schritt ins Auge fällt: Die Wissenschaft Soziale Arbeit kann als angewandte Wissenschaft verstanden werden, wenn sie Anwendungen für die professio-nelle Praxis erforscht und damit Basiswissen zur Identifikation und Identi-tätsbildung ihrer Profession schafft. Auf der anderen Seite kann man die Wissenschaft Soziale Arbeit als Grundlagenwissenschaft betrachten, wenn sie Disziplinforschung und damit Grundlagenforschung betreibt und damit Basiswissen zur Identifikation und Identitätsbildung ihrer Disziplin schafft.

In beiden Fällen geht es um ein Handlungswissen, jedoch mit

unterschiedli-chen Zugängen und Perspektiven im Kontext der Professions- und Disziplin-forschung. Da Birgmeier/Mührel die Ansicht vertreten, dass mit Sozialar-beitswissenschaft und Sozialpädagogik zwei Disziplinen die ‚Wissenschaften der Sozialen Arbeit‘ ausmachen, ordnen sie in einem weiteren Schritt die Sozialarbeitswissenschaft den angewandten Wissenschaften und die Sozial-pädagogik den Grundlagenwissenschaften zu (Birgmeier/Mührel 2011, S.

112). Es sei abermals darauf hingewiesen, dass diese Auffassung in der vor-liegenden Arbeit nicht vertreten, sondern abgelehnt wird (s. S. 28). Vielmehr soll hier auf die Möglichkeit hingewiesen werden, dass die Wissenschaft Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft sowohl Grundlagenwissenschaft als auch angewandte Wissenschaft zugleich sein kann und muss (vgl. Abbil-dung 3). Als Grundlagenwissenschaft pocht sie dabei auf eine Unabhängig-keit der Disziplinbildungsprozesse von Professionsbildungsprozessen, wäh-rend sie als angewandte Wissenschaft auf die Abhängigkeit zwischen Diszip-lin- und Professionsbildung angewiesen ist (Birgmeier/Mührel 2011, S. 114) – dieser Zusammenhang sei besonders mit Blick auf die Entwicklung und Analyse der Professionstheorien in Kapitel 3 hervorgehoben. Darüber hinaus sind beide Lesarten der Handlungswissenschaft Soziale Arbeit zueinander zu vermitteln und aufeinander zu verweisen, um einerseits Theorie für die Praxis fruchtbar zu machen und um andererseits aus der Praxis wichtige Impulse für Theorien und Forschung zu erhalten.

In diesem Kontext und zusätzlich bezogen auf den Zusammenhang mit den ‚Bezugswissenschaften‘ (s. S. 44) kann die Soziale Arbeit zu einer ‚inte-grativen‘ Handlungswissenschaft werden, der gar Potential für ein Wissen-schaftsmodell der Zukunft innewohnt (Mühlum 2009, S. 93). Von daher wird deutlich, warum die Soziale Arbeit als die Handlungswissenschaft schlecht-hin bezeichnet wird und warum sich die Wissenschaftler in der Sozialen Arbeit in dieser Betrachtung einig sind: Wie kaum eine andere Wissenschaft verbindet sie handlungstheoretische Beschreibungen und Erklärungen mit handlungspraktischen und methodischen Funktionen (Birgmeier/Mührel 2011, S. 119f.).

Nach der Darlegung der Sozialen Arbeit als Handlungswissenschaft in diesem Kapitel sei abschließend noch einmal darauf hingewiesen, dass so-wohl im Zentrum der Profession sowie im Zentrum der Ausbildung die Schaffung von Handlungskompetenz steht. Was genau eine solche Hand-lungskompetenz in Berufen ausmacht, die professionell mit Menschen umge-hen, wird anhand eines spezifischen Modells konkret erläutert (vgl. Kap.

1.4.1.). Zunächst soll aber der Fokus auf eine – aus dem wissenschaftstheore-tischen Dreischritt Disziplin-Profession-Praxis ableitbare und bereits in An-sätzen dargelegte – basale Systematisierung der Theorien Sozialer Arbeit gelenkt werden. In diesem Kontext wird dann der Typ der Professionstheo-rien, der zentral für diese Arbeit ist, näher rekonstruiert.