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3. Die Entwicklung der Sozialen Arbeit als Profession

3.4 Klassischer Professions- und Professionalisierungsdiskurs

3.4.1 Die misslungene Professionalisierung der Sozialarbeit

Zu Beginn der Debatte attestierte Peters (s. hier und im Weiteren, wenn nicht anderes ausgewiesen: Peters 1971, S. 99ff.)149 der Sozialarbeit bereits eine misslungene Professionalisierung. Dabei versteht Peters unter Professionali-sierung die Verwissenschaftlichung der Methoden der Sozialarbeit. Der Ar-gumentation des Soziologen nach existiert neben der offensichtlich funktio-nalen Erklärung von Professionalisierung (Professionalisierung entsteht und verbreitet sich, um die sich mit dem technischen Fortschritt in der Gesell-schaft ergebenden Anforderungen und Bedürfnisse zu befriedigen) eine wei-tere, eher verborgene intentionale Erklärung (Professionalisierung wird von Berufstätigen aktiv vorangetrieben, um Status-Interessen durchzusetzen und _______________________

149 Auch dieser Aufsatz von Peters ist Teil der Veröffentlichung von Otto/Utermann 1971.

zu legitimieren). Im Zuge der intentionalen Erklärung zeige sich, dass Aus-bildung und Professionalisierung an sich mediatisiert werden können, um die Autorität eines Berufes zu stärken und seinen sozialen Aufstieg zu ermögli-chen (analog zur Bedeutung des Begriffs ‚Scheinprofessionalisierung‘ s. S.

77). Diese Funktionalität der Professionalisierung habe jedoch ihre Grenzen in der allgemeinen Einschätzung der Brauchbarkeit der gelernten Metho-den150 und Techniken. Denn professionelle Methoden und Techniken ließen sich nicht einfach zugunsten des Berufsprestiges ‚ausbeuten‘, da ihre Über-nahme häufig berufsstrukturelle Veränderungen erfordere. An berufsstruktu-rellen Veränderungen seien aber diejenigen, die Methoden und Techniken zur Steigerung des beruflichen Status und Prestiges fordern, zumeist gar nicht interessiert. Damit machte Peters in seinem Aufsatz auf folgende grundle-gende Problematik der Professionalisierung aufmerksam:

„So kann es dazu kommen, daß Berufsgruppen Methoden und Techniken zwar fordern, sich ihrer Einführung aber widersetzen; es kann Berufsgruppen geben, die im Stadium der Intentionalität verharren wollen, weil sie die strukturellen Konsequenzen der Pres-tigevehikel für ihren Beruf fürchten. Zu solchen Berufsgruppen – das wird hier be-hauptet – gehören die Sozialarbeiter.“ (Peters 1971, S. 101)

Bezogen auf die Sozialarbeit verweist der Autor zunächst auf die Tatsache, dass aktuell ein großes Interesse an (der Forderung) einer Ausbildung be-steht, die die für einen Aufstieg förderlichen ‚Prestigevehikel‘ (Methoden und Techniken) zu vermitteln verspricht. Dies sei besonders bezogen auf die männlichen Sozialarbeiter der Fall, da diese aus niedrigeren sozialen Schich-ten als ihre weiblichen Kollegen stammSchich-ten und folglich speziell für sie der Beruf des Sozialarbeiters ein Aufstiegsberuf sei. Zudem steige ihr Anteil kontinuierlich, was erklären könne, warum Methoden und Techniken zuneh-mend ins Zentrum fürsorgetheoretischer Diskussionen rückten. Im Weiteren entfaltet sich Peters’ Argumentation in Bezug auf die Sozialarbeit und ihre misslungene Professionalisierung anhand von zwei zentralen Widersprüchen:

dem Widerspruch von Verwissenschaftlichungsinteresse und Funktionsbe-hauptung sowie dem Widerspruch von professioneller Orientierung und Rol-lenstruktur.

Der Widerspruch zwischen Verwissenschaftlichungsinteresse und Funk-tionsbehauptung zeige sich in der gegenwärtig vorherrschenden Suche nach einer spezifischen Methodik151, die der Autor als Versuch der Berufstätigen entlarvt, die Professionalisierung zwecks Statuserhöhung willentlich voran-zutreiben, ohne aber die damit zusammenhängenden berufsstrukturellen _______________________

150 Unter Methode versteht Peters (1971, S. 103) grundsätzlich eine zielgerichtete, an Regeln orientierte Handlungsweise.

151 Peters rekurriert dabei auf die zur damaligen Zeit zahlreichen Publikationen zur Methodik der Einzelfallhilfe (‚social case work‘) sowie auf die Einführung des Faches ‚Methodenleh-re‘ in den Ausbildungsplan der Wohlfahrtsschulen Ende der 1960er Jahre (Müller 2009, S.

181ff.).

änderungen und Konsequenzen umsetzen zu wollen. Denn ihre Umsetzung würde letztlich die Funktion der Sozialarbeit grundsätzlich infrage stellen.

Wissenschaftliche Fundierung sowie Systematisierung und Typisierung von Einzelfällen sind für Peters notwendige strukturelle Konsequenzen, die aus der Forderung einer eigenständigen Methodik der Sozialarbeit resultieren.

Davon sei die Sozialarbeit aber weit entfernt und statt einer wissenschaftli-chen Fundierung sei eine ausufernde Deskription der Fälle sowie die zufälli-ge und diffuse Suche nach den Ursachen in den je individuellen Umständen des jeweiligen Falles zu beobachten. Dies sei schon bei Salomon und ihrer

‚sozialen Diagnose‘ (s. S. 157) so gewesen und zeige sich aktuell beispiels-weise in den stark rezipierten Veröffentlichungen von Kamphuis zur Einzel-fallhilfe (‚social case work‘)152. Als Grund für den offensichtlichen Mangel an wissenschaftlicher Fundierung fürsorgerischer Methoden nennt Peters die Konsequenzen, die eine solche wissenschaftliche Fundierung seiner Ansicht nach hätte: Die behauptete Heterogenität der Fälle würde sich strukturieren, es könnten Fallgruppen gebildet werden und eine Routinisierung der Sozial-arbeit würde begünstigt.153 Dies würde den Sozialarbeiter dazu führen, zu sehen, wie wenig effizient seine Handlungsmöglichkeiten sind und wie klein sein Aktionsradius ist, weshalb er zukünftig eher sozialreformerische Maß-nahmen anstreben würde, um die sozialen Probleme zu lösen. Damit weist Peters darauf hin, dass Sozialarbeit letztlich nie an die Ursachen der von ihr bearbeiteten Probleme heran kommt (Müller 2010, S. 962). Da dann aber Sozialarbeit durch generelle Sozialpolitik substituiert werden könnte und in der Folge die Etablierung der Sozialarbeit als Profession verhindert würde, habe sich die Sozialarbeit für das Beharren auf dem ‚individualistischen An-satz‘ entschieden – denn er immunisiert die um die Professionalisierung be-mühte Sozialarbeit gegen Konkurrenz.

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152 Marie Kamphuis (1907-2004) war niederländische Professorin, Leiterin der ‚Academie voor Sociale en Culturele Arbeid‘ in Groningen und bahnte in den 1950er Jahren den beruf-lichen Erfahrungsaustausch zwischen den Niederlanden und der BRD an; ab 1951 unter-richtete sie in Deutschland Familienfürsorgerinnen in Einzelfallhilfe (Müller 2009, S.

189f.). Ihre bekannteste Publikation, die gleichzeitig den Bezug von Peters darstellt, trug den Titel „Die persönliche Hilfe in der Sozialarbeit“ und ist 1963 in der deutschen Überset-zung im Enke-Verlag Stuttgart erschienen.

153 Nach den Vorstellungen von Peters (1971, S. 104f.) hat die wissenschaftliche Fundierung der Methodik der Sozialarbeit durch die Verhaltens- und Sozialwissenschaften zu erfolgen und setzt sich mit Sachverhalten wie Devianz und Armut auseinander: Grundlegende Auf-gabe der Sozialarbeit ist nach Peters die von der gewünschten Normalität abweichenden Verhaltensformen ihrer Handlungsadressaten an die gewünschte Normalität anzupassen.

Dafür muss zunächst geprüft werden, ob die in der Sozialarbeit relevanten Phänomene und Probleme von den Begriffen der Verhaltens- und Sozialwissenschaften gedeckt werden.

Anschließend wird versucht, die hinter diesen Begriffen stehenden Theorien auf die Phä-nomene und Probleme anzuwenden. Dabei muss verglichen werden, ob die Bedingungen, von denen die Theorien ausgehen, bei den konkreten Fällen in der Praxis erfüllt sind – sind sie erfüllt, ergibt sich nach Peters (1971 S. 105) „der Therapievorschlag aus den Theorien“.

Den Widerspruch von professioneller Orientierung und Rollenstruktur in der Sozialarbeit verdeutlicht Peters anhand der Gegenüberstellung von pro-fessionellen Verhaltens- und Handlungsempfehlungen zur konkreten Hand-lungsstruktur. Wilensky und Lebeaux (1965 in: Peters 1971, S. 112f.) identi-fizieren vier Verhaltens- und Handlungsempfehlungen an Sozialarbeiter, die sie als ‚The Professional Self‘ bezeichnen: Der Sozialarbeiter soll sich bei der an den Klienten adressierten Handlung funktional spezifisch orientieren (kei-ne Freundschaft, Privatleben Sozialarbeiter tabu, Empfang im Büro etc.), er soll emotionale Neutralität wahren (vertraute, aber neutrale Beziehung), dem Klienten gegenüber unvoreingenommen sein sowie seine persönlichen und finanziellen Interessen den Bedürfnissen des Klienten unterordnen. Diese Empfehlungen sind nach Peters Ausdruck der Hemmungen, die sich Versu-chen entgegenstellen, Methoden zur unmittelbaren Bekämpfung von Abwei-chungen von der Normalität zu entwickeln. Kritisch stellt der Autor fest, dass die Handlungsstruktur der Sozialarbeit oft nicht den Implikationen entspricht, die die genannten Verhaltens- und Handlungsempfehlungen enthalten: So wird in der Sozialarbeit häufig zu Unrecht das Leiden des Handlungsadressa-ten unterstellt, das die Rolle des Helfers eigentlich erst legitimiert (s. S. 181).

Zudem ist das (existente) Leiden des Handlungsadressaten nur dann fürsorge-risch handlungsrelevant, wenn es als solches vom Sozialarbeiter oder einer anderen fürsorgerischen Instanz oder im Konfliktfall vom Sozialgericht aner-kannt ist. Darüber hinaus dominiert nicht das subjektive Leiden des Klienten die fürsorgerische Handlung, sondern andere Maßstäbe bestimmen die Sozi-alarbeit, die außerhalb der Handlungsadressaten liegen (Maßstäbe von öffent-lichen und privaten Fürsorgeorganisationen). Schließlich hält Peters fest, dass der Sozialarbeiter immer im Auftrag von anderen Instanzen tätig ist und stets Kontrolleur bleibt. Dies unterscheidet seine Berufsstruktur von der beispiel-weise des praktizierenden Arztes oder des Rechtsanwalts. Peters fasst zu-sammen, dass sich die professionellen Verhaltens- und Handlungsempfeh-lungen bei der gegenwärtigen Rollenstruktur der Sozialarbeit nicht verwirkli-chen lassen und die Kontrolle als konstitutives Element hervorzuheben ist.

Eine Befreiung von der Abhängigkeit von übergeordneten Instanzen käme einem beruflichen Aus gleich, denn wer sollte dann noch die Leistungen bezahlen.

Beide Widersprüche zeigen die gleiche Problematik: Fordert die Sozial-arbeit die Etablierung von Methoden oder beispielsweise die Aufgabe der Rolle des Kontrolleurs, so muss sie deren Realisierung befürchten – ja sogar aus Professionalisierungsgründen verhindern. Und damit schließt sich der Kreis zu Peters Ausgangsthese zur grundlegenden Problematik der Professio-nalisierung: Sozialarbeiter und ihre Organisationen sind aus den genannten Gründen daran interessiert, ihre aus den Professionalisierungsinteressen re-sultierenden Forderungen als Forderung stehen zu lassen. „Sie möchten im intentionalen Stadium der Professionalisierung verharren, weil die

Funktio-nen, die die realisierten Intentionen der um ihre Professionalisierung bemüh-ten Sozialarbeiter für die Handlungsadressabemüh-ten und für „die Gesellschaft“

durchaus haben könnten, für die Sozialarbeiter dysfunktional werden könnten [Hervorhebungen im Original, Anmerk. K.M.]“ (Peters 1971, S. 120f.). Diese Entwicklungen bezeichnet der Autor als misslungene Professionalisierung der Sozialarbeit.

Peters Ansatz – der eine wissenschaftliche Fundierung der Sozialarbeit mittels der Verhaltens- und Sozialwissenschaften anregt und darüber hinaus bemüht ist, empirische Ergebnisse in die Analyse einzubeziehen – spiegelt deutlich die Phase der Theorieentwicklung aus den 1960er Jahren mit ihren interdisziplinären, empirisch fundierten Konzepten wider (s. S. 133). Gleich-zeitig kann mit Gängler auf das Strukturmuster ‚Anschlussfähigkeit an Nach-bardisziplinen‘ der sozialpädagogischen Theorieproduktion verwiesen wer-den (s. S. 136). Darüber hinaus wird offensichtlich, dass die Erforschung des Verhältnisses von Wissenschaft und Praxis im Zusammenhang mit der Sozia-len Arbeit (s. S. 42) damals noch ganz am Anfang stand: Peters hält einen einfachen Wissenstransfer (von verhaltens- und sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen) für erfolgversprechend in der Anwendung von Wissen in der Praxis. Wie Utermann (s. S. 172) lehnt sich auch der in der Soziologie be-heimatete Peters an den neu entstandenen berufs- und professionssoziologi-schen Diskurs in Deutschland an und konzentriert sich in Auseinanderset-zung mit den anglo-amerikanischen strukturfunktionalistischen Professions-kriterien und mit Blick auf die Sozialarbeit auf das Merkmal der spezialisier-ten Ausbildung und dabei konkret auf die Methodenentwicklung. Damit wird deutlich, dass für Peters im Kontext von Professionalisierung der Prozess der

‚Verwissenschaftlichung‘ im Vordergrund steht, der verknüpft ist mit der Entwicklung systematischen, prognosefähigen Wissens und der Methodisie-rung der eigenen Verfahren (Lüders 1989, S. 155). Dies ist typisch für die historische Phase der beginnenden 1970er Jahre und die Gründung von Fach-hochschulen. Für eine sozialhistorische Kontextualisierung des Stellenwerts von Methoden für die Professionalisierung der Sozialen Arbeit zur damaligen Zeit kann Müller (2010, S. 970) herangezogen werden: Den Angelpunkt der Professionalisierungschancen bildeten am Anfang des Verberuflichungs- und Professionalisierungsprozesses Methoden verstanden als Sozialtechnologien (dabei verweist er auf Salomon und ihre ‚soziale Diagnose‘). Weder die Me-thode des ‚social case work‘ noch spätere Weiterentwicklungen der Einzel-fallhilfe, der Gruppen- und Gemeinwesenarbeit konnten jedoch den Verdacht entkräften, es handele sich im Kontext der Sozialen Arbeit bestenfalls um eine halb gelungene Professionalisierung. Von daher stützt auch Peters’ An-satz die Sicht auf Soziale Arbeit als Semi-Profession.

Peters’ Auffassung von Sozialarbeit (s. Fn 153) kann zwar im Sinne ei-ner Professionstheorie (s. S. 38) interpretiert werden: Die Aufgabe der Sozi-alarbeit sieht er darin, die von der gewünschten Normalität abweichenden

Verhaltensformen ihrer Handlungsadressaten an die gewünschte Normalität anzupassen, was einem konzeptionell-gestaltenden Entwurf entspricht, der auf die Veränderung eines Ist-Zustandes und die Realisierung eines Soll-Zustandes im Leben der Adressaten ausgerichtet ist. Unter Zuhilfenahme der Erkenntnisse der Verhaltens- und Sozialwissenschaften (Begriffe, Theorien, Therapievorschläge) wird damit das Ziel verfolgt, professionelleres Handeln in der Sozialarbeit zu entwickeln. Im Detail fraglich bleibt dabei aber bereits die Fruchtbarkeit von (damaligen) verhaltens- und sozialwissenschaftlichen Theorien in Bezug auf konkrete und umsetzbare Therapievorschläge für den Klienten. Zudem wird deutlich, dass der Autor der Sozialarbeit eine eigen-ständige Disziplin abspricht. Problematisch ist auch Peters’ ausschließliche Zuspitzung der Profession auf ihren Bewährungsfall Praxis und damit auf die Methoden und Techniken und die mit ihnen explizit erwünscht einhergehen-de Technisierung und Routinisierung. Denn letztlich führt die geforeinhergehen-derte wissenschaftliche Fundierung der Methoden mit den daraus resultierenden berufsstrukturellen Konsequenzen dazu, dass Sozialarbeit durch Sozialpolitik substituiert wird (denn Sozialarbeit kommt nach Peters an die Ursachen der von ihr bearbeiteten Probleme nie heran) und sich dadurch selbst auflöst – eine Alternative dazu entwickelt er nicht. Daneben kann abschließend mit Müller (2009, S. 191) kritisiert werden, Peters verkenne in seiner Analyse, dass zu diesem Zeitpunkt in der BRD die Mehrzahl der professionellen Ar-beitsplätze in privaten, halböffentlichen und öffentlichen Institutionen zu finden war und von daher das Dilemma des ‚doppelten Mandats‘ nicht nur für Sozialarbeiter, sondern beispielsweise auch für Richter, Staatsanwälte, Krankenhausärzte und Auftragsforscher (also auch für klassische Professio-nen) gelte.