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3. Die Entwicklung der Sozialen Arbeit als Profession

3.3 Verberuflichung Sozialer Arbeit (ca. 1900-1970)

3.3.3 Mary Richmond und Jane Addams

Im (Zeit-) Kontext von Salomon sind zwei der einflussreichsten Wegbereite-rinnen der professionellen Sozialen Arbeit in den USA zu nennen, die mit ihr sowie untereinander bekannt waren und deren Werk und Wirken sie (und damit auch ihre Professionstheorie) beeinflusst haben: Mary Richmond und _______________________

138 So beispielsweise wenn sie davon spricht, dass es in der sozialen Arbeit um ein Zusam-menwirken verschiedener Subjekte geht (Koproduktion, s. S. 61) oder dass die Grenzen der Intervention oftmals in der subjektiven Rekonstruktion der Wirklichkeit des Klienten be-gründet sind (s. S. 60).

Jane Addams (Braches-Chyrek 2010, S. 109). Wenngleich sich der damalige sozialhistorische Kontext und seine Entwicklungen in den USA deutlich von der (aufgezeigten) deutschen Situation in dieser Zeit unterscheiden139, so hat sich Salomon stark an der anglo-amerikanischen Entwicklung bezogen auf die Soziale Arbeit angelehnt (Maier 1998, S. 508). Gleichzeitig verbinden die drei Pionierinnen Gemeinsamkeiten aus ihren Lebensläufen, wie die Herkunft aus bürgerlichen Verhältnissen, ihre gute Bildung, ihr moralisch-religiöses Pflichtbewusstsein sowie ihre Konzentration auf die Soziale Arbeit als Betä-tigungsfeld und als Folge ihr Engagement für die Institutionalisierung von Hilfsmaßnahmen (Hummrich 1997, S. 31f.).

Richmond war Vorsitzende der ‚Charity Organization Society‘ (COS), einem Wohlfahrtsverband, der sich darauf spezialisiert hatte, die Unterstüt-zungsbedürftigkeit Einzelner zu prüfen und die untersuchten Fälle an die zuständigen Vereine weiter zu vermitteln. Die Falluntersuchung, die Rich-mond als ‚case work‘ bezeichnete, wurde von ehrenamtlichen ‚friendly visi-tors‘ (Hausbesucherinnen) vorgenommen, die ähnlich den Armenpflegern des Elberfelder Systems (s. S. 131) die Armen besuchten (Hummrich 1997, S.

18). Ziel des Wohlfahrtsverbandes war die Beendigung von Wohltätigkeits-missbrauch, die effektivere Gestaltung von Wohltätigkeit für wirklich Hilfs-bedürftige sowie die Mobilisierung und Revitalisierung von Kräften nachbar-schaftlicher Hilfsbereitschaft. Da sich im Konkurrenzkampf um die Vertei-lung privater Spenden und um die Berechtigung zur Kanalisierung öffentli-cher Sozialhilfe-Etats nur solche Wohlfahrtsverbände am Leben halten konn-ten, die über einen gut trainierten und gut geschulten Mitarbeiterinnenkreis von Ehrenamtlichen verfügten, war auch für Richmond die Ausbildung ein wesentliches Thema (Müller 2009, S. 30). Neben Ausbildungsplänen entwi-ckelte sie ein effektives Managementkonzept, um ein ganzheitliches Umden-ken in den Wohlfahrtsorganisationen einzuleiten und die Arbeit effektiver zu gestalten. Dabei war für Richmond die wissenschaftliche Fundierung des Berufs Soziale Arbeit durch weit reichende empirische Forschungen zentral, die zur Entwicklung erster Methoden führten und gleichzeitig ein dauerhaftes politisches Engagement einforderten (Braches-Chyrek 2010, S. 112).

Ihr berühmtes und mehrfach aufgelegtes methodisches Lehrbuch ‚Social Diagnosis‘ aus dem Jahr 1917 gilt als wissenschaftliche Grundlegung der _______________________

139 Bezogen auf die USA beschreibt Hummrich (1997, S. 14ff.) die Situation wie folgt: Nach dem Bürgerkrieg (1861-1865) wurden die Sklaven freigelassen und Massen von Einwande-rern strömten ins Land und in die Städte, um Arbeit zu suchen. Dort entstanden einerseits aufgrund der Armut und des Elends der Arbeiter Arbeiterghettos, andererseits setzte sich das aufstrebende Bürgertum in außerstädtische Wohnviertel ab. Wesentlicher Unterschied zu Deutschland ist (damals wie heute) die rein private Organisation der Wohlfahrtspflege, da kein verbindliches System der staatlichen Wohlfahrtspflege entwickelt wurde. Dies geht konform mit den Unterschieden in Bezug auf die staatlich beeinflusste oder frei von Staatseinflüssen erfolgte Entstehung von Berufen und Professionen zwischen deutschspra-chiger und anglo-amerikanischer Professionssoziologie (vgl. Kap. 2.1.).

Methode der vertieften und differenzierten Einzelfallhilfe (‚social case work‘). Darin entwickelt sie die Grundzüge der heutigen Einzelfallhilfe wie beispielsweise das erste Interview, Kontakt mit allen Familienmitgliedern, Sicherung der Bereitschaft zur Mitarbeit durch die gesamte Familie, Hypo-thesenbildung, Überprüfung und Evaluation der einzelnen Daten und ihrer Interpretation durch die ermittelnde Hausbesucherin (Müller 2009, S. 33).

Salomon, die das Buch während eines USA-Aufenthaltes – bei dem sie auch einige Zeit bei Addams in ‚Hull House‘ in Chicago verbrachte (s.u.) – rezi-pierte, war beeindruckt und erarbeitete sukzessive ein Lehrbuch mit dem gleichen Titel (‚Soziale Diagnose‘) für deutsche Verhältnisse, das 1926 ver-öffentlicht wurde: In einem ersten ermittelnden Teil dieses Lehrbuchs geht es nach dem Vorbild Richmonds um die soziale Diagnose als Methode, wohin-gegen sie im zweiten Teil innovativ eine Verbindung zwischen der Ermitt-lungstätigkeit und pädagogischer Arbeit herstellt (Müller 2009, S. 63). Dabei führt sie Gedanken über „die Kunst zu leben“ und „die Kunst zu helfen“ aus, die zentral darin bestehen, entweder einem Menschen zu helfen, sich seiner gegebenen Umwelt einzuordnen und zurecht zu finden oder dessen Umwelt so zu verändern, dass er sich darin bewähren kann (Salomon 1936 in: Müller 2009, S. 63f.). Etwas später entwickelte Richmond darüber hinaus genaue Handlungskompetenzen und -maximen für Wohlfahrtsarbeiterinnen, die in einem Maßnahmenkatalog mündeten, der statt nur die einzelne Person den ganzen Fall der Hilfsbedürftigkeit in den Mittelpunkt des sozialarbeiterischen Interesses rückte – dies führte zu einem Paradigmenwechsel in der amerika-nischen Sozialen Arbeit (Braches-Chyrek 2010, S. 114). Problematisch war dabei jedoch, dass die Beziehung Hausbesucherin – Klient, als auch die wis-senschaftliche Reflexion vernachlässigt wurden und der Eindruck entstehen konnte, dass eine Etikettierung der Hilfesuchenden anhand äußerer Merkmale vorgenommen wird (Hummrich 1997, S. 36).

Zusammenfassend war Richmond durch ihre wissenschaftliche und prak-tische Tätigkeit ganz wesentlich an der Transformation der Philanthropie (vorher verstanden als ein freiwilliger, spontaner und ehrenamtlicher Aus-druck eines individuellen Altruismus) in einen allgemeingültigen und organi-sierten Beruf beteiligt (Braches-Chyrek 2010, S. 110). Zugleich ist die Arbeit von Richmond aber ambivalent zu beurteilen: Die ‚friendly vistitors‘ betrie-ben zwar einerseits gesellschaftliche Aufklärung über die Ursachen von Ar-mut und Hilfsbedürftigkeit, produzierten aber andererseits durch ihre Fallpro-tokolle eine Fülle verallgemeinerbarer Daten, die eben auch zur Kontrolle und Versagung von Hilfsleistungen eingesetzt wurden. Die Vermittlung von Techniken zur Gewährung von effektiver Hilfe wurden folglich mit Kontroll-verfahren verflochten, die eine Überwachung der individuellen Anpassungs-leistungen ermöglichten – und diese AnpassungsAnpassungs-leistungen wurden gefordert, weil der Ansatz von Richmond dazu verleiten konnte, individuelle Existenz-lagen als Einzelschicksale zu betrachten und dem Einzelnen die persönliche

und moralische Verantwortung für seine Lebenssituation zuzuschreiben (Bra-ches-Chyrek 2010, S. 119). Mit Foucault (1976 in: Bra(Bra-ches-Chyrek 2010, S.

119f.) kann gar die Produktion selbstkontrollierender Einzelner als beabsich-tigte Folge dieses Umgestaltungsprozesses hin zur professionellen Sozialen Arbeit betrachtet werden (zu Foucaults Kritik an der Sozialen Arbeit vgl.

auch Kap. 3.5.5.).

Addams hingegen gründete nach dem Vorbild der englischen Settlement-Bewegung 1889 in einem Chicagoer Einwandererviertel das Hull-House-Settlement, in dem die Integration der Arbeiterklasse in die bürgerliche Ge-sellschaft und praktische Hilfeleistungen im Vordergrund standen (Humm-rich 1997, S. 24). Wie auch die ‚Charity Organization Society‘ (COS) von Richmond waren die Settlements zwar vom Gedanken der Nachbarschaftshil-fe inspiriert, in ihnen siedelten sich jedoch Settlement-Anhänger mitten in Armenvierteln einer Stadt an, um mit den Arbeitern zu leben und ihnen ihre Kultur näher zu bringen. Neben der Integration widmeten sich die Gründer der Settlements auch der Ursachenforschung über Armut und betrieben Auf-klärungsarbeit in der Öffentlichkeit (Hummrich 1997, S. 18). Im Gegensatz zu Richmond sah Addams Armut als allein durch die gesellschaftlichen Um-stände verursacht – sie fühlte sich moralisch verpflichtet, die benachteiligten Schichten an ihrer Bildung teilhaben zu lassen. Ebenfalls im Gegensatz zu Richmond lag ihrer Arbeit kein direkt fachspezifisches Spezialwissen zugrunde und sie musste ihr Handeln keiner übergeordneten Organisation gegenüber verantworten (Hummrich 1997, S. 35f.). Der Methode der sozialen Einzelfallhilfe stellte sie die Methode der Verbesserung von Lebens- und Arbeitsbedingungen durch tätige und häufig auch aggressive Selbsthilfe und Selbstorganisation im Stadtteil und am Arbeitsplatz zur Seite – womit sie in ihrem geplanten und gezielten alltäglichen Handeln die Grundzüge der Me-thode sozialräumlicher Sozialer Arbeit entwickelte, die sowohl aus Hilfeleis-tungen im Einzelfall bestand als eben auch in der tätigen Unterstützung von Infrastrukturen im Stadtteil (Müller 2009, S. 50).

Salomon wiederum hat es verstanden, beide Ansätze von Richmond wie von Addams in ihrem Werk und somit auch in ihrer (frühen) Professionstheo-rie auf eine neuartige Weise zu integProfessionstheo-rieren und auf die deutschen Verhältnis-se zu übertragen – nicht jedoch, ohne sich kritisch mit den Ansätzen auVerhältnis-sei- ausei-nanderzusetzen und sie weiterzuentwickeln.