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Sozialer Wandel, Entwicklung und Modernisierung

Sozialer Wandel

Der Begriff „sozialer Wandel” stammt von William F. Ogburn in seinem Buch „Social Change” (New York, 1922). Sozialer Wandel ist eigentlich eine andere Bezeichnung für die vorher erwähnte Sozialstrukturveränderung. Damit lässt sich formulieren, dass sozialer Wandel Veränderungen der Wechselbeziehungen und Wirkungsver-hältnisse sowohl zwischen den geistigen Elementen selbst als auch zwischen den materiellen und geistigen Elementen der Gesellschaft bedeutet.

Sozialer Wandel mit seinem dynamischen Charakter wird oft dem statischen Zu-stand der Gesellschaft gegenübergestellt. Vilfredo Pareto definiert Wandel als Ver-änderungen des gesellschaftlichen Gleichgewichts, wobei hier das Gleichgewicht im Gegensatz zu dynamischen Situationen als etwas Statisches und Stabiles vorgestellt wird.35 Auguste Comte nennt diese Statik „Ordnung” und den sozialen Wandel „Fort-schritt”.36

Neben dieser positivistischen Bezeichnung wird sozialer Wandel nicht selten mit Chaos, Spannungen und Konflikt gleichgesetzt. Wilbert E. Moore betrachtet diese Phänomene jedoch als „normal”.37 Für ihn kann der Wandel, wie die Ordnung, so-wohl problembringend als auch problemmindernd sein, weil immerhin in der (als sta-tisch gedachten) „Ordnung” auch etwas Wandelndes steckt,38 wie etwa die Geburt, das Erwachsensein und der Tod, also der Lebenszyklus der einzelnen Menschen, der keine bedeutende Veränderung in der Gesellschaft hervorbringt und so in der makrosoziologischen Gesellschaftsanalyse zur Stabilität und zur Statik kategorisiert wird, und nicht als Wandel.

35 Vgl. Pareto, Vilfredo in: Eisermann, Gottfried (Hrsg.): Vilfredo Paretos System der allgemeinen So-ziologie. Einleitung, Texte und Anmerkungen, Stuttgart 1962, S. 158.

36 Siehe ausführlich Comte, Auguste: Die Soziologie. Die positive Philosophie im Auszug, Hrsg. von Friedrich Blaschke, 2. Aufl., Stuttgart, 1974, S. 118-166 (7. Kapitel: Soziale Statik oder die Lehre von der natürlichen Ordnung der Gemeinschaften und 8. Kapitel: Die soziale Dynamik oder die Lehre vom Fortschritt).

37 Vgl. Moore, Wilbert E.: Strukturwandel der Gesellschaft, München 1967, S. 13f.

38 Vgl. ebenda, S. 28 und 19.

Da in dem Begriff „sozialer Wandel” selbst die zeitliche Dimension steckt, kann die Erforschung des sozialen Wandels nur durch die Beobachtung der Zustände der Ge-sellschaft und ihrer Elemente in verschiedenen Zeiten erfolgen. So ist heute der Vergleich charakteristischer Verhältnisse dieser gesellschaftlichen Elemente über mehrere Zeitabschnitte eine gängig gebrauchte Methode der Entwicklungsforschung.

Dies wird häufig auch mit dem Vergleich dieser Elemente mit denen anderer Gesell-schaften kombiniert.

Die Studien über den sozialen Wandel beobachten nicht nur, welche Teile der Ge-sellschaft anders geworden sind, welche Veränderungen eingetreten sind und wie die Gesellschaft zu dieser Veränderung gekommen ist, sondern untersuchen auch welche Triebkräfte diese Wandlung verursachen: ob sie durch Einflüsse von außen (exogene Faktoren) zustande kommt, z. B. durch den Druck von internationalen Ge-walten oder auch durch außergesellschaftliche Initiativen, oder ob der Wunsch, die Idee und die Energie zum Wandel sich innerhalb der Gesellschaft, also von eigenen Kräften entwickeln (endogene Faktoren).39 Nicht selten wird der gesellschaftliche Wandel durch beide Faktoren erzeugt, wie es beim Wandlungsvorgang der ehemali-gen Kolonien der Fall ist.

Diese Untersuchungen dienen dazu, die Bedingungen und Umstände der rung einzufangen, um daraus zu erfassen, welche Verhältnisse zu welcher Verände-rung führen. Damit kann man später die Folge gleicher Verhältnisse vorhererken-nen, um eine negative Auswirkung bestimmter Vorgänge zu verhindern oder auch um einen erwünschten Effekt zu erzielen. Viele Autoren versuchen aus der Analyse einer gesellschaftlichen Entwicklung, deren Ergebnis als Erfolg gesehen wird, ein Modell zu entwickeln. So wird etwa der Wandelprozess der euro-amerikanischen Gesellschaften, die sogenannte Industrialisierung und Modernisierung, oft verallge-meinert und zur Voraussage, ja sogar zur Steuerung der Entwicklung anderer Ge-sellschaften eingesetzt. Auf diese Weise wurde die euro-amerikanische Industriali-sierung und ModerniIndustriali-sierung zum Leitbild des Aufbaus anderer Länder in der Welt.

39 Vgl. Zapf, Wolfgang: Einleitung, in Zapf, Wolfgang: Theorien des sozialen Wandels, 2. Aufl., Köln-Berlin 1970, S. 117.

Entwicklung

Ein spezieller sozialer Wandel, dem positive Inhalte zugeschrieben wird, ist Entwick-lung. In der ersten Anwendung des Begriffes im 18. Jahrhundert wurde an seiner Stelle häufig „Auswicklung“ benutzt, was dem lateinischen „Explicatio“ entspricht.40 Immanuel Kant verwendete z. B. lieber „Auswicklung“ und „sich entwickeln“.41 Erst von Leibniz wurde der Begriff „Entwicklung“ ständig gebraucht und prägte die leib-nizsche Evolutionstheorie.42 So hat sich die Verwendung des Terminus „Entwick-lung“ weit verbreitet.

Hinter diesem Begriff verbirgt sich der Evolutionsgedanke, der bei Leibniz’ naturphi-losophischer Evolutionslehre zum ersten Mal vorkommt.43 Entwicklung gehört nach Leibniz zum Evolutionskonzept aller Lebewesen, wobei Menschen, Tiere und Pflan-zen nicht aus dem Nichts entstehen, sondern aus Keimen vorher existierender Le-bewesen, durch folgende Phasen: Entwicklung (Développment), Einwicklung (Enve-loppment), Umbildung, Ablegung und Transformation.44 Kant betont dazu, dass die-se Entwicklung bei den Menschen als „begabten Tieren“ ein aktiver Prozess die-sei, der aus endogenen Kräften entstehen solle.45 Erst bei Herder erhält der Begriff „Ent-wicklung“ einen gesellschaftlich-geschichtlichen Inhalt, wobei der Verstand, die Kul-tur, und technologische „Nachahmung“ die Faktoren der gesellschaftlichen Entwick-lung sind.46

Der Vater der modernen Soziologie, Auguste Comte, hat zur Entwicklung der Menschheit einen soziologisch-philosophischen Brückenschlag gebaut, in dem er die Entwicklung als einen Prozess von „Drei Stadien“ definierte: dem theologischen,

40 Vgl. Eucken, Rudof: Geschichte der philosophischen Terminologie im Umriss, Hildesheim 1964, S.

187.

41 Ebenda, S. 139.

42 S. Anm. 40.

43 Hier ist Entwicklung = Développment.

44 Leibniz, Gottfried Wilhelm: Die philosophischen Schriften von G. W. Leibniz, hrsg. von C. I. Ger-hardt, Hildesheim/New York 1978, Bd. 6, S. 601.

45 Kant, Immanuel: Werke in zehn Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Sonderausgabe, Darm-stadt, 1983, S. 673-676.

46 Siehe Näheres dazu Herder, Johann Gottfried: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Mensch-heit, in: Kühnemann, Eugen (Hrsg.): J. G. Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der

taphysischen und positiven Stadium der menschlichen Denkweise.47 Dabei ähnelt die metaphysische Phase dem Übergang zur „Intellektualisierung“ aller Lebensgebie-te48 und dem Prozess „Entzauberung der Welt“49 Webers, während das positive Sta-dium dem Ergebnis des weberschen Rationalisierungsprozesses gleicht.50 Friedrich List hat dann den ersten gesellschaftlichen und damit soziologischen Inhalt des Beg-riffes „Entwicklung“ gegeben. Nach ihm ist die Entwicklung ein Übergangsprozess

„der Nationen“ vom Wilderer- zum Hirtenstadium, dann über die landwirtschaftliche hin zur landwirtschaftlich-industriellen Phase und schließlich zur Landwirtschaft-Industrie-Handelskultur.51

Die Begriffsbestimmung der „Entwicklung“ verändert sich dann nach und nach durch das Aufkommen der Entwicklungstheorie. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Entwicklungsbegriff durch die Aufbaubemühungen in den ehemaligen Kolonien in Asien, Afrika und Lateinamerika wiederbelebt, und man hat seitdem versucht, durch die Erfahrungen in den Gesellschaften der oben genannten Kontinente eine univer-sale Entwicklungstheorie zu bilden.

Der wohl bekannteste und von den ehemaligen Kolonialgesellschaften häufig ver-wendete Entwicklungsbegriff ist die Definition nach der UNESCO, nämlich dass die Entwicklung „alles umfasst, was das Wohl der Gesellschaften, das Aufblühen ihrer Kultur, die aktive Teilnahme der Gesellschaften an ihrem Fortschreiten herbeiführen

Menschheit mit Kants Rezenzionen der „Ideen“ und seiner Abhandlung. Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Berlin, 1914, „Neuntes Buch“ (1785), 103-120.

47 Comte, Auguste: Das Gesetz der Geistesentwicklung der Menschheit oder das Dreistadiengesetz, 1844, in: Ders.: Rede über den Geist des Positivismus. 2.Aufl., Hamburg 1966, S. 5.

48 Vgl. Weber, Max: Wissenschaft als Beruf, in: Mommsen, Wolfgang J. und Schluchter, Wolfgang (Hrsg.): Max Weber Gesamtausgabe. Bd. 17., Tübingen 1992, S. 86f.

49 S. Näheres Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5.

rev. Aufl., Tübingen 1980, S. 307f. Entzauberung der Welt als „Zurückdrängung des Glaubens an die Magie“ entsteht durch die zunehmende Intellektualisierung.

50 Vgl. Weber, Max: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus, hrsg. u. eingeleitet von Klaus Lichtblau und Johannes Weiß, 2. Aufl., Weinheim 1996, S. 32f. Rationalisierung ist nach Weber die Veränderung der Lebensführung in einer Weise, „welche die Welt bewusst auf die dies-seitigen Interessen des einzelnen Ich bezieht und von hier aus beurteilt“.

51 Vgl. List, Friedrich: Das nationale System der politischen Ökonomie, Basel/Tübingen 1959, S. 177.

soll.“52 Dieser Prozess soll durch die Stärkung der „Bewährung der fundamentalen geistigen, gesellschaftlichen und menschlichen Werte, auf denen das Leben in den verschiedenen, so unterschiedlichen Gesellschaften beruht“,53 erfolgen.

Eine andere Bedeutung von „Entwicklung“, die in Deutschland oft verwendet wird, stammt von Nohlen und Nuscheler, den Vätern der Renaissance der Entwicklungs-politik. Sie schreiben der „Entwicklung“ eine Sammlung von Zielen zu, die sie „magi-sches Fünfeck“ nennen: Wachstum, Arbeit, Gleichheit/Gerechtigkeit, Partizipation und Unabhängigkeit.54 Entwicklung ist nach ihnen „die eigenständige Entfaltung der Produktivkräfte zur Versorgung der gesamten Gesellschaft mit lebensnotwendigen materiellen sowie lebenswerten kulturellen Gütern und Dienstleistungen im Rahmen einer sozialen und politischen Ordnung, die allen Gesellschaftsmitgliedern Chancen-gleichheit gewährt, sie an politischen Entscheidungen mitwirken und am gemeinsam erarbeiteten Wohlstand teilhaben lässt“.55

Modernisierung und Industrialisierung

Bei der Anwendung des Begriffes „Entwicklung“ auf die Länder der sogenannten

„Dritten Welt“ ist der Begriff „Modernisierung“ anstelle von „Entwicklung“ verbreiteter.

Jedoch ist „Modernisierung”, die man ursprünglich als eine Bezeichnung für die Ent-wicklung der Gesellschaften Westeuropas verwendet hat, eigentlich bloß ein be-stimmter Typus von vielen Verläufen des sozialen Wandels. Hinter diesem Begriff steckt jedoch nicht nur eine spezifische Veränderung eines Gesellschaftselements, sondern ein Bündel von mehreren, miteinander verbundenen Veränderungen in ver-schiedenen Bereichen der Gesellschaft, deren Folge die heutige moderne (westli-che) Industriegesellschaft ist.56 Die Wandlungsvorgänge, die zur Modernisierung gehören, erfolgen im Bereich der Politik (z. B. Nationenbildung, Bürokratisierung und Machtverteilung), im wirtschaftlichen Bereich (Industrialisierung), im Bereich der

52 Zitat nach Nohlen, Dieter u. Franz Nuscheler: Was heißt Entwicklung, in: Nohlen, Dieter und Franz Nuscheler: Handbuch der Dritten Welt, Bd. 1, Grundprobleme, Theorien, Strategien, Bonn, 1993, S.

60.

53 Ebenda.

54 Vgl. ebenda, S. 65.

55 Ebenda, S. 73.

56 Vgl. Loo, Hans van der und Reijen, Willem van: Modernisierung. Projekt und Paradox, München 1992, S. 11f.

zialstruktur (z. B. Urbanisierung, soziale Differenzierung und Mobilisierung) und im geistig-kulturellen Bereich (z. B. Säkularisierung, Rationalisierung, Zivilisierung).57 Diese Prozesse, die in Abbildung 1.1. dargestellt sind, treten in einer einzigartigen Kombination auf, sodass eine bestimmte Veränderung eine oder mehrere Verände-rungen in anderen Bereichen voraussetzt oder mit ihnen gleichzeitig erfolgen muss, da sich sonst der moderne Zustand (wie z. B. der westeuropäischen) nicht ergibt.

Ein deutliches Beispiel stellt der Industrialisierungsprozess dar, der die Rationalisie-rung erfordert und durch die DemokratisieRationalisie-rung im politischen Bereich begleitet wer-den muss, um eine stabile Industriestaatlichkeit zu erzielen.

Von all diesen Prozessen ist die Rationalisierung der leitende und grundlegendste Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung. Die Verwendung der Vernunft in allen Lebensbereichen, die Max Weber auch „Intellektualisierung”58 nennt, führt im geistig-kulturellen Bereich zur Säkularisierung,59 Zivilisierung60 und vor allem zur grundlegenden Wissenschaftsentwicklung; im wirtschaftlichen Bereich zur Entwick-lung der Produktionstechnik sowie zur wirtschaftlichen Liberalisierung und Bürokra-tisierung; im sozialpolitischen Bereich zur Staatenbildung und Demokratisierung. Die Rationalisierung fördert die Internalisierung des Denkens von Machbarkeit und Regulierbarkeit aller Dinge, die die Hemmungen und Einschränkungen der Weiterentwicklung aus dem Weg räumt.61 Jedoch ist die Rationalisierung der Gesellschaft schwer einzuschätzen oder gar zu planen. Sie verläuft wie auch andere geistig-kulturelle Entwicklungsprozesse sehr langsam, mit paradoxen Effekten und

57 Vgl. Schäfers, S. 430.

58 Vgl. Anm. 48

59 „Säkularisierung” ist Rationalisierung der religiösen Vorstellung, der sittlichen Gewohnheiten und Werte und die Selbstbefreiung der Menschen von religiösen und sittlichen Einflüssen. Für Max Weber ist Rationalisierung der Anstoß zur Bildung der protestantischen Arbeitsethik in westeuropäi-schen Gesellschaften, die er als entscheidende Triebkraft des Modernisierungsprozesses nennt.

(Vgl. Weber, Die protestantische Ethik, S. 32f, 152f.). Die Entstehung des Protestantismus kann man als die Befreiung der Menschen von der beschränkenden katholischen Tradition sehen. Die Vorstellung über die Gott-Mensch-Beziehung vor allem aber die Vorstellung über den Beruf und das Streben nach Reichtum werden rationalisiert. (S. Näheres Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S.

146ff und 378f). Dabei versuchte man, die katholische Lehre neu und rational zu interpretieren, um die Lebenseinschränkungen der Menschen zu verringern und entwickelte daraus eine säkularisierte Form des Katholizismus, nämlich den Protestantismus.

60 Norbert Elias sieht die Zivilisierung als die Eindämmung der Gewaltanwendung in der Konfliktaus-tragung durch den Einsatz der Vernunft. Vgl. Elias Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation, Band 2, Frankfurt/Main 1976, S. 317, 403-408.

61 Vgl. Weber, Wissenschaft, S. 87.

kulturelle Entwicklungsprozesse sehr langsam, mit paradoxen Effekten und über Generationen hinweg.

Abb. 1.1. Wandelprozesse der Modernisierung

G eistig-Kulturelle E ntw icklung

R a tio n a lisie ru n g S ä ku la risieru n g In d ivid u a lisieru n g

Z ivilisierun g

Sozialstrukturw andel

B ev ö lkeru n g s w a ch stu m U rb a n isie run g B ild u n g ssteig e ru n g W isse n sch a ftse n tw icklu ng

S ozia le D iffe re nz ie run g K o m m u n ika tio n sste ig e ru n g

W irtschaftliche Entw icklung (Industrialisierung)

K a p itala k ku m ula tio n Te ch n isc h e r F ortsch ritt W irtsch . Lib e ra lis ie ru n g B ild u n g d. M a rktw irtsch a ft

W o hlstan d sste ige ru n g M a ssen ko n s um

P olitische Entw icklung (Dem okratisierung)

S ta a te n - & N a tio ne n bild un g B ürokratisie run g P o litisch e L ib e ra lisie run g E rw e ite run g p ol. P a rtizip a tio n

M a ch tve rte ilu n g S ic h e run g d e r D e m o kra tie

d u rch fun ktio nie re n de G e setzg e b u ng

Die auffälligen und leichter zu beobachtenden Vorgänge der Modernisierung sind die Demokratisierung und Industrialisierung, so dass Reinhard Bendix diese beiden Pro-zesse als Hauptmerkmale seiner Modernisierungsdefinition verwendet: „Unter Mo-dernisierung verstehe ich einen Typus des sozialen Wandels, der seinen Ursprung in der englischen industriellen Revolution von 1760-1830 und in der politischen Fran-zösischen Revolution von 1789-1794 hat”.62 Was hier mit dem „Ursprung” gemeint ist, ist nicht die Quelle der Modernisierung, sondern ihr Beginn, der erste sichtbare Wandel.

Von diesen zwei wesentlichen Prozessen der Modernisierung gilt die Industrialisie-rung als der zentrale und bedeutendste Vorgang in der Geschichte der Menschheit und wird als der beste und schnellste Weg zum Wohlstand betrachtet, weshalb die Nationen nach ihr streben. Industrialisierung ist die Modernisierungserscheinung im wirtschaftlichen Bereich und im Grunde genommen nur eine von vielen Wandlungen im gesamten Modernisierungsprozess. Im engeren Sinne ist Industrialisierung ein technisch-organisatorischer Wandel, in dem sich der Übergang von der handwerkli-chen zur fabrikmäßig konzentrierten und auf dem planmäßigen Einsatz von techni-schen und organisatoritechni-schen Mitteln beruhenden Produktion befindet.63

Durch die durchschaubaren Veränderungen der wirtschaftlichen Strukturen denkt man, dass der Industrialisierungsprozess einfach eingeführt und nachgeahmt wer-den kann. Dabei ist die Industrialisierung ursprünglich die Folge von verschiewer-denen vorausgegangenen sowohl wissenschaftlichen als auch geistig-kulturellen Wand-lungsprozessen in den westeuropäischen Gesellschaften, und um sie zustande zu bringen, bedarf es nicht nur der Entwicklung der Technik und der Bereitstellung des Geldes, sondern auch aller dazu nötigen soziokulturellen und politischen Verände-rungen. Andernfalls findet die Industrialisierung nicht statt.

62 Bendix, Reinhard: Tradition and Modernity Reconsidered, in: Comparative Studies in Society and History 9, Netherland 1966, S. 329 oder die Teilübersetzung eines seiner Zeitschriftenartikel: Mo-dernisierung in internationaler Perspektive, in: Zapf, Theorien, S. 506.

63 Definition des Begriffes „Industrialisierung” nach Moore in Beckenbach, Niels: Industrialisierung, in: Kerber, Harald und Schmieder, Arnold: Handbuch der Soziologie. Zur Theorie und Praxis sozia-ler Beziehungen, Hamburg 1984, S. 246f.

Dies ist möglicherweise auch eine Ursache des Misserfolges beim Industrialisie-rungsprozess in vielen Entwicklungsländern, denn diese Nationen haben es nur auf die materielle Veränderung abgesehen. Sie wollen, dass die anderen sozialen und geistig-kulturellen Strukturen immer noch die alten bleiben, weil die Resultate dieser Veränderung nicht ihrer Kultur entsprechen – was für manche Herrscher zum Verlust der Legitimität ihrer Macht führen könnte – oder auch, weil sie nicht als verwestlicht bezeichnet werden wollen. Wandelprozesse kommen in der Praxis deshalb sehr schwer in Gang, da ein wirtschaftlicher Aufstieg und die Entwicklung einer wider-standsfähigen Industriestaatlichkeit nicht allein erfolgen können, sondern sie erfor-dern auch die Moerfor-dernisierung der gesamten gesellschaftlichen Bereiche u. a. Säku-larisierung, Rationalisierung und Demokratisierung,64 was bei den euro-amerikanischen Industrieländern ein schwieriger und langwieriger Prozess war.

Die Erfahrungen der Industrieländer geben genug Beispiele. Zunächst ist es die ge-scheiterte wirtschaftliche Entwicklung der sowjetischen Länder, die zwar durch zent-ralisierte Planwirtschaft imstande waren, das ökonomische Wachstum zu beschleu-nigen, aber durch die starre Ideologie und durch das daraus geschaffene statische Politiksystem den Veränderungen der soziokulturellen und wirtschaftlichen Umge-bung nicht folgen konnten und nicht fähig waren, der wachsenden Konkurrenz zu antworten.65 Das zweite Beispiel liefert Japan mit seinem “Familismus”.66 Früher galt diese Familientradition als eine Alternative zur kapitalistischen und rational-bürokratisch gebauten Wirtschaftsstruktur. Nach der Wirtschaftskrise Anfang 1997 sagt man, dass ihr auf dieser asiatischen Kultur basierendes Wirtschaftssystem in der kritischen Situation nicht widerstandsfähig genug sei.

64 Siehe dazu auch Moore, 154-174. Nach Moore setzt die Industrialisierung bestimmte Präkonditio-nen im sozialen und geistigen Bereich sowie im Bereich der sozialpolitischen InstitutioPräkonditio-nen und der Verwaltung voraus und wird vor allem von Wandlungen der Wirtschaftsorganisation, der Bevölke-rungsstruktur und Raumverteilung wie auch von Veränderungen des politischen und kulturelles Sys-tems begleitet.

65 S. dazu die Analyse von Ronald Inglehart: Modernisierung und Postmodernisierung. Kultureller, wirt-schaftlicher und politischer Wandel in 43 Gesellschaften, Frankfurt/Main-New York 1998, S. 47ff.

66 „Familismus” ist eine auf familiäre Arbeits- und Herrschaftsbeziehung gestützte Gesellschaftsnorm, in der der Staat auf der höheren Ebene und das Unternehmen auf der unteren Ebene als eine Fami-lie betrachtet wird und das Staat-Bürger- bzw. das Führung-Arbeiter-Verhältnis die Eltern-Kind-Beziehung widerspiegelt. Die Familienharmonie wird durch das Senioritätsprinzip, also Respekt und Loyalität gegenüber den Älteren sowie Versorgung und Schutz der Jüngeren hergestellt. „Familien-wirtschaft” ist also nicht gleich „Vettern„Familien-wirtschaft”. Sie unterscheiden sich durch ihr Rekrutierungs-system. Während Vetternwirtschaft die verwandtschaftliche sowie freundschaftliche Beziehung be-günstigt, beruht Familienwirtschaft im Arbeitssystem auf Rationalität.

Diese Fakten waren auch der Anlass zur weiteren Diskussion über die Universalität der Modernisierung, nämlich erstens, ob die Modernisierung universell oder ethno-zentrisch ist, und zweitens, ob der Modernisierungsprozess euro-amerikanischer Gesellschaften als Modell für andere Gesellschaften verwendbar ist.

1.1.4. Die Entwicklung der Entwicklungstheorie