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Die Sonderrolle der Übergangsgesellschaften

Für die Klassifizierung der Gesellschaften nach ihrem Entwicklungsstand verwenden einige Wissenschaftler, die die Modernisierung als Gesamtentwicklungsprozess ver-stehen, lieber Begriffe wie „traditionell”, „modern” und „postmodern”. Andere, die die Veränderung der Produktionstechnik und der Wirtschaftsstruktur als entscheidenden und deutlicher zu beobachtenden Vorgang in der gesellschaftlichen Gesamtentwick-lung sehen, bevorzugen Kategorien wie „vorindustrielle/agrarische Gesellschaft”, „in-dustrielle Gesellschaft” und „postin„in-dustrielle oder Dienstleistungsgesellschaft”, weil sie der Ansicht sind, dass der Vollzug der Industrialisierung auch den der Moderni-sierung bedeutet. Für manche sind „traditionell” und „modern” sogar nur eine andere modische Bezeichnung für „alt/unentwickelt” bzw. „neu/fortschrittlich”,95 so dass Wor-te wie „traditionelle Industrie” und „moderne Industriegesellschaft” auch gebraucht werden.

„Traditionell” ist die verbreitete Bezeichnung für Gesellschaften mit Eigenschaften wie unter anderem das nicht maschinelle Produktionssystem, feudales oder diktato-risches Herrschaftssystem, große Einflüsse der religiösen sowie moralischen Werte auf die Beziehungen zwischen den Gesellschaftsmitgliedern und darauf beruhende starke soziale Kontrolle. Diese Merkmale deuten auf die vorausgegangene soziale Ordnung, die soziologisch als „Tradition” definiert wird. Zu den traditionellen Gesell-schaften zählen somit solche GesellGesell-schaften, die sich nach der „Tradition” richten, also Gesellschaften, die sich an „von vorausgegangenen Generationen überlieferte

95 Das Wort „modern” stammt von spätlateinisch „modernus” und bedeutet „heutig, neuzeitlich.“ Siehe Schäfers, Bernhard: Moderne, in: Ders. (Hrsg.): Grundbegriffe der Soziologie, 5. Aufl., Opladen 1998, S. 246.

Wertvorstellungen, Verfahrensweisen, Verhaltensmuster, Orientierungsweisen, Vor-urteile und Legitimitätsmaßstäbe”96 halten.

Der Begriff „traditionell” ist deshalb wie die Tradition selber relativ.97 Er beschränkt sich eigentlich nicht auf eine bestimmte Art von sozialer Ordnung, sondern bedeutet die Übernahme und das Akzeptieren der „vorausgegangenen” Gesellschaftsord-nung. Die Kategorie „traditionell” wird von Außenstehenden verwendet, die eine Tradition bereits verlassen haben, um alle anderen so zu nennen, die noch an der-selben Tradition hängen.98 In diesem Sinne ist „traditionell” für eine Republik etwa die Monarchie, für die Monarchie vielleicht das Hordensystem.

Da nach dem heutigen Entwicklungsstand der Gesellschaften Afrikas und Asiens die Begriffe „traditionelle Gesellschaft“ und „vormoderne Gesellschaft“ ebenso umstritten sind wie der Begriff „Dritte Welt“ nach dem Untergang der sowjetischen Welt, ver-wendet man lieber neutrale Bezeichnungen wie „Entwicklungsländer“,99 „Transforma-tiongesellschaft“100 und „Übergangsgesellschaft“. Zu dieser Kategorie gehören Ge-sellschaften, die die vorindustrielle101 Phase bereits verlassen haben, die Industrie-staatlichkeit jedoch noch nicht erreicht haben und noch dahin streben. Diese Begrif-fe lenken die Betrachtung der so bezeichneten Gesellschaften auf die wirtschaftliche Entwicklung und den technischen Fortschritt und versuchen dabei die sozio-kulturellen Entwicklungsunterschiede nicht zu den Ursachen der Rückständigkeit zu zählen.

96 Vgl. Hillmann, Karl Heinz: Wörterbuch der Soziologie, 4. überarb. und erg. Aufl., Stuttgart 1994, S.

879f.

97 Vgl. Eisenstadt, S. N.: Tradition, Wandel und Modernität, 1. Aufl., Frankfurt/Main 1979, S. 43f.

98 Patricia Crone betrachtet „traditionell” als den Gegenbegriff von „fortschrittlich” und betont die stati-sche Eigenschaften von „Tradition”. Vgl. Crone, Patricia: Die vorindustrielle Gesellschaft. Eine Strukturanalyse, München 1992, S. 211.

99 Siehe Nohlen/Nuscheler, Handbuch, a.a.O.

100 Siehe Zapf, Wolfgang: Entwicklung als Modernisierung, in: Schulz, S. 41ff.

101 Der Begriff „vorindustrielle Gesellschaft” lässt sich eigentlich auch der Kategorie „traditionell” zuord-nen. Dessen Bedeutung soll jedoch nur auf traditioneller, nicht maschineller und unfabrikmäßiger Produktionsweise beruhen, und zwar in Gesellschaften mit einer überwiegend agrarischen Wirt-schaftsstruktur, deren Produkte hauptsächlich durch Handwerk oder manuell betriebene Maschinen hergestellt werden. In der herkömmlichen Anwendung wird die Kategorie „vorindustriell” allerdings auch mit der Bezeichnung „traditionell” oder „unmodern” gleichgesetzt. Die modernisierungstheore-tische Annahme dieser Klassifizierung ist dergestalt, dass mit dem Wandel der Produktionsweise und der wirtschaftlichen Struktur die anderen sozialpolitischen sowie geistig-kulturellen Bedingun-gen auch entsprechend mitgewandelt sind.

Soziologisch kann man jedoch die sozio-kulturelle Natur solcher Gesellschaften her-auskristallisieren, ohne dabei die sozialpolitischen und sozialwirtschaftlichen Eigen-schaften zu ignorieren. Einen erfolgreichen Versuch macht Richard Behrendt. Nach seiner Kategorie sind Übergangsgesellschaften solche Gesellschaften, die von Statik zur Dynamik übergegangen sind, die nicht mehr traditionell, kontemplativ, magisch und ordnungserhaltend, sondern fortschrittlich, rationell, kalkulatorisch und ord-nungsändernd sind.102 Im Vergleich zur statischen traditionellen Gesellschaft birgt die dynamische Übergangsgesellschaft wegen ihres wechselhaften Charakters Zu-kunftsunsicherheit und beinhaltet die Gefahr von Enttäuschungen und Ärger.103 Sie ist deshalb eng mit Konflikten verbunden, sodass Behrendt sie – hoch überzeugt – für „immer disharmonisch”, „unwirksam” in dem Einfluss der religiösen und traditio-nellen Werte auf das Leben des Einzelnen, „gefährdet” aufgrund der Disharmonie und der unwirksamen Gesellschaftsordnung und deshalb auch für „labil” hält.104 Dank ihrer offenen Art erzeugt die Übergangsgesellschaft in sich oft Konfrontation und provoziert Konflikte, weshalb sie nur in einer zivilisierten Gesellschaft funktio-niert, die fähig ist, sich rational d. h. mit Vernunft und unemotional in Konfliktaustra-gungen zu verhalten. Das gilt ebenso für die freie Marktwirtschaft, wo man oft auf Frustration stößt und keine Ruhe findet, weil man sich ständig ändern muss, um zu überleben. Dieser dynamische Charakter der Übergangsgesellschaft im politischen und wirtschaftlichen Bereich verlangt nicht nur die aktive Teilnahme der Gesell-schaftsmitglieder, um erfolgreich funktionieren zu können, sondern auch stete Vor-sicht und Konzentration der Bürger auf das politische und wirtschaftliche Geschehen in ihrer Umgebung, während es in den traditionellen, statischen und „unkomplizier-ten“ Politik- und Wirtschaftssystemen weniger notwendig ist.

Diese Merkmale der Übergangsgesellschaft kommen in einer Gesellschaft vor, weil die Bereitschaft zur Entwicklung in der Gesellschaft existiert. Behrendt definiert

102 Vgl. Behrendt, Richard F.: Der Mensch im Licht der Soziologie, Stuttgart 1962, S. 29.

103 Vgl. Behrendt, Richard F.: Soziale Strategie für Entwicklungsländer. Entwurf einer Entwicklungsso-ziologie, Reihe Welt im Werden, Frankfurt/Main 1965, S. 150f.

104 Ebenda, S. 155-161.

Entwicklung als „gelenkten dynamischen Kulturwandel in einem Sozialgebilde (gleich welcher Größe), verbunden mit wachsender Beteiligung immer zahlreicherer Mitglie-der des Sozialgebildes an Mitglie-der FörMitglie-derung und Lenkung dieses Wandels und an Mitglie-der Nutznießung seiner Ergebnisse”.105 Daran ist zu sehen, dass die Entwicklung für ihn keineswegs einen zufälligen Wandel von bereits existierenden Zuständen bedeutet, sondern die Bemühungen der gesellschaftlichen Mitglieder, eine bessere Zukunft zu gestalten, und zwar auf allen Ebenen der Kultur:106 der technischen, der wirtschaftli-chen sowie der gesellschaftliwirtschaftli-chen,107 und mit einer immer breiteren Partizipation.

Die Übergangsgesellschaften müssen also bewusst die oben genannte Unannehm-lichkeit auf sich nehmen, weil sie bereit sind, sich zu wandeln. Es liegt also nun einmal in der Natur der Übergangsgesellschaften, dass sie immer mit einer solchen Paradoxie verbunden sind.

1.2. Theorien der politischen Entwicklung