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Die „Reifung“ des Mittelstandes

Im Dokument am Beispiel der Entwicklung Indonesiens (Seite 182-188)

der indonesischen Gesellschaft

6.1. Die „Reifung“ des Mittelstandes

Was hier mit der „Reifung des Mittelstandes“ gemeint ist, ist die Entwicklung des in-donesischen Mittelstandes zum bedeutenden Träger der politischen und wirtschaftli-chen Entwicklung als das Ergebnis des Differenzierungsprozesses, der im vorheri-gen Kapitel erörtert wurde. Obwohl der Begriff „Mittelstand“ nicht unproblematisch ist, wird wegen seiner wesentlichen Rolle für die Entwicklung der indonesischen Ge-sellschaft in dieser Arbeit trotz der Definitionsschwierigkeiten versucht, ihn im indo-nesischen Kontext zu analysieren. Hier wird „Mittelstand“ als eine Mischung von Einkommensmittelschichten verstanden, die untere, mittlere und obere Mittelschich-ten umfasst.1 Es geht hier weniger um die Klassifizierung der Gesellschaft nach ih-rem Verhältnis zur Produktion nach marxistischem Verständnis, wobei der Mit-telstand die untere Bourgeoisie und das obere Proletariat wäre. Der MitMit-telstand wird hier mehr in seiner Funktion im weberschen Sinne als Initiator des Transformations-prozesses von traditioneller zu rationaler Herrschaft, von feudalen zu kapitalisti-schen, bürokratischen Produktionsverhältnissen verstanden. Diese Funktion hängt zusammen mit dem Zugang zu materiellen Ressourcen, was von der Einkommens-höhe abhängig ist. Wichtig ist zudem der Einfluss auf sozialpolitische Entscheidun-gen, die durch Informationsbesitz, die Fähigkeit diese Informationen zu analysieren sowie durch die Chance anhand dieser Informationsanalyse Änderungen in der Ge-sellschaft zu beeinflussen, bestimmt ist.

Da es keine zuverlässigen statistischen Daten über das Bevölkerungseinkommen gibt, kann die Bestimmung des indonesischen Mittelstandes nicht über diesen Para-meter erfolgen. Die Zugehörigkeit zum Mittelstand bestimmt sich nach indonesi-schem Kulturverständnis auch weniger über die Einkommenshöhe als durch die Kri-terien der Ausbildung, der Berufsposition und des Lebensstils.2

1 Siehe Dick, H. W.: Further Reflections on The Middle Class, in: Tanter, Richard und Young, Kenneth (ed.): The Politics of Middle Class Indonesia, Monash Paper on Southeast Asia, No. 19, Clayton 1990, S. 66.

2 Vgl. Robison, Richard: The Middle Class and the Bourgeoisie in Indonesia, in: Robison, Richard and Goodman, David S. G. (ed.): The New Rich in Asia. Mobile phones, McDonalds and Middle-class Revolution, London 1996, S. 79-95 und Evers, Hans-Dieter: Social Mobility and the Transformation of Indonesian Society, Working Paper No. 202, Bielefeld 1994, S. 3, 10, 11. Vgl. außerdem Dick, S.

63-66.

Ein bedeutendes Kriterium für die Definition des indonesischen Mittelstandes, das statistisch beobachtbar ist, ist der Besitz des Ober- bzw. Hochschulabschlusses. Da die Ausbildung in Indonesien trotz staatlicher Subvention ein Luxus ist,3 hängt das Ausbildungsniveau oft vom Einkommen ab. Durch dieses Kriterium wird also nicht nur die Urteilsfähigkeit bestimmt, sondern auch die Zugehörigkeit zur Einkommens-mittelschicht. Nach diesem Kriterium würde der Anteil des indonesischen Mittelstan-des an der gesamten Bevölkerung dann wie in Abb. 6.1. aussehen. Die Einkom-menshöhe und der Berufserfolg können außerdem durch den Besitz von Motorrad bzw. Auto, Handy und Computer festgestellt werden. Der Konsum von Büchern, (Tages)Zeitungen bzw. Zeitschriften, weniger Radio und Fernseher, ist auch charak-teristisch für den indonesischen Mittelstand, da dies nicht nur mit der Fähigkeit, zu lesen und zu verstehen oder für indonesische Verhältnisse teuere Printmedien zu kaufen zu tun hat, sondern besonders mit der Bedeutung dieser Medien für ihre Verbraucher. Sie bieten im Vergleich zu Radio und Fernseher weniger Unterhal-tungsmöglichkeit als (politische oder wissenschaftliche) Informationen an, für die sich der Mittelstand interessiert. Typisch für die indonesische Mittelschicht heutzutage ist auch das Wohnverhalten. Charakteristisch ist z. B. das Wohnen im Perumahan, einem Wohnviertel, in dem die Regierung und später private Bauunternehmer güns-tige Häuser mittels staatlicher Subventionen für Beamte und Angestellte errichtet haben.4 Der derzeitige indonesische Mittelstand identifiziert sich außerdem durch die Gewohnheit des Einkaufens in Einkaufzentren oder in Supermärkten anstatt im traditionellen Pasar (Marktplatz) oder Toko (Tante-Emma-Laden) sowie durch das Essengehen in Einkaufszentren oder bei amerikanischen Fastfood-Ketten, wie Mc-Donald, Pizza-Hut, KFC, TFC, Wendy, usw.

3 Siehe zum Bildungssystem Kap. 5.5.

4 Dieses Wohnverhalten deutet auf einen Wandel der Mittelschicht hin: Sie ist aus dem meist dichter besiedelten, vorkolonialistischen Wohnviertel in der Stadt, Kampung, mit mehr gemeinschaftlicher Beziehung zwischen den Bewohnern ausgezogen, und in den mehr homogenen Perumahan mit mehr individualistischen Nachbarbeziehungen eingezogen. Dass das Wohnen im Kampung oder im Dorf, Desa, weniger angesehen ist als im Perumahan, hängt nicht nur damit zusammen, dass die Bewohner des Perumahan von Beruf fast nur Beamte, Angestellte und Hochschulabsolventen wie Lehrer, Ärzte und Ingenieure und keine Arbeiter sind, während die Bewohner im Kampung und Desa eine Mischung von Unterschichten und Mittelschichten mit unterschichtlicher Mehrheit sind, sondern auch damit, dass die Bezeichnung kampungan oder ndeso (javanisch) auf Armut und unsittliches Verhalten deutet. Vgl. Evers, S. 11 und Dick, S. 64f u. 67f.

Dieses Bild deutet auf den Wandel des indonesischen Mittelstands von der Kolonial-zeit bis zur Erringung der Demokratie hin, bei dem er, anders als manche behaup-ten, aktiv an der sozialpolitischen Entwicklung beteiligt war. In der Kolonialzeit, be-einflusst von der „Ethischen Politik“ der Holländer und der japanischen Großasiati-schen Politik, engagierte sich der indonesische Mittelstand, d. h. Beamte und Ange-stellte der Kolonialverwaltung,5 politisch in der Unabhängigkeitsbewegung und sozial für die Verbesserung des allgemeinen Lebensstandards. Nach der Unabhängigkeit, unter der parlamentarischen Demokratie und unter Soekarnos Gelenkter Demokra-tie, wirkte er ebenfalls aktiv am politischen Geschehen mit. Anders war es jedoch unter Soehartos Neuer Ordnung, wo das autoritäre Regime dem reformfreudigen Mittelstand aktive politische Beteiligung untersagte und auch erfolgreich dabei war, ihn davon abzuhalten. In dieser Zeit konnte er im politischen Bereich nicht viel be-wegen. Da der Eintritt in die Politik für ihn lebensgefährlich war, investierte er die für ihn typische dynamische Energie im wirtschaftlichen Bereich.6

2 ,3 8 %

6 ,6 7 %

1 1 ,2 0 %

1 5 ,2 9 %

2 0 ,5 6 %

1 9 7 1 1 9 8 0 1 9 9 0 1 9 9 5 1 9 9 8

In d o n e s is c h e r M it te ls ta n d

( A r b e its k r ä f te m it O b e r - u . H o c h s c h u la b s c h lu s s )

Abb. 6.1. Anteil des indonesischen Mittelstandes an der Gesamtbevölkerung

5 In Java waren es die Priyayi. Siehe Kap. 2, S. 73f.

6 Siehe dafür die Politik der Neuen Ordnung im Kap. 5.3. und Kap. 5.5 auch Kap. 4.3.

Bei dieser Entwicklung ist festzuhalten, dass der Mittelstand unter der Neuen Ord-nung keineswegs passiv und unkreativ geworden war. Im Gegenteil: Er war kreativ in dem Sinne, dass er anpassungsfähig war und das Beste unter den begrenzenden Umständen zu leisten vermochte. Entscheidende Neuerungen im wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Bereich sind dem progressiven Mittelstand zu verdanken: die Rationalisierung der Personalrekrutierung, die graduelle Ersetzung der feudalen durch eine demokratischere Arbeitsatmosphäre und die Professionalisierung und Einführung einer effizienteren Arbeitsweise, um den internationalen Standard zu er-füllen. Sein konsumorientiertes Verhalten, was manche als gaya hidup boros, ver-schwenderischen Lebensstil, bezeichnet haben,7 war für die Entwicklung der Markt-wirtschaft nötig. Außerdem konnten seit Anfang der 90er Jahre die Banken durch die Abschaffung der Zinssätze mit (hohen) Sparzinsen und einfacher Kreditvergabe um Kunden werben, wodurch die Spar- und Investitionsgewohnheiten8 sowie neue Unternehmensgründungen innerhalb des Mittelstandes gefördert wurden. Die Folge dieser Deregulierung des Banksektors war, dass die Zahl der kleinen Industrieunter-nehmen, die ausschließlich von der Mittelschicht betrieben werden, um 18 % von 1,9 Millionen (1990) auf 2,2 Millionen (1996) zunahm, sich die Spareinlagen um 213 % von 38 Trillionen Rupiah (1988) auf 118 (1993) vermehrten sowie die Kreditvergabe um 183 % von 44 Trillionen Rupiah (1988) auf 125 (1993) anwuchs.9

Die Anpassungsfähigkeit des Mittelstandes, die sich positiv auf die wirtschaftliche Entwicklung auswirkte, zeigte im politischen Bereich wegen der Entpolitisierungspoli-tik der Soeharto-Regierung weniger Wirkung. Nach dem Forschungsergebnis des Southeast-Asian-Middle-Class-Projekts in Jakarta war dem Mittelstand die wirtschaft-liche Entwicklung (Stabilität, Wachstum, Arbeitsplatzverfügbarkeit, Kampf gegen

7 Vgl. Kompas, 17.03.1997, „Gaya Hidup Boros Merebak di Negara Berkembang“.

8 Laut dem Forschungsergebnis des Southeast-Asian-Middle-Classes-Projekts (SEAMC), das in Kom-pas, 30. September 1996 (Gaya Hidup Kelas Menengah Baru Jakarta) veröffentlicht wurde, hatten 88% des neuen Mittelstandes und 70 % des marginalen Mittelstandes ein Sparkonto bei der Bank.

Sogar fast die Hälfte des neuen Mittelstandes investiert ihr Geld in Form von Versicherungspolicen als Zukunftsvorsorge und 2,1 % bei der Aktienbörse. Dies zeigt, dass der Umgang mit modernen Fi-nanzinstitutionen dem Mittelstand nicht fremd ist.

9 Quelle: Pusat Data Departement Perindustrian dan Perdagangan: Statistik Industri Indonesia 1996 - 2000, Jakarta 2000 und Bank Indonesia: Statistik Keuangan Indonesia, Juli 1993, Jakarta 1993.

beitslosigkeit) wichtiger als Demokratisierung und politische Partizipation.10 Für die meisten (68 %) war es hinnehmbar, dass die Rede- und Organisationsfreiheit der nationalen Stabilität geopfert wurde, da dadurch die Grundlage für die wirtschaftliche Entwicklung geschaffen wurde. Ihre Meinung, dass einerseits die Soeharto-Regierung das Beste für die Gesellschaft tat (73 %), dass andererseits die Regie-rung die Meinung der Massen mehr anhören (93 %) und mehr Pressefreiheit (80 %) und mehr Meinungsfreiheit (54 %) zulassen sollte, deutet darauf hin, dass ihnen die politische Entwicklung eigentlich nicht egal war, dass es aber eine (versteckte) Angst unter ihnen gab, sich politisch zu beteiligen, was unter einem autoritären Regime verständlich ist. Es war also weniger eine konservative Haltung des indonesischen Mittelstandes gegenüber der Demokratisierung, als ein Warten auf die richtige Zeit, um politische Reformen durchzusetzen.11

Diese Tatsache wurde seit Anfang der 90er Jahre sichtbar und war schon vor der Wirtschaftskrise offenkundig geworden. Die Aufmerksamkeit des Mittelstandes auf die Politik und die Hoffnung auf politische Reformen stiegen aufgrund des durch das hohe Alter Soehartos und durch den Tod seiner Frau möglichen Führungswechsels.

Die Zunahme der LSM (NRO) als eine Alternative zur unwirksamen, da beschränk-ten und manipulierbeschränk-ten, politischen Beteiligung durch Parteien war ein Zeichen für die aktive Teilnahme des Mittelstandes am sozialpolitischen Geschehen. Denn fast alle NRO wurden vom Mittelstand gegründet.12 Auch die Studentenbewegung wurde durch die studentischen NRO-Mitglieder motiviert und gefördert.13 Deutlicher wurde die Mitwirkung des Mittelstands an der Politik durch die Aktionen der Studenten, die

10 Siehe Kompas, 30.09.1996, „Survai ‚Kompas’ tentang Kelas Menengah Jakarta. Antara Stabilitas dan Demokrasi.”

11 Vgl. z. B. Schwarz, Adam: A Nation in Waiting. Indonesia in the 1990s, St. Leonards 1994, S. 280f.

und 287ff.

12 Vgl. Fakih, Mansour: Nichtregierungsorganisationen in Indonesien: Vom Developmentalismus zur Transformation, in: Pasuhuk, Hendra und Koesoemawiria, Edith (Hrsg.): Traum der Freiheit. Indo-nesien 50 Jahre nach der Unabhängigkeit, Köln 1995, S. 149f.

13 Die enge Bindung der NRO Studentenbewegung, wird durch die Tatsache bestätigt, dass die NRO-Mitglieder, die vom Militär als kommunistisch und subversiv verdächtigt, später entführt und unter Folter verhört wurden, Studenten waren. Die bekanntesten von ihnen waren unter anderem Petrus Bima Anugrah (Student der Philosophischen Hochschule Driyakarya und Mitglied der damals verbo-tenen Demokratischen Volkspartei, PRD), Faisol Riza und Rahardjo Waluyo Jati (beide waren Stu-denten der Gajah-Mada-Universität, UGM und Mitglieder der KNPD, des Nationalkomitees des de-mokratischen Kampfes), Maqbul Halim (Student der Hasanudin-Universität Ujung Pandang und Mit-glied der studentischen Pers Identitas), Andi Arief (Leiter der Solidarität der indonesischen Studen-ten für die Demokratie der Gajah-Mada-Universität und Mitglied der PRD). Die StudenStuden-ten leiteStuden-ten ihr Interesse an politischer Beteiligung in die Teilnahme an NRO-Aktivitäten zur Hilfe von benachteilig-ten Gesellschaftsgruppen um. Vgl. Artikel von Budiman Sudjatmiko in Kompas, 20.12.2000, „Gera-kan Mahasiswa Kini: Bersama Rakyat Tuntas„Gera-kan Reformasi Total“.

ja ein Teil des Mittelstands sind. Im Vergleich zu ihren „älteren und schon berufstäti-gen Genossen“ sind sie idealistischer und nekad, waghalsig. Trotz der verhängten NKK/BKK14 hatten sie ihr Interesse an politischer Beteiligung durch große Kundge-bungen (z. B. 1987 in Ujung Pandang gegen Regierungsmaßnahmen zu Verkehrs-regeln, Glücksspiel und wirtschaftliche Deregulierung), durch mimbar bebas, freie Rede an der Uni, auch mit Theatervorführungen und durch die Bildung von Solidari-tätsgruppen ausgedrückt (z. B. 1995 gegen die Verbannung der kritischen Zeitung, Suara Independen, 1996 gegen die Affäre vom 27. Juli,15 1997 gegen die Teilnahme an der Volkswahl 1997 mit der Bildung der Golput (Golongan Putih), Weißer Gruppe, sowie mit zahlreichen Aktionen gegen Menschenrechtsverletzungen in Fällen wie Kedungombo, Cimacan, Osttimor, Aceh usw.).

Von diesen NRO und Studentenbewegungen distanzierte sich allerdings der Rest der mittelständischen Masse zu Beginn noch. Sozialpolitisch aktiv war 1992 und verstärkt 1997/1998 die Unterschicht, nämlich die meist ungelernten Industriearbei-ter, die an Protestkundgebungen gegen niedrige Löhne, schlechte Arbeitsbedingun-gen sowie willkürliche EntlassunArbeitsbedingun-gen teilnahmen. Erst nachdem die mittlere Mittel-schicht, die (Bank)Angestellten, – infolge der Bankenliquidierung und der damit ver-bundenen Massenentlassung – von der asiatischen Wirtschaftskrise betroffen war, strömten große Teile des Mittelstandes auf die Straße und lösten eine wirksamere politische Bewegung aus als die Unterschichten. Während die Forderungen der Un-terschichten nur um ihre eigenen (Überlebens)Interessen gingen und wegen ihrer niedrigeren Ausbildung, begrenzter Ressourcen und strategischer Beziehungen (zum Ausland, zur politischen Elite) kaum Wirkung hatten oder zur Unterstützung der politischen Elite, vor allem des Militärs, führten, fielen die Proteste des Mittelstandes wegen ihrer überzeugenden und sinnvollen Inhalte im Vergleich zu denen der Unter-schichten auf fruchtbaren Boden. Hieran wird die Entwicklung des Mittelstands vom Träger der wirtschaftlichen Entwicklung zum politischen Reformer deutlich. Die Rolle des Mittelstandes als politischer Entwicklungsträger wird im nächsten Unterkapitel erörtert.

14 Siehe Kapitel 4.3., S. 137.

15 Siehe Kapitel 4.3., besonders Anmerkung 34.

Im Dokument am Beispiel der Entwicklung Indonesiens (Seite 182-188)