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3. DAS WEIBLICHE GESCHLECHT UND SUCHTMITTELABHÄNGIGKEIT

3.2 Merkmale einer Suchtmittelabhängigkeit bei Frauen

3.2.4 Soziale Merkmale suchtmittelabhängiger Frauen

Nebst den geschlechtsspezifischen Konsummustern und typischen Verhaltensweisen unter-scheiden sich auch die Lebenswelten und sozialen Merkmale suchmittelabhängiger Frauen von denen von Männern.

Stigmatisierung

Wird eine Suchtmittelabhängigkeit bei Frauen aus einer traditionellen, konservativen gesell-schaftlichen Perspektive betrachtet, so steht sie im Widerspruch zur sozialen Pflicht: Eine Frau

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soll eine gute Mutter sein, mit fürsorglichen Eigenschaften für ihre Kinder sowie für ihren Partner. Eine Suchtmittelabhängigkeit wird somit als Bruch mit der gesellschaftlichen Rollen-erwartung gesehen und führt zu stärkerer Stigmatisierung als bei Männern (Gabriele Fischer, 2010, S. 149). Diese Stigmatisierung zeigt sich besonders, wenn Frauen beispielsweise in der Öffentlichkeit auffällig trinken (Heinzen-Voss & Ludwig, 2016, S. 17). Aus diesem Grund kommt es wie bereits erwähnt zum versteckten und heimlichen Konsum (Zenker, 2016, S. 74).

Negative Gefühle

Frauen tendieren im Gegensatz zu Männern grundsätzlich eher zu selbstkritischem Denken und dadurch einer Verminderung des Selbstwerts (Opp & Fingerle, 2007, S. 107).

Untersuchungen in der Schweiz, welche im Jahr 2015 im stationären Bereich bei suchtmittel-abhängigen (Alkohol, Medikamente, illegale Drogen und suchtähnliches Verhalten) Frauen und Männern durchgeführt wurden, haben gezeigt, dass Frauen viel öfter (72%), als Männer (52%) angaben, Schuldgefühle oder das Gefühl von Wertlosigkeit zu empfinden (Marina Del-grande Jordan, 2015, S. 75). Ebenfalls gaben 47% der alkoholabhängigen Frauen an, im Ge-gensatz zu 28% der alkoholabhängigen Männer, praktisch täglich nach dem Konsum von Al-kohol unter Schuldgefühlen zu leiden (Marina Delgrande Jordan, 2015, S. 62 75).

Weiblicher Umgang mit Problemen und Belastungen

Die Sozialisationsforschung hat nachgewiesen, dass Frauen bei Anspannungen, Belastungen und Angstgefühlen öfter als Männer mit psychosomatischen Beschwerden reagieren (Singer-hoff, 2002, S. 38). Wie bereits im Kapitel 3.1.1 Sozialisation erwähnt wurde, leiden Mädchen und Frauen häufiger unter psychischem und körperlichem Druck, da sie Belastungen interna-lisieren. Frauen haben oft weniger Strategien gelernt, um mit Problemen und Konflikten um-zugehen, und glauben, alle Schwierigkeiten mit sich selbst ausmachen zu müssen (Kaminski, 2011, S. 60). Sie neigen dazu, Probleme und Konflikte zuerst nach innen zu nehmen; sie ver-arbeiten sie innerhalb ihrer Person und richten die entstehenden Aggressionen eher gegen sich selbst (Böhnisch & Funk, 2002, S. 127-128). Nach Singerhoff (2002) zeigt sich dies beson-ders im Zusammenhang mit Autoaggression und selbstverletzendem Verhalten, ebenso durch das Entwickeln einer Angststörung (Singerhoff, 2002, S. 57) oder Befindlichkeitsstörungen (Böhnisch & Funk, 2002, S. 127-128). So tragen Frauen ihre Probleme folglich in Form von Krankheitssymptomen nach aussen (Böhnisch & Funk, 2002, S. 127-128). Frauen rasten in der

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Regel erst dann aus, wenn sie nicht mehr anders können, tragen Probleme und Konflikte nach aussen, wenn es nicht mehr anders geht. Die geäusserte Aggressivität wird dann jedoch von der Umwelt oft als Kontrollverlust gesehen, für nicht normal oder krankhaft gehalten (Böh-nisch & Funk, 2002, S. 127-128), denn für eine Frau gehört es sich nicht, aggressiv aufzutreten, obwohl dies manchmal hilfreich wäre (ebd., S. 239). Jungen und Männer verarbeiten innere Unruhe und Anspannung meistens mittels Aggressivität und Körperaktivität nach aussen.

Auch wenn dieses Verhalten nicht immer ideal ist, so hat es zumindest den Vorteil, dass Jun-gen und Männer weniger unter psychischem und körperlichem Druck stehen als Mädchen und Frauen (Singerhoff, 2002, S. 38).

Diese Innenorientierung der Frauen kann einerseits als Vorteil betrachtet werden, da sie dadurch einen besseren Zugang zu ihrer Innenwelt haben, Gefühle besser wahrnehmen und auch die Gefühle von anderen besser verstehen können. Schwäche, Trauer und das Bedürfnis nach Geborgenheit wird bei Frauen eher akzeptiert als bei Männern. Jedoch werden diese Eigenschaften und die Innenorientierung von der Umwelt nicht als Stärke von Frauen angese-hen, sondern eher als Eigenheiten, welche zu Frauen gehören (Böhnisch & Funk, 202, S. 129).

So kann laut Kerschl (2002) eine Suchtmittelabhängigkeit bei Frauen als die weibliche Art der Problemlösung angesehen werden, da Frauen nicht gelernt haben, Konflikte selbstsicher, aggressiv und offen auszutragen (S. 137). Eine Suchtmittelabhängigkeit kann folglich in schwierigen Situationen als Bewältigungsstrategie dienen, wo keine anderen Strategien oder Kontrollmöglichkeiten vorhanden sind (Singerhoff, 2002, S. 53).

Beziehungsorientierung und Beziehungsgestaltung

Frauen lernen während ihrer Sozialisation, ihre eigenen Bedürfnisse hintenanzustellen oder sogar zu verleugnen. Sie übernehmen oft viel oder zu viel Verantwortung für andere und ha-ben die Tendenz, sich aufzuopfern. Die Sensibilität für Beziehungen, welche Frauen schon früh in ihrem Leben entwickeln und die auch als Ressource betrachtet werden kann, kann ihnen jedoch das Leben erschweren und für sie selbst belastend werden, da sie nicht auf ihre eigenen Bedürfnisse achten (Bundesamt für Gesundheit, 2012, S. 7).

Suchtmittelabhängige Frauen haben oft kein stabiles soziales Netz und nur wenige tragende Freundschaften (Bundesamt für Gesundheit, 2012, S. 7). Allgemein lässt sich dies als Risiko

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faktor bestimmen. Bei Frauen kann das Eingebundensein in ein soziales Netz wie das der Fa-milie jedoch auch negativ wirken und einen heimlichen Konsum verstärken, da Angst vor Stig-matisierung besteht (Breuker-Gerbig, Heinzen Voss & Tödte, 1999, S. 28). Im Gegensatz zu Männern erhalten Frauen weniger Unterstützung aus ihrem sozialen Netzwerk, wenn sie aus der Suchtmittelabhängigkeit aussteigen möchten (Bundesamt für Gesundheit, 2012, S. 7).

Suchtmittelabhängige Frauen und ihre Partner

Folgend wird auf die partnerschaftlichen Beziehungen von suchtmittelabhängigen Frauen ein-gegangen. Die beschriebenen Kriterien gelten für alkohol- und drogenabhängige Frauen, wo-bei sich in der verwendeten Literatur keine Hinweise finden, ob sie auch für medikamenten-abhängige Frauen gelten.

Suchtmittelabhängige Frauen tendieren allgemein zu abhängigen Beziehungen. Darin erleben sie häufiger Verletzungen und Enttäuschungen und machen traumatische Erfahrungen (Bun-desamt für Gesundheit, 2012, S. 7). Laut Zenker (2005) befinden sich suchtmittelabhängige Frauen oftmals in problematischen Partnerschaften, die sich durch eine aktuelle oder frühere Suchtproblematik des Partners auszeichnen kann (S. 473). Suchtmittelabhängige Männer le-ben allerdings öfter in einer Partnerschaft mit Frauen ohne Abhängigkeitserkrankung (Hein-zen-Voss & Ludwig, 2016, S. 17). Beziehungen mit ebenfalls suchtmittelabhängigen Partnern bergen ein hohes Risiko für Rückfälle und sind oft konfliktgeladen (Bundesamt für Gesundheit, 2005, S. 7), wobei auch Gewalt vorkommen kann (Breuker-Gerbig, Heinzen Voss & Tödte, 1999, S. 28

).

Kennzeichnend ist, dass Frauen ihre suchtmittelabhängigen Partner meistens unterstützen, während sie selbst bei einer Abhängigkeit oftmals wenig Unterstützung von ih-rem Partner erhalten oder sogar verlassen werden (Heinzen-Voss & Ludwig, 2016, S. 17).

Sieber et al. stellten bei Nachbefragungen von 140 Patientinnen und 529 Patienten nach ei-nem stationären Aufenthalt in der Forel Klinik2 fest, dass für Frauen eine Partnerschaft oder Kinder in Bezug auf eine Alkoholabstinenz nicht unterstützend wirken. Bei Männern gelten sie jedoch als Schutzfaktor (Sieber et al., 2002; zit. in Silvia Gavez, Samuel Keller & Trudi Beck, 2017, S. 33). Das Zusammenleben mit den Kindern scheint für die Frauen oft eine Belastung

2 Klinik für die Behandlung von Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit in Ellikon an der Thur, Kt. ZH

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zu sein, weil sie sich mit der Erziehung überfordert fühlen oder auch aufgrund von Schuld- und Schamgefühlen wegen ihrer Suchtmittelabhängigkeit (Gavez, Keller & Beck, 2017, S. 40).

Schwangerschaft und Muttersein

Wenn während einer Schwangerschaft psychoaktive Substanzen konsumiert werden, kann dies erhebliche Auswirkungen auf das ungeborene Kind haben (Kaminski, 2011, S. 66). Opiat-konsum während der Schwangerschaft kann dazu führen, dass das Kind bereits mit Entzugs-erscheinungen auf die Welt kommt, weil es selbst eine Abhängigkeit entwickelt hat (Kaminski, 2011, S. 66). Ein chronischer, aber auch schon punktueller Alkoholkonsum während der Schwangerschaft kann schwerwiegende Folgen für das Kind haben. In der wissenschaftlichen Literatur werden diese durch Alkohol bedingten Schäden am Kind fetales Alkoholsyndrom (FAS) genannt. Dazu gehören beispielsweise Wachstumsverzögerungen, körperliche Auffällig-keiten im Gesicht oder am Kopf, Schädigungen am zentralen Nervensystem und weitere Auf-fälligkeiten (Sucht Schweiz, 2014). Im Rahmen dieser Arbeit kann nicht weiter auf das FAS eingegangen werden. Es ist jedoch zentral, dass schwangere Frauen in der Beratung auf das Thema aufmerksam gemacht und falls nötig geeignete Massnahmen eingeleitet werden.

In der Gesellschaft wie auch in Fachkreisen besteht häufig die Ansicht, dass suchtmittelab-hängige Frauen keine Kinder bekommen sollten und auch nicht fähig seien, diese zu erziehen.

Diese Frauen stehen unter grossem gesellschaftlichem Druck, was wiederum zu Schuldgefüh-len führt. Dies hat zur Folge, dass sich die Frauen erst spät oder keine Hilfe und Unterstützung holen, da sie Angst vor Sanktionen und Kindesschutzmassnahmen haben (Bundesamt für Ge-sundheit, 2012, S. 10). Obwohl die Befragung von Sieber et al., die vorgängig erwähnt wurde, gezeigt hat, dass Kinder in Bezug auf eine Alkoholabstinenz keine unterstützende Funktion haben, legt das BAG (2012) dar, dass ein eigenes Kind zu haben auch eine Perspektive im Leben der Frauen darstellen kann. Die Gedanken an eine gemeinsame Zukunft kann ihnen einen Sinn geben (S. 10) und sie dazu motivieren, ihr Konsumverhalten zu ändern (Martina Tödte, Silvia Kaubisch & Anne Leuders, 2016, S. 168). Somit kann der Wunsch nach einem Kind auch der Wunsch nach Normalität sein respektive danach, als Frau in der Gesellschaft akzep-tiert zu werden (Tödte, Kaubisch & Leuders, 2016, S. 166). Trotz allem kann diese neue Le-benssituation auch Versagensängste und Krisen auslösen und somit die Rückfallgefahr

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hen. Oftmals sind die Frauen auf sich alleine gestellt und erhalten keine weitere Unterstüt-zung aus dem Umfeld (Bundesamt für Gesundheit, 2012, S. 10). Insbesondere weil die Frauen und natürlich auch die Kinder hohen Risiken ausgesetzt sind, ist die Begleitung und Betreuung von suchtmittelabhängigen Frauen in und nach der Schwangerschaft zentral (Tödte, Kaubisch

& Leuders, 2016, S. 168). Erschwerend wirkt, dass es nicht viele stationären Einrichtungen für Frauen mit Kindern gibt, was dazu führen kann, dass die Frauen ein Hilfsangebot nicht anneh-men können, da keine Betreuungsmöglichkeiten für das Kind bestehen (Kaminski, 2011, S.

66).

Gesundheit

Frauen weisen häufig bereits bevor ein Missbrauch von Substanzen entsteht psychische Er-krankungen wie beispielsweise Depressionen, Posttraumatische Belastungsstörungen, Angst- oder Essstörungen auf (Heinzen-Voss & Ludwig, 2016, S. 17). Sie sind zudem häufiger von Komorbidität3 betroffen als Männer (Bundesamt für Gesundheit, 2012, S. 9). Die im Jahr 2002 vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung publizierte Studie, welche be-reits im Kapitel 3.1.4 erwähnt wurde, zeigte bei der Befragung von 908 Frauen in 55% aller Suchtfachkliniken in Deutschland, dass 59,8% schon einmal unter einer psychischen Störung gelitten hatten. 48% haben irgendwann im Leben unter einer Depression gelitten, 32% gaben an, unter massiven Ängsten und 16% unter Panikattacken gelitten zu haben (Zenker, Bam-mann & Jahn, 2002, S. 96-97). Vogelsang (2016) weist darauf hin, dass der Konsum von Sucht-mitteln folglich dazu dienen kann, die Symptome von psychischen Störungen temporär abzu-schwächen, längerfristig komme es jedoch zu einer Verstärkung der psychischen Störung (S.

213).