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4. FRAUENSPEZIFISCHE SUCHTARBEIT

4.1 Entstehungsgeschichte und Verlauf

Es ist der feministischen Frauenbewegung zu verdanken, dass das Thema Frau und Sucht zu Beginn der 1980er-Jahre zum öffentlichen Diskurs wurde. Themen, welche damals mit einem Tabu besetzt waren wie beispielsweise der Zusammenhang von Trauma und Substanzkonsum oder sexuelle Gewalt und Substanzkonsum, wurden öffentlich gemacht (Martina Tödte, 2016, S. 89). Um zu verstehen, was frauenspezifische Suchtarbeit bedeutet, muss historisch etwas

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zurückgeblickt werden in eine Zeit, in der die gesellschaftliche Rollenverteilung zwischen Mann und Frau und das Rollenbild der Frau vom heutigen abweichen.

Die Auseinandersetzung mit dem Thema Frau und Sucht begann in den 1970er-Jahren (Frauke Schwarting, 2005, S. 10), sowohl in Deutschland als auch in den USA, England und Skandina-vien (Ernst, Rottenmanner & Spreyermann, 1995, S. 14).

Die Feministinnen gingen damals von folgenden Frauenbildern aus:

Der Lebensalltag von Frauen ist von Abhängigkeit gekennzeichnet. Sie haben viel weniger Möglichkeiten, sich zu entfalten, haben weniger Handlungsmöglichkeiten als Männer und sind stärker gebunden und somit benachteiligt. Der Grund dafür ist die Stellung und Funktion der Frau in der Gesellschaft. Frauen sind hauptsächlich für den privaten Bereich, also die Familie, Führung des Haushalts und die Kindererziehung verantwortlich. Für die Erwerbsarbeit ist in erster Linie der Mann zuständig. Dies führt dazu, dass die Frauen finanziell vom Ehemann abhängig sind. Sie identifizieren sich über ihn. All dies fördert den Suchtmittelkonsum, was die Frauen jedoch nochmals abhängiger macht. Der Suchtmittelkonsum ist somit ein sichtba-rer Ausdruck dieser Abhängigkeit (Merfert-Diete & Soltau, 1991, S. 16-17).

Merfert-Diete und Soltau (1991) beschreiben dazu:

Wenn es das Ziel von Frauen ist, sich aus der Abhängigkeit von Medikamenten, Alkohol und illegalen Drogen zu lösen, ist es unumgänglich zu verstehen, dass ihre Suchtmit-telabhängigkeit nicht in erster Linie eine Abhängigkeit von diesen Stoffen ist, sondern eine Abhängigkeit von den spezifischen weiblichen Einstellungen, Gefühlen, Verhal-tensweisen, menschlichen Beziehungen und Wünschen (…). Die Befreiung von den Suchtmitteln ist ein Emanzipationsprozess, der von der spezifischen Abhängigkeit von Frauen und ihren ganz konkreten Belangen auszugehen hat und in dem es um die Ge-winnung von Unabhängigkeit geht. (S. 21)

Die Feministinnen sahen sich und die betroffenen Frauen vor allem als Opfer von männlicher Gewalt und männlicher Unterdrückung. Die Frauen sollten sich also von dieser Abhängigkeit befreien und nicht nur für andere leben. Sie sollten lernen, sich nicht über den Ehemann, sondern sich über ihr eigenes Leben zu definieren und sich selbst als wichtig und wertvoll anzunehmen. Erkennbar sollte dies am Verzicht auf den Suchtmittelkonsum gemacht werden (Merfert-Diete & Soltau, 1991, S. 20-21). Aus diesem Grund galt für die Feministinnen der

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damaligen Zeit Abstinenz als oberstes Ziel (Merfert-Diete & Soltau, 1991, S. 22). Schwarting (2005) merkt an, dass jedoch auch die begrenzten Entwicklungsmöglichkeiten von Frauen in der Beratung und der Therapie kritisiert wurden. Beanstandet wurde, dass Frauen und Män-ner gleich behandelt und männliche Bedürfnisse mit denen der Frauen gleichgesetzt wurden.

Erkenntnisse aus der Arbeit in therapeutischen Einrichtungen zeigten auf, dass Frauen andere Erfahrungen aufwiesen als Männer und dass diese miteinbezogen werden mussten. Es wurde grundsätzlich von einer männlichen (Sucht-)Biografie ausgegangen, und demzufolge gab es für Frauen zu wenig Raum, um ihre individuellen Erfahrungen zu bearbeiten (S. 10-11). Ein weiteres Problem, das die Entwicklung der Frauen behinderte, bestand darin, dass in den In-stitutionen Männer meist in der Überzahl waren und die Frauen von den Männern häufig als sexuelle Objekte wahrgenommen wurden. Ein grosser Teil der Frauen hatte jedoch in der Ver-gangenheit Erfahrungen mit Gewalt oder Missbrauch durch Männer gemacht, somit wirkten sich die gemischtgeschlechtlichen Gruppen negativ auf die Frauen aus. In den Institutionen bestanden häufig starre hierarchische Regeln und Sanktionspraktiken, welche sich als ungüns-tige Lernbedingungen für Frauen erwiesen. Der Schwerpunkt der Kritik an diesen Umständen lautete, dass solche Bedingungen die Abhängigkeit von Frauen förderte statt behob. Die Mit-arbeiterinnen in den Institutionen erachteten es zwar als wichtig, die gemachten Erfahrungen der Frauen zu bearbeiten, konnten dies aber aufgrund der vorhandenen Strukturen nicht um-setzen, da kein Schutzraum für Frauen existierte. Diese Erkenntnis war einer der wichtigsten Gründe, sich vertieft mit den Geschlechtsunterschieden im Suchtbereich auseinanderzu-setzen (Schwarting, 2005, S. 10-11). Darauf folgten die ersten stationären frauenspezifischen Institutionen, in welchen die Frauen einen suchtmittelfreien Alltag trainieren konnten (Irm-gard Vogt, 2003, S. 3). Dazu gehörte beispielweise die therapeutische Wohngemeinschaft Vio-letta Clean in Berlin (Ernst, Rottenmanner & Spreyermann, 1995, S. 14). Später kamen auch niederschwellige, nicht abstinenzorientierte Projekte dazu (Daniela Weissengruber, 2008, S.

74).

Im Gegensatz zu den gemischtgeschlechtlichen Einrichtungen zeichneten sich feministische Projekte dadurch aus, dass es dort weder Sanktionen noch starre Therapiestufensysteme oder Hierarchien gab. Transparenz und eine antihierarchische Haltung gegenüber den Mitar-beiterinnen und den Klientinnen galten als wichtigste Arbeitskriterien. Es versteht sich

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tisch von selbst, dass in den feministisch geprägten Institutionen nur Frauen arbeiten (Breu-ker-Gerbig, Heinzen-Voss & Tödte, 1999, S. 16). Elke Peine (2016) fügt an, dass eine reine Frauenberatung den Klientinnen ermöglicht, diskriminierende Erlebnisse und Erfahrungen an-zusprechen und zu verarbeiten sowie sich unverfälscht und intensiv mit ihren Emotionen aus-einandersetzen zu können (S. 6). Damit in den therapeutischen und beraterischen Settings die Einschränkungen und Unterordnung, welche die Frauen im Alltag ständig erlebten, nicht wie-dergegeben wurden und sie sich nicht wiederholt in neue Abhängigkeiten begaben, wurde Wert auf Transparenz gelegt in Bezug auf die Arbeitsmethoden und die Zusammenarbeit so-wie die Stärkung der Selbsthilfe (Schwarting, 2005, S. 16-17).

Ab den 1980er-Jahren änderte sich das Frauenbild. Frauen wurden trotz gesellschaftlicher Diskriminierung als aktive und selbstbestimmte Individuen gesehen. Heute gibt es viele Frauen mit hohen Bildungsabschlüssen, die keine Kinder haben, weil sie keine wollen. Sie ha-ben somit einen grossen Einfluss auf das Rollenverständnis und das Selbstbewusstsein der jüngeren Generation von Frauen (Vogt, 2003, S. 3). So sehen sich junge Frauen heutzutage nicht mehr verstrickt in einem Netz von Abhängigkeiten wie früher. Sie fühlen sich heute eher überfordert, zwischen unzähligen verschiedenen Möglichkeiten zu wählen und für sich den richtigen Weg zu finden (ebd., S. 4).

Hier muss erwähnt werden, dass trotz der Auflösung der traditionellen Frauenrolle und ob-wohl heutzutage auf gesetzlicher Ebene beide Geschlechter gleichgestellt sind, dies jedoch noch nicht für alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens gilt (Marie-Louise Ernst & Heino Stöver, 2012, S. 4). So verdienen Frauen nach wie vor je nach Branche 6 bis 21% weniger als Männer, ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind schlechter als die der Männer, und sie sind in wichtigen Entscheidungsgremien und höheren Positionen in der Wirtschaft weniger vertre-ten (Humanrights, 2017). Frauen sind noch immer öfter teilzeiterwerbstätig als Männer, spe-ziell dann, wenn sie Kinder haben. Ausserdem tragen sie meist neben der Erwerbsarbeit und der Haushaltsführung die Hauptverantwortung für die Erziehung und Betreuung der Kinder (Bundesamt für Statistik, 2009, S. 5).

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