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Haltung, Werte und Ziele der frauenspezifischen Suchtarbeit

4. FRAUENSPEZIFISCHE SUCHTARBEIT

4.3 Haltung, Werte und Ziele der frauenspezifischen Suchtarbeit

Die frauenspezifische Suchtarbeit zeichnet sich durch eine bestimmte Haltung, Werte und Ziele aus, wie sie im Folgenden beschrieben werden.

Als Grundvoraussetzung ist eine Haltung gefragt, welche von den Werten Respekt, Empathie, Solidarität und Parteilichkeit gekennzeichnet ist. Dabei spielt die Parteilichkeit gerade in der geschlechtsspezifischen Beratung eine wichtige Rolle (Heinzen-Voss & Ludwig, 2016, S. 26).

Parteilichkeit bedeutet, dass die spezifischen Erwartungen beachtet werden müssen, welche von der Gesellschaft an Frauen und Männer gestellt werden. Das heisst, typische Muster der Schuldübernahme oder Abwertung zu thematisieren, die Sozialisation und die unterschied-lichen Lebensrealitäten von Frauen wie auch Störungen, Vermeidungsverhalten und Überle-bensstrategien aufzudecken und den Klientinnen zu helfen, neue Lebensziele zu finden. Dabei ist eine wertschätzende und akzeptierende Haltung hilfreich und unterstützt eine Neuorien-tierung (Christel Zenker et al., 2005, S. 37).

Ein zentrales Ziel der frauenspezifischen Suchtarbeit ist die Selbstermächtigung respektive die Selbstbefähigung der Klientin, damit sie wieder Kontrolle über ihr Leben gewinnen kann. Denn das Gewinnen der Kontrolle über das eigene Leben hat einen grossen Einfluss auf ihre Verän-derungsmotivation (Peine, 2016, S. 84). Laut Breuker-Gerbig, Heinzen-Voss und Tödte (1999) werden weitere Ziele in der frauenspezifischen Beratung vorgeschlagen, welche folgend auf-geführt werden. Diese erheben allerdings keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Ebenso müs-sen jedes Mal der Einzelfall betrachtet und die Fähigkeiten und Grenzen der betroffenen Frau berücksichtigt werden (S. 20).

Die Entwicklung von Autonomie und Selbstachtung

Themen wie das Entwickeln von Zukunftsperspektiven, sich von schädlichen, abhängigen Be-ziehungen zu lösen, eigene Interessen zu entdecken, Strategien zu finden, um den Alltag zu

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bewältigen, sich mit der Mutterrolle und Erziehungsfragen auseinanderzusetzen und Eigen-verantwortung zu übernehmen sind bedeutungsvoll (Breuker-Gerbig, Heinzen-Voss & Tödte, 1999, S. 21).

Das Verstehen der eigenen Suchtgeschichte

Die Frauen sollen verstehen, welche Funktion das Suchtmittel in ihrem Leben hat sowie die Zusammenhänge erkennen, wieso sie Suchtmittel konsumieren (Breuker-Gerbig, Heinzen-Voss & Tödte, 1999, S. 22). Dabei kann zum Beispiel das Thema Sucht als Selbstheilungsver-such angesprochen werden (Bundesamt für Gesundheit, 2012, S. 12). Dazu gehört auch das Thematisieren der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die einen Einfluss auf den Sucht-mittelkonsum der Frauen haben (Bundesamt für Gesundheit, 2012, S. 12). Bedeutsam ist auch das Reflektieren von Schuld- und Schamgefühlen, innere Spannungszustände und Lust- und Unlustgefühle wahrzunehmen und einordnen zu können sowie sexuelle, körperliche und psy-chische Gewalterfahrung zu thematisieren (Breuker-Gerbig, Heinzen-Voss & Tödte, 1999, S.

22).

Das Selbstwertgefühl verbessern und ein positives Selbstbild aufbauen

Hier sind Themen wie eigene Stärken und Schwächen wahrnehmen, sich selbst wichtig und ernst nehmen, ein realistisches Selbstbild entwickeln und das Akzeptieren von Persönlich-keitsanteilen, die bisher abgelehnt wurden, zentral (Breuker-Gerbig, Heinzen-Voss & Tödte, 1999, S. 23). Das Ziel soll dabei sein, das Selbstwertgefühl sowie die Selbstwirksamkeitserfah-rung der Klientin zu stärken. Wichtig ist, kleine Schritte zu planen und Erfolge, auch wenn sie noch so klein sind, aufzuzeigen. Während der Beratung sollten der Klientin immer wieder Wahlmöglichkeiten aufgezeigt werden (Bundesamt für Gesundheit, 2012, S. 12).

Soziale Kompetenzen erweitern und Durchsetzungsfähigkeit erlernen

Das Erkennen eigener Bedürfnisse sowie diese zu formulieren und durchsetzen zu können und die Bereitschaft zu entwickeln, sich Konflikten und Auseinandersetzungen zu stellen, sind dabei elementar (Breuker-Gerbig, Heinzen-Voss & Tödte, 1999, S. 24).

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4.4 Wesentliche Erkenntnisse aus dem Kapitel

Es ist der feministischen Frauenbewegung zu verdanken, dass das bis dahin unberücksichtigte Thema Frau und Sucht Anfang der 1980er-Jahre in den Fokus der Öffentlichkeit geriet (Weis-sengruber, 2008, S. 74). Das Frauenbild des Feminismus war zu diesem Zeitpunkt geprägt von Abhängigkeit und Unterdrückung. Der weibliche Suchtmittelkonsum wurde in diesem Zusam-menhang als Ausdruck dieser Abhängigkeit verstanden (Merfert-Diete & Soltau, 1991, S. 16-17). Zu dieser Zeit wurde davon ausgegangen, dass es die Einsicht der Frauen braucht, dass ihre Suchtmittelabhängigkeit mit den Abhängigkeitsverhältnissen ihres Lebens zusammen-hängt und sie sich nur durch eine Abstinenz daraus befreien können (Merfert-Diete & Soltau, 1991, S. 20-22). Aus der vorgebrachten Kritik an der männlichen Sichtweise der Abhängig-keitserkrankung und der fehlenden Beachtung des weiblichen Geschlechts dabei, entstanden so die ersten feministisch geprägten frauenspezifischen Institutionen. Diese zeichneten sich durch ihre antihierarchischen und transparenten Strukturen aus. Dabei wurden die Klientin-nen nur von Frauen therapiert und begleitet, um ihKlientin-nen dadurch eiKlientin-nen Schutzraum zu ermög-lichen (Breuker-Gerbis, Heinzen-Voss & Tödte, 1999, S. 16).

Gleichzeitig mit dieser Entwicklung veränderte sich auch das gesellschaftliche Bild der Rolle der Frau. Doch trotz dieses Emanzipierungsprozesses befinden sich Frauen teilweise auch heute noch in ungleichheitsreproduzierenden Verhältnissen (Ernst & Stöver, 2012, S. 4). Wird die Entwicklung der frauenspezifischen Suchthilfe in der Schweiz beobachtet, lässt sich erken-nen, das zwischen 1990 und 1995 hauptsächlich durch das Engagement grosses nationaler Organisationen wie dem BAG oder der Schweizerischen Fachstelle für Alkohol- und andere Drogenprobleme (SFA) einige Angebote geschaffen wurden. Doch durch die Grösse der Deutschschweiz und die damit fehlende Anonymität und die ebenfalls prozesserschwerenden föderalistischen Strukturen der Schweiz wurde diese Entwicklung von Beginn an gehemmt (Spreyermann, 2006a, S. 3-5). Abgesehen von der zweiten Befragung zur Umsetzung der frauenspezifischen Angebote in den Organisationen im Suchtbereich im Jahr 2005 lassen sich kaum aktuelle Publikationen zu dieser Thematik finden. Lediglich durch das dritte Massnah-menpaket des Bundes zur Verminderung der Drogenprobleme 2006-2011 (MaPaDro III) wurde das Thema Gender im Bereich der Suchthilfe wieder aufgegriffen (Bundesamt für Ge-sundheit, 2006, S. 6). Diese Entwicklung zeigt die Tendenz vom Loslösen von rein frauenspe-zifischen Ansätzen hin zur Gleichstellungspolitik des Gender Mainstreaming. Dabei wird davon

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ausgegangen, dass die herrschenden Geschlechterverhältnisse von Frauen und Männern gleichermassen geprägt werden und somit beide Geschlechter die Verantwortung für die Ver-änderung dieser Verhältnisse tragen (Christian Schenk, 2008, S. 154). Diese Entwicklung zeigt sich auch bei der Auseinandersetzung mit der Haltung, den Werten und den Zielen der frauen-spezifischen Suchtarbeit. Diese ähneln stark den Zielen gendergerechter Suchtarbeit und bauen auch auf deren Grundgedanken auf. Jedoch werden sie durch die frauenspezifische Sichtweise und frauenspezifische Zielsetzungen erweitert (Quinten, 2002a, S. 171). Dabei gilt als zentralstes Ziel die Selbstermächtigung/Selbstbefähigung der Klientinnen (Peine, 2016, S.

84).

Festhalten lässt sich dabei, dass die Grundgedanken der feministisch geprägten frauenspezi-fischen Suchtarbeit eher veraltet scheinen. Die meisten deutschsprachigen Studien wie auch die bestehende Fachliteratur dazu beziehen sich grösstenteils auf die Zeit zwischen den Jah-ren 1975 und 1995. Wie bereits erwähnt, wird dem Thema Gender in der Suchthilfe weiterhin Beachtung geschenkt, jedoch mehr unter dem Label des Gender Mainstreaming. Ohne die Vorarbeit der Feministinnen in der Frauenförderung wäre es jedoch vielleicht nie so weit ge-kommen. Nun bleibt die Frage offen, wie dieses Wissen der frauenspezifischen Suchtarbeit in der Praxis der Sozialen Arbeit umgesetzt werden kann. Dieser Frage widmen sich die Autorin-nen in den nächsten beiden Kapiteln.

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