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4. URSACHEN VON AUFFÄLLIGKEITEN

4.1. Bio-psycho-soziales Modell

4.1.3. Soziale Faktoren

Neben den biologischen und psychischen spielen die sozialen Faktoren ebenfalls eine zentrale Rolle, wenn es um die Ursachen von Auffälligkeiten im Erleben und Verhalten geht. Dabei handelt es sich – laut einer Untersuchung von Landerkamp et al. 2009, welche sich mit 158 deutschen Pflegefamilien befasst – um die wohn- und wirtschaftlichen Faktoren der Herkunft-seltern. Die Wohnsituation einer Familie kann ein Indiz für ein schwieriges Umfeld sein, in dem das Kind aufwächst. Leben in einer Familie mehr als fünf Personen in einem Haushalt, steigt das Risiko für konfliktbehaftete Situationen. Dies wurde in der Untersuchung bei 45 Pro-zent der Familien festgestellt. Dieser Umstand muss nicht zwingend zu einer Verschlechterung der Lebenssituation führen, denn das Zusammenwohnen mit den Geschwistern bringt auch Vorteile mit sich. Vielmehr geht es hier um den Platz, den die Familien zur Verfügung haben.

22 Prozent der befragten Familien, die mit mehr als fünf Personen in einem Haushalt wohnen,

Gesamtsituation aus Sicht der Jugendämter bei 63 Prozent als sehr schwach und bei 33 Prozent als schwach eingeschätzt (vgl. Linderkamp et al., 2009, S. 863–880).

Zusätzlich zur Wohnungssituation ist laut Berger et al. (2015) auch die Einkommenslage einer Familie entscheidend. Eltern treffen aufgrund ihres Wissens über die Gesundheit ihres Kindes Entscheidungen darüber, welche qualitativen und quantitativen finanziellen und wirtschaftli-chen Investitionen sie tätigen. Wohlhabende Eltern haben die Möglichkeit, mehr und hochwer-tigere Produkte und Dienstleistungen zu konsumieren als einkommensschwächere Familien.

Somit können sich Familien mit einem höheren sozioökonomischen Status qualitativ hochwer-tigere Betreuung leisten, welche sich auf das spätere Verhalten der Kinder auswirkt. Zudem ist noch der allgemeine Gesundheitszustand zu betonen, welcher, im Vergleich zu Gleichaltrigen mit höherem sozioökonomischem Status, schlechter ausfällt (vgl. Berger et al., 2015, S. 156–

157).

Ein weiterer Prädiktor, welcher als Ursache für Auffälligkeiten im Erleben und Verhalten bei Pflegekindern gesehen wird, ist die Vernachlässigung. Sie gilt als die am weit verbreitetste Form der Misshandlung bei Kindern und laut Fortin (2020) ist sie der häufigste Grund, warum Kinder in Pflegefamilien untergebracht werden. Dadurch können Probleme auftreten, die eine dauerhafte medizinische Versorgung beanspruchen. Dazu zählen Verletzungen, verhaltensbe-dingte Gesundheitsprobleme, Unterversorgung bei Nahrung und Pflege sowie chronische Krankheiten (vgl. Fortin, 2020, S. 1). Mehrere Untersuchungen – wie auch jene von Linder-kamp et al. (2009) – kamen zu dem Ergebnis, dass sich die Vernachlässigung eines Kindes negativ auf die allgemeine Befindlichkeit auswirkt. Es konnte eine signifikante Korrelation zwischen der Ausprägung von psychischen Problemen und Vernachlässigung nachgewiesen werden (vgl. Linderkamp et al., 2009, S. 875). Auch Kinard (2004) konnte einen Zusammen-hang zwischen dem Grad der Vernachlässigung und dem Ausmaß der Verhaltensauffälligkeiten feststellen (vgl. Kinard, 2004, S. 312).

In der Forschung über Vernachlässigung bei Kindern kann zwischen unterschiedlichen Formen differenziert werden. Zu den häufigsten Formen zählen (1) die körperliche, (2) emotionale, (3) bildungsbezogene, (4) kognitive und erzieherische, (5) medizinische und (6) die mentale Ver-nachlässigung. Die körperliche Vernachlässigung beinhaltet eine Unterversorgung in den Be-reichen Nahrung, Kleidung oder auch Hygiene. Im Gegensatz dazu umfasst die emotionale Vernachlässigung einen Mangel an Zuwendung, emotionaler Unterstützung und ist durch häus-liche Gewalt gekennzeichnet. Die dritte Form der Vernachlässigung zeigt sich durch regelmä-ßiges Schulschwänzen, welches meist mit einem verantwortungslosen Handeln der Eltern in Beziehung steht. In Verbindung mit einer bildungsbezogenen Vernachlässigung steht die

kognitive und erzieherische Vernachlässigung. Hierbei kann ein Mangel in der Kommunikation und unzureichende anregende Erfahrungen festgestellt werden. Auch der Förder- und Erzie-hungsbedarf bleibt für Kinder unzugänglich. Die fünfte Form beinhaltet die Verweigerung einer medizinisch erforderlichen Behandlung, wobei dies häufig im Zusammenhang mit religiösen Überzeugungen steht. Damit in Verbindung steht die Vernachlässigung der mentalen Gesund-heit, welche eine empfohlene psychische Behandlung beinhaltet. Jede einzelne Form der Ver-nachlässigung kann eine dauerhafte Schädigung des Gesundheitszustandes bei Kindern bewir-ken sowie als Ursache für Auffälligkeiten im Erleben und Verhalten gesehen werden (vgl.

Sierau et al., 2014, S. 1087, 1089). Vernachlässigung tritt am häufigsten auf, wenn mehrere Faktoren zusammenspielen. Es ist auszuschließen, dass die Vernachlässigung nur in einem Be-reich stattfindet, wie zum Beispiel in der Hygiene. In den meisten Fällen kommt es zu einer Kombination verschiedener Formen, sodass Vernachlässigung in Verbindung mit Misshand-lung auftritt und das Verhalten des Kindes prägt (vgl. Nowacki, 2015, S. 49).

Eine weitere Ursache für Auffälligkeiten, die das Verhalten und Erben der Pflegekinder beein-flussen, sind Traumata. Pflegekinder haben häufig traumatische Erfahrungen erlebt und deren Folgen werden beispielsweise in der Entwicklung der Kinder deutlich. Wie im Kapitel 2.7.1 beschrieben, resultieren traumatische Erfahrungen unter anderem aus fehlender Sicherheit und unzureichender Integrationsmöglichkeit. Dadurch entstehen Gefühle von Angst und Hilflosig-keit, wodurch alltägliche Situationen für die Betroffenen schwer zu bewältigen sind. Es kommt zu Belastungen, die sich durch Wutanfälle, Reizbarkeit und Störungen im Schlafverhalten äu-ßern. Zudem haben Pflegekinder ein höheres Risiko an psychischen Störungen wie Schizophre-nie zu erkranken (vgl. Nowacki & Remiorz, 2018, S. 61,63). Besonders das Bindungsverhalten der Pflegekinder ist nach traumatischen Ereignissen auffällig. Manche der Pflegekinder neigen zu Risikoverhalten, andere wiederum können sich nicht von ihrer Bezugsperson lösen. Außer-dem fällt es Pflegekindern nach erlebten Traumata schwer, auf ihre innere Stimme zu hören.

Die Wahrnehmung des eigenen Körpers sowie das Schmerzempfinden der Kinder ist häufig verzerrt. Die Folge davon ist eine geringe Affektregulation, wodurch auch Emotionen häufig stärker gezeigt werden als bei Kindern, die keine Traumata erlebt haben. Es wird angenommen, dass die Auffälligkeiten der Pflegekinder nach einem traumatischen Erlebnis in der Abwehr von Gefahren resultiert. Es handelt sich dabei nicht um eine Willensentscheidung, sondern ei-nen Überlebensmechanismus (vgl. Gruber, 2016, S. 3,7f.).

Der letzte Punkt, welcher in dieser Forschungsarbeit bei den sozialen Faktoren beschrieben wird, und vor allem bei Kindern und Jugendlichen zentral ist, handelt von den Peers. Wie auch im Kapitel 3.3.3 beschrieben wurde, können bei Straftaten im Jugendalter in über zwei Drittel

aller Fälle mehr als eine Person als Täter*in identifiziert werden. Dabei handelt es sich um Delikte wie Graffitisprühen, Vandalismus oder auch Körperverletzung. Allgemein erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, problematisches Verhalten zu zeigen, wenn Kontakte zu Freund*innen bestehen, die ein abweichendes Verhalten zeigen. Primär handelt es sich dabei um den Sucht-mittelkonsum, das Schulschwänzen oder den Schulabbruch (vgl. Baier et al., 2010, S. 309f.).

Zu beachten gilt, dass der Einfluss der Peers im Jugendalter stark zunimmt, da mit den Freund*innen mehr Zeit verbracht wird als mit den Familienmitgliedern (vgl. van Hoorn et al., 2016, S. 90). Heranwachsende sind besonders anfällig für den Einfluss von Gleichaltrigen, denn sie erleben viele Veränderungen ihres Körpers über einen relativ kurzen Zeitraum. Weiters vergleichen sich junge Menschen mit anderen, um festzustellen, ob ihr Verhalten angemessen ist oder nicht. Es geht auch darum, dass sich die Jugendlichen von ihren Eltern abgrenzen und sich ein eigenes Selbstbild erschaffen (vgl. Maxwell, 2002, S. 267f.).

Peers haben einen unerlässlichen Stellenwert füreinander, denn sie tragen zur Identitätsfindung bei, dienen als Gesprächspartner*innen und können einander vieles anvertrauen. Es besteht ein starkes Bedürfnis, Freundschaften aufrecht zu erhalten, und darum sind Kinder, und vor allem Jugendliche, besonders offen gegenüber Einflüssen, ungeachtet dessen, ob diese positiv oder negativ sind (vgl, Baier et al., 2010, S. 310).

Zusammenfassend können laut dem bio-psycho-sozialen Modell die Gene, das Verhalten der biologischen Mutter, die Persönlichkeit und das Temperament sowie die Wohn- und Einkom-menssituation als auch die Peers als Ursachen für Auffälligkeiten ausfindig gemacht werden.

All diese Faktoren stehen miteinander in Verbindung und beeinflussen sich gegenseitig. So kann ein vernachlässigendes familiäres Umfeld zu mehr Kontakt mit Peers führen, wodurch ein Kind unter Umständen auf die schiefe Bahn gerät.

Bisher wurden in den ersten Kapiteln die Pflegekinder und die Pflegeeltern in Österreich, die Auffälligkeiten im Erleben und Verhalten von Pflegekindern sowie deren Ursachen beschrie-ben. Die weiteren theoretischen Ausführungen beziehen sich einerseits auf die Belastungen, die Pflegeeltern durch ihre Tätigkeit erfahren, und andererseits auf die Ressourcen, die sie benöti-gen, um mit den Anforderungen umzugehen. Sowohl die Belastungen als auch die Ressourcen stehen im Zentrum des folgenden Kapitels und werden anhand der Ausführungen von Klaus Wolf geschildert.