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3. AUFFÄLLIGKEITEN IM ERLEBEN UND VERHALTEN

3.3. Externalisierende Auffälligkeiten

Im Gegensatz zu den internalisierenden, fokussieren sich externalisierende Auffälligkeiten auf das beobachtbare Verhalten einer Person. Es handelt sich dabei um eine nach außen gerichtete Problembewältigung, die sich unter anderem durch Fremdaggression oder Hyperaktivität zeigt (vgl. Lüdeke & Linderkamp, 2018, S. 21). Im Zuge einer Untersuchung des Deutschen Jugend-instituts (DJI) und dem Deutschen Institut für Jugendhilfe und Familienrecht (DIJuf) wurden 427 Pflegeeltern gebeten, Auskunft über das Verhalten ihrer Pflegekinder zu geben. Die Ergeb-nisse zeigen zwei Mal höhere behandlungsbedürftige Auffälligkeiten im Verhalten als in der

Referenzbevölkerung. Wie diese Untersuchung aus dem Jahr 2006 konnten auch internationa-len Studien zeigen, dass Auffälligkeiten im Verhalten bei Kindern und Jugendlichen, die in Pflegefamilien untergebracht wurden, keine Seltenheit sind. Die Forschungsergebnisse aller fünf Studien, welche in der nachstehenden Grafik (Abbildung 1) dargestellt sind, wurden mit demselben Fragebogen durchgeführt, wobei die Pflegeeltern Angaben über das Verhalten ihrer Pflegekinder machten. In allen fünf Untersuchungen ließ sich eine im unteren Drittel klinisch relevante Verhaltensauffälligkeit feststellen (vgl. DJI & DIJuf, 2006, S. 36f.).

Wie auch im Unterkapitel der internalisierenden Auffälligkeiten werden nun die externalisie-renden Auffälligkeiten geschildert, die bei Pflegekindern häufig auftreten. Dazu wird zu Beginn die Auffälligkeit beschrieben und mit Hilfe von aktuellen Studien greifbar gemacht. Anfangs wird auf die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) eingegangen und da-nach werden die Auffälligkeiten Aggression und Delinquenz behandelt.

3.3.1. ADHS

Kinder oder Jugendliche, die an einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung leiden, sind meist mit ihrer Umwelt überfordert. Ihr Handeln ist gekennzeichnet durch das Abbrechen von Aufgaben, leichte Ablenkbarkeit und durch den häufigen Wechsel von Aktivitäten. Die Kinder und Jugendlichen sind besonders unruhig, ratlos und leiden an motorischer Überaktivi-tät. Es fällt den Kindern schwer, still zu bleiben, besonders in Situationen, die es verlangen, wie in der Schule oder im Theater. Sie haben den Drang, sich zu bewegen, Lärm zu machen und viel zu sprechen. Ein weiters Symptom ist impulsives Handeln. Die Betroffenen agieren, ohne

Abbildung 1: Verhaltensauffälligkeiten; Quelle: DJI und DIJuf, 2006, S. 36

sich vorher Gedanken über ihr Tun zu machen, und begeben sich dadurch in gefährliche Situa-tionen. Weitere Erscheinungen, die häufig auftreten, sind Kontaktschwierigkeiten, ein niedriges Selbstwertgefühl und Lernschwierigkeiten. Durch ihr Verhalten gelangen sie oft in die Außen-seiterrolle und gelten als Störenfriede (vgl. Fröhlich-Gildhoff, 2007, S. 117f.). Wie häufig Pfle-gekinder an ADHS leiden, soll nun anhand von aktuellen Untersuchungen genauer erläutert werden.

Eine bereits zitierte Studie von Lehmann et al. befasste sich 2013 neben Angststörungen bei Pflegekindern auch mit deren Auffälligkeiten im Verhalten. Hier wurde jedoch nicht die ge-samte Stichprobe von rund 400 Pflegekindern herangezogen, sondern nur 279 (70,5 Prozent).

Von dieser Stichprobengröße ausgehend, konnten drei Auffälligkeiten bei den Kindern festge-stellt werden. Laut den Ergebnissen litten 24 Prozent an emotionalen Störungen, 21,5 Prozent an Verhaltensstörungen und bei 19 Prozent konnte ADHS festgestellt werden. Insgesamt kamen bei 30 Prozent der Untersuchten zwei der drei genannten Auffälligkeiten zum Vorschein und bei 13 Prozent konnten alle drei Problematiken nachgewiesen werden (vgl. Lehmann et al., 2013, S. 1). Dies zeigt, dass Hyperaktivität meist mit anderen Störbildern auftritt und auch bei Pflegekindern eine Rolle spielt.

Eine andere Forschungsarbeit aus den USA von Tininenko et al. (2010) verfolgte das Ziel, den Zusammenhang von Schlafverhalten und Hyperaktivität bei Pflegekindern zu erkunden. Es wurde angenommen, dass Schlafstörungen mit der Regulation von Emotionen sowie mit Prob-lemen im sozialen Bereich und im Verhalten zusammenhängen. Die Untersuchung umfasste 79 Kinder im Alter von drei bis sieben Jahren, wobei 47 von ihnen bei den leiblichen Eltern wohn-ten. 32 Kinder lebten in einer Pflegefamilie aufgrund von Vernachlässigung oder Misshand-lung. Die Studie ergab, dass Jungen höhere Werte bezüglich Hyperaktivität und Aufmerksam-keitsstörungen aufwiesen als Mädchen. Weiters zeigten misshandelte Pflegekinder, im Ver-gleich zu nichtmisshandelten Kindern, fünfmal häufiger unaufmerksames und hyperaktives Problemverhalten nach kürzerer Schlafdauer. Auch bei längerer Schlafdauer wiesen sie mehr Problemverhalten als die Referenzgruppe auf. Somit konnte deutlich gemacht werden, dass der Schlaf eines Pflegekindes mit der Verhaltensregulation im Zusammenhang steht (vgl.

Tininenko et al., 2010, S. 3-7). Dadurch wird deutlich, dass ADHS mit anderen Störbildern zusammenhängt und nicht isoliert auftritt. Neben der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-störung ist auch die Aggression häufig bei Pflegekindern zu finden.

3.3.2. Aggression

Unter Aggression wird eine Handlung verstanden, die auf eine Verletzung, Schädigung oder auch Beeinträchtigung abzielt. Dabei kann es sich um eine Verletzung von Normen handeln,

eine körperliche Schädigung oder um eine Übertretung einer Vorschrift. Hier spielt besonders das Ausdrucksverhalten einer Person, wie Schimpfen, Treten oder Schlagen, eine große Rolle (vgl. Kornadt, 2011, S. 32). Da die Thematik Aggression viele verschiedene Facetten hat und ihr Ursprung nicht auf einen bestimmten Aspekt zurückzuführen ist, werden unterschiedliche Formen der Aggression differenziert. Die impulsive Aggression ist gekennzeichnet durch eine Reaktion auf eine Situation, welche emotionsbestimmt ist. Hingegen ist die instrumentelle Ag-gression auf ein bestimmtes Ziel gerichtet, worüber sich Personen Gedanken gemacht haben.

In diesem Zusammenhang ist die Frustrations-Aggressions-Hypothese zu nennen. Dabei kön-nen Menschen ein angestrebtes Ziel nicht erreichen, wodurch Frustration entsteht. Eine Anhäu-fung einer Frustration führt dann in weiterer Folge zur Aggression (vgl. Gerrig, 2015, S. 686f.).

All diese Aspekte sind auch bei Pflegekindern relevant, dazu liegen unterschiedliche Studien vor.

Pears et al. führte im Jahr 2012 eine Studie von Pflegekindern und ihren Pflegepersonen in den USA durch. Dabei wurden zu vier unterschiedlichen Messzeitpunkten die Auswirkung einer Intervention zur Schulreife und zur Selbstregulierungsfähigkeit untersucht. Es galt, herauszu-finden, welche Wirkung die Intervention auf das oppositionelle und aggressive Verhalten der Kindergartenkinder hat. Die 192 Proband*innen wurden zwei Monate vor Eintritt in den Kin-dergarten und zwei Monate während des KinKin-dergartens untersucht. Aus der Untersuchung geht hervor, dass das allgemeine Störverhalten im Kindergarten mit dem oppositionellen und ag-gressiven Verhalten der Pflegekinder in Verbindung steht. Es konnte die Annahme bestätigt werden, dass Mädchen weniger anfällig sind als Jungen, oppositionelles und aggressives Ver-halten zu zeigen. Außerdem betonten die Autoren einen Zusammenhang zwischen Aggression im frühen Grundschulalter und aggressivem Verhalten im weiteren Verlauf des Lebens. Lang-fristig fällt es den Kindern schwer, Freundschaften aufzubauen, und dies kann in weiterer Folge zu delinquentem Verhalten führen. Bezüglich der Intervention konnten im Vergleich zur Refe-renzgruppe positive Effekte wahrgenommen werden. Somit haben Pflegekinder, die eine kurze, jedoch fokussierte Intervention erfahren haben, später weniger oppositionelles und aggressives Verhalten im Klassenzimmer gezeigt, als jene, die keine Intervention erfahren haben (vgl. Pears et al., 2012, S. 2362-2366).

Mit einem anderen Fokus untersuchte 2004 ein Forschungsteam aus Kalifornien das Aggressi-onsverhalten von Pflegekindern in Verbindung mit dem Erziehungsverhalten ihrer Pflegeeltern.

Robertis und Litrownik untersuchte 70 Pflegeeltern und ihre Pflegekinder, um herauszufinden, ob eine strenge Erziehung das Verhalten in Bezug auf das Lösen von Problemen beeinflusst.

Es konnte gezeigt werden, dass harte disziplinarische Reaktionen der Pflegeeltern auf das

Verhalten ihrer Pflegekinder einen Einfluss hat und zu aggressiven Lösungsansätzen für soziale Probleme führt (vgl. Robertis & Litrownik, 2004, S. 99f.). Laut Leathers et al. (2019) kann auch ein instabiles Pflegeverhältnis zu aggressivem Verhalten führen, das sich im Erwachsenenalter in kriminellem Handeln manifestieren kann. Jedoch ist auch zu beachten, dass Aggressionen einen großen Einfluss auf den Abbruch einer Unterbringung haben können. Somit stehen diese beiden Faktoren in einem Wechselverhältnis und beeinflussen sich gegenseitig (vgl. Leathers et al., 2019, S. 148). Obwohl diese Studie einen anderen Aspekt beleuchtet als jene zuvor, wird ersichtlich, dass Aggressionen bei Pflegekindern mit unterschiedlichen Faktoren im Zusam-menhang stehen.

Die letzte externalisierende Auffälligkeit, welche im Zuge dieser Masterarbeit vorgestellt wird, bezieht sich auf Delinquenz. Dabei werden kriminelles Verhalten und der Suchmittelkonsum von Pflegekindern in den Fokus gestellt.

3.3.3. Delinquenz

Delinquenz oder delinquentes Verhalten wird unter dem Begriff abweichendes Verhalten ein-geordnet. Dabei handelt es sich um jene Handlungen, die den vorherrschenden Erwartungen und Normen des sozialen Umfeldes widersprechen. Außerdem werden soziale Normen und Werte gebrochen, die sich auf informelle und formelle Regeln beziehen. Informelle Normen beinhalten Sitten, Gewohnheiten und Bräuche einer Gesellschaft, während formelle Regeln sich auf rechtliche und gesetzliche Grundlagen stützen (vgl. Serafin, 2018, S. 35). Grundsätzlich ist das Risiko, delinquentes Verhalten zu zeigen, in der Adoleszenz am höchsten. Dies wird durch schwache soziale Bindungen zur Familie oder zur Schule sowie durch Beziehungen zu delin-quenten Personen verstärkt. Das strafauffällige Verhalten kann bis ins Erwachsenenalter fort-gesetzt werden und wirkt sich in weiterer Folge negativ auf soziale Beziehungen aus. Durch neue Bindungserfahrungen kann einer delinquenten Entwicklung entgegengesteuert werden, ansonsten steigt das Risiko kriminell zu handeln (vgl. Reinecke & Stemmler, 2019, S. 4). In Österreich wurden im Jahr 2019 knapp 28.000 Personen rechtskräftig verurteilt, vier Fünftel davon waren Männer. Nur rund sechs Prozent der Verurteilten waren zwischen 14 und 17 Jahre alt (vgl. Statistik Austria, 2020). Wie häufig Pflegekinder delinquentes Verhalten zeigen, wird nun anhand von Forschungen der letzten Jahre verdeutlicht. Dazu werden nur Daten herange-zogen, die sich auf Verstöße formeller Regeln und Normen beziehen.

Das amerikanische Forscherteam Ryan und Testa untersuchte 2008 delinquentes Verhalten, in Verbindung mit afroamerikanischen männlichen Pflegekindern. Insgesamt wurden 278 Jugend-liche zwischen 11 und 16 Jahren befragt. Die Forscher*innen betonten die Relevanz der Bin-dung zu anderen Personen, die ausschlaggebend für eine gute Entwicklung von sozialen

Beziehungen ist. Fehlen diese Bindungen, empfinden Kinder und Jugendliche keine morali-schen Zwänge und werden resistent gegenüber positiven Vorbildern. Somit steigt das Risiko, sich an delinquenten Handlungen zu beteiligen. Daher haben Pflegekinder, die eine positive Bindung zu ihren Pflegeeltern erfahren, höhere Chancen, sich gesund zu entwickeln. Spannend erwies sich auch der Einfluss der Kirche, denn dieser spielt in Amerika in den Lebensbereichen Politik oder auch Kultur eine große Rolle. Deutlich wurde, dass Pflegekinder, die sich in einer religiösen Organisation engagierten, eine geringere Wahrscheinlichkeit aufwiesen, delinquen-tes Verhalten zu entwickeln. Auch ein angemessenes Verhalten in der Schule war ein Prädiktor für weniger straffälliges Verhalten. Der letzte Faktor, welcher in dieser Studie untersucht wurde, handelte von Instabilität und Unsicherheit bei der Unterbringung in Verbindung mit kriminellem Verhalten. Pflegekinder, die befürchteten, dass ein Wechsel der Unterbringung in Kürze bevorsteht, hatten eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit, straffällig zu werden. Zu-dem wurde ein positiver Zusammenhang zwischen der Anzahl der Unterbringungen in Pflege-familien und straffälligem Verhalten ausfindig gemacht. Wichtig ist jedoch zu betonen, dass häufig nicht der Wechsel für das delinquente Verhalten verantwortlich ist, sondern die Gründe, die jenen herbeigeführt haben (vgl. Ryan et al., 2008, S. 117-119, 132ff.).

In Bezug auf kriminelles Handeln fand eine weitere Studie von Baskin und Sommers (2011) mit knapp 450 Pflegekindern aus Los Angeles heraus, dass rund zehn Prozent aller Proband*in-nen in der Vergangenheit verhaftet wurden. Von den Befragten begangen fünf PersoProband*in-nen eiProband*in-nen Einbruch, weitere fünf einen Diebstahl, acht Personen einen Raubüberfall und zwölf Menschen eine Körperverletzung (vgl. Baskin & Sommers, 2011, S. 113).

In einer weiteren Untersuchung von Thompson und Auslander (2007) konnte gezeigt werden, dass neben delinquenten Handlungen auch der Substanzmissbrauch bei Pflegekindern eine große Rolle spielt. Von 320 amerikanischen Pflegekindern im Alter von 15-18 Jahren haben 40 Prozent Erfahrungen mit erhöhtem Alkoholkonsum gemacht und 36 Prozent konsumierten Ma-rihuana. Ein Viertel hatte mit beiden Substanzen Erfahrungen in den letzten sechs Monaten gemacht. Risikofaktoren, welche die Wahrscheinlichkeit des Konsums von Suchtmitteln um das Vierfache erhöhten, waren das Fernbleiben von der Schule sowie der Kontakt zu Peers mit erhöhtem Suchtmittelkonsum (vgl. Thompson & Auslander, 2007, S. 65f.).

Da die internalisierenden und externalisierenden Auffälligkeiten von Pflegekindern vorgestellt wurden, gilt es nun, die Ursachen für das Erleben und Verhalten der Kinder zu ergründen. Dazu wird das bio-psycho-soziale Modell herangezogen, um die Ursachen thematisch einzuteilen und zu gliedern.