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Noch 1309 war die Sofija als Legitimationsfigur ganz auf das Umfeld des Bi-

Im Dokument ,,Vom Polocker Venedig (Seite 118-131)

Bi-schofs beschränkt.3

An sich

stand

sie

aber

für

eine Vorstellung,

die

durchaus

vom

Bischof unabhängig war,

da der

Besitz

der

Sophienkathedrale

dem

Klerus

und

nicht

dem

Bischof unterstand.

Die

Städter machten

sich

dieses Kommunikations-element

in

Anlehnung

an das

Novgoroder Vorbild

zu

Eigen,

wo der Sofija seit

Jahrhunderten

eine

wesentliche Rolle

in der

kompensatorischen Legitimation kollektiven Handelns

der

Städter ohne oder gegen

den

Fürsten zukam.

CHORO

Š

KEVI

Č

spricht

im

Zusammenhang

mit der

Beseitigung

des

lokalen Fürsten

und der

Umgestaltung

der

regionalen Herrschaft

mit

Verweis

auf das

Stadtsiegel

von

einem „Dualismus

“, der

damals zwischen

dem

Statthalter

und

1 „A vam bljusti Poločanina kak by svojeho nem

čina, a my chočem vašeho nem

čina bljusti kak by svojeho Poločanina.“PG 1, Nr. 17, 1396, S.64.

2 CHOROŠKEVIČ(1972a), S.140.

3 PG 1, Nr. 3, S.37.

den

Städtern entstand.

Bis zur

Mitte

des 15. Jh.

wurden,

wie

1396,

das

Siegel

der Sofija und das des

jeweiligen Statthalters sehr

oft

gemeinsam verwendet, wobei

die

Statthalter auch

das

Sophiensiegel

für

ihre eigenen Dokumente gebrauchten.1

Die

Benutzung

des

neuartigen Siegels fügt

sich ein in die

Interpretation

der Zeit als eine

Phase,

in der in

einzelnen Kommunikationssituationen

die

Legitimität

und die

Bereiche rechtlichen kollektiven Handelns

in

Polock

neu

ausgehandelt

und

hergestellt wurden.

Ganz

deutlich wird

das

Austarieren

der

Handlungsspielräume unter

den

loka-len

Akteuren

nach der

Beseitigung

des

Fürsten

mit dem

Eingriff

des

Großfürsten 1397: Damals erklärte Vytautas

den

Statthalter

für

unbefugt,

im

Namen Litauens einen Frieden

zu

schließen,

und

bestritt

die

Gültigkeit

des im

Dokument

von 1396

erwähnten Vertrags.2 „

Auf

Befehl

“ des

Großfürsten mussten darauf

„ de nameste-nik to

Ploskouwe unde

de

Ploskouwers

“ d en

„kopvrede

gegenüber

Riga

kündi-gen.3

Von nun an

hatte

kein

Statthalter mehr Einfluss

auf die

Verhandlung

und den

Abschluss

von

Handels-

und

Friedensverträgen

der

Polocker. Stattdessen

wa-ren nun die

Polocker berechtigt, auch ohne

den

großfürstlichen Statthalter

am

Ab-schluss

von

Verträgen

des

Großfürsten

mit Riga

oder

an

deren Bestätigung

mit-zuwirken. Nachdem Großfürst Vytautas

die

Befugnisse

des

Polocker Statthalters eingeschränkt hatte, drohte

er 1404 aber

auch

den

Polockern (und nicht

dem

Statthalter):

Er

wollte

sie

bestrafen, falls

sie

eigenmächtig Handelsvereinbarungen

mit Riga

brächen.4 Gleichzeitig überließ

er es

ihnen, ohne

den

Statthalter

Ge-sandte

zu

benennen,

die

unter

der

Obhut

des

Großfürsten Verhandlungen

mit Riga

führen sollten. Zwar stützte

der

Großfürst

so die

Städter,

um den

lokalen

Statthal-ter und

Erben

der

ehemals fürstlichen Position weiter

zu

schwächen.

Aber

auch

sie

sollten

sich an

gewisse Einschränkungen halten

und ihr

Handlungsfeld nicht selbstständig ausweiten können.

Charakteristisch

für die

Situation

ist der 1403 in

einer Urkunde

des

Groß-fürsten Vytautas überlieferte Sachverhalt.

Der

Großfürst schrieb darin

den

Riga-ern, dass „cives Plocenses

“ sich an ihn

gewendet hätten. Rigaer Gesandte

„(...) hatten gefordert, mit den euren gemeinsam untereinander zu verhandeln, was die Polocker ohne unser Wissen und unseren Willen mit euch nicht tun wollten (qui Plocenses sine scitu et voluntate nostra talia vobiscum facere noluerunt). (...) Diese Polocker haben wir zu den Polotschanen zurückgeschickt, damit sie ihnen mitteilen, dass sie ihre Gesandten zu euch schicken sollen (...).“

So

sollten

sich die

Rigaer gemeinsam

mit den

Polocker Gesandten

an

einem vereinbarten

Tag in

Wilna

in der

Gegenwart

des

Großfürsten einigen können.5 Gemäß

dem Text

erwarteten

die

Rigaer

von den

Polockern

ein

eigenständigeres Handelns,

als sich

diese gegenüber

dem

Großfürsten erlauben wollten.

Die

Polocker,

die

damals durch

den

Großfürsten unmittelbar

in den

Ver-handlungsprozess

mit Riga

eingebunden wurden, waren

in der

nach außen

ge-1 CHOROŠKEVIČ(1972a), S.140.

2 PG 1, Nr. 17, 1396, S.64; PG 3, S.167f.; PG 1, Nr. 19, 1397, S.67; PG 1, Nr. 21, 1398, S.72.

3 HUB 5, Nr. 247 [1397], S.131.

4 RLU, Nr. 143, 1404, S.113.

5 PG 1, Nr. 32, 1403, S.90.

C.II Macht zwischen Statthaltern und Städtern bis um 1490 119 richteten Kommunikation unerfahren

bisher hatte

ihr

Fürst diese Kommunika-tionsposition ausgefüllt

und

besaß

das

damit verbundene Handlungswissen.

Die

Interaktion

mit den

Rigaern

und

Vytautas,

die im

Dokument festgehalten wurde, belegt

ein

umsichtiges Vorgehen

der

Polocker.

Auch der

Gebrauch

des

Sophien-siegels zeigt, dass

die

Polocker,

den

Bedürfnissen ihrer damaligen Situation ent-sprechend,

sich

erfolgreich Verfahren aneigneten

und neu

entwickelten,

um eine

intern ausgehandelte kollektive Meinung nach außen

mit

glaubhafter Legitimität

und

ohne Hilfe

des

lokalen Herrschaftsträgers vertreten

zu

können.

Im

unmittel-baren Kontakt begann

sich

unter

den

neuen Rahmenbedingungen

ein

weitgehend neues Gefüge

von

Interaktionssträngen zwischen Riga, Polock

und dem

Groß-fürsten ohne

den

Teilfürsten herauszugestalten.

Im

deutlichen Gegensatz

zur

In-teraktion zwischen Fürst

und

Städtern

im 12. Jh.

machten

die

Polocker

zumin-dest

in der

Formulierung

des

Großfürsten

– ihr

Handeln

vom

Willen

des

Groß-fürsten abhängig, nicht umgekehrt. Freilich fanden

die

Verhandlungen

mit

Riga auch nach

1400

nicht immer ohne

die

Präsenz

des

Statthalters statt.1

Ein

besonders eindrückliches Zeugnis selbstbewusster

und

gewandter Argu-mentation

der

Polocker ohne Hilfe eines Herrschaftsträgers

mit

externen Partnern

ist der in der

Polocker Urkundensprache verfasste Entwurf

zu

einem Vertrag

mit Riga von

1405.

In ihm

zeigten

die

Polocker detailliertes handelsrechtliches Handlungswissen sowie

den

Willen, ihre schriftlich erklärten kollektiven

Interes-sen mit

Nachdruck

den

Rigaern gegenüber

zu

vertreten

und als

Recht bestätigt

zu

bekommen. Erstmals fasste

der von den

Polockern beauftragte Schreiber damit ohne Bezug

zum

lokalen Herrschaftsträger äußerst langfristige Handlungshori-zonte

in

Worte. Bereits

in der

intitulatio setzten

die

Polocker eine bisher unbe-kannte Adresse

auf:

Aber das wollen wir, die Polotschane, alle guten (vsi dobrii) und kleinen Leute, hoffend auf den heiligen Gott und die Gnade der Sofija sowie die Gesundheit des Großfürsten Vytautas, Liebe halten mit dir Fürst Meister, und mit deiner Bruderschaft mit allen Rittern.“2

Mit dem

Bezug

auf

Gott

und die Hl.

Sofija versuchten

die

Polocker, ihren Vorschlag

zu

bekräftigen. Erstmals legitimierten

sie

ihren gemeinsamen Willen gegenüber äußeren Partnern

mit der Sofija als

Schutzherrin ihres kollektiven Han-delns.

Die

Polocker bezeichneten

den

Vertrag

als

„Liebe

(

ljubov

’“,

vgl. „

ami-citia

“). Das

Schreiben

der

Städter wurde dadurch

in

einen alten, etablierten Handlungszusammenhang gebracht.

Der Text

zeigt,

wie

klar

die

langfristigen handelsrechtlichen Vorstellungen

der

Polocker waren.

So

forderten

sie:

„Aber

an der

Burgstadt (horod(a) Pol

tesk)

vorbei darf kein deutscher Kaufmann gehen,

die

Deutschen müssen

in

Polock 1 Um 1400 wird ein Schreiben des Olderman und des „gemeinen [deutschen, S. R.] Kauf-manns“zu Polock nach Riga datiert, worin diese berichteten, sie seien „myd den twen ruschen [Vertretern des Großfürsten? S. R.] utscritten [ausgeschritten, S. R.] vor den

na-mestniken unn vor de ploskouwer“. Bei dieser Versammlung des Statthalters gemeinsam mit den Städtern standen Zwiste im Zusammenhang mit dem auszuhandelnden Vertrag im Vor-dergrund. RLU, Nr. 135, um 1400, S.105. Vgl. die zwei den Rigaern vom Großfürsten gege-benen Begleiter: RLU, Nr. 126, ohne Jahr, S.96f.

2 PG 1, Nr. 35, S.96.

Handel treiben.

“ 1 Das hier

formulierte Projekt

der

orthodoxen Polocker,

die

Rigaer nicht über Polock hinaus

nach

Vitebsk

und

Smolensk fahren

zu

lassen, macht deutlich, dass

sie in

einem mitteleuropäischen handelsrechtlichen Horizont dachten:

Auch die

Rigaer versuchten

das

Stapelrecht

zu

erlangen,

so

dass Kauf-leute sowohl

aus dem

hanseatischen

Raum als

auch

aus dem

Osten ihre Waren

in Riga

verkaufen sollten.2 Diese Forderung konnten

die

Polocker

zu

diesem Zeit-punkt aber nicht durchsetzen.

Ganz im

Einklang

mit den

Bestimmungen mittelalterlicher Rechtsstädte

zum

Gastrecht3 verlangten

die

Polocker

in

diesem Entwurf auch, dass

die

Rigaer keinen Kleinhandel treiben

und

ausschließlich

in der

Burgstadt Polock handeln dürften, nicht

aber in den

Wäldern, Sümpfen

und

Dörfern.

Die

Deutschen sollten

ebenfalls

in

Anlehnung

an

verbreitetes Gastrecht

– nur

durch

die

Vermittlung eines Polocker Kaufmannes

und

lediglich

mit

großen Mengen handeln.4

Nach

westlichem Vorbild wollten

sie die

regionale Marktfunk-tion

in der

Burgstadt monopolisieren

und

beanspruchten

den

begehrten,

d. h.

ent-wickelten Klein- und Nahhandel

für

sich.5

Der

Vertragsentwurf besagt, dass Rigaer

in Riga und

Polocker

in

Polock

ge-richtet werden sollten.

Der

Heimatort

und

damit

der

Bürgerort

des

Beschuldigten sollte Gerichtsstand werden. Dieses Vorgehen stand

im

Widerspruch

zu den

meisten Vereinbarungen zwischen spätmittelalterlichen mitteleuropäischen Städten,

die in der

Regel Gastgerichte kannten

und

Fremde nach deren Recht richteten.6

Es

entsprach aber

der

Logik

der

Ordnung

für die

deutschen Kaufleute

in

Polock

von

1393: Autonomes Kaufmannsrecht (der Deutschen) wurde auch

in

Polock

der

Ratsgerichtsbarkeit

(in

Riga) unterstellt.

Der

erste Schritt

zur

Ablö-sung

von

Kaufmannsrecht durch Bürgerrecht

war

damit getan.7

Von

Bedeutung

ist,

dass

sich die

Polocker

in

ihrem Vertragsprojekt

1405 die

Gerichtsbarkeit über ihre Städter selbst zuschrieben, ohne

den

Statthalter

zu

erwähnen:

„Und wird unser Polotschanin in Riga straffällig, dann sollen ihn die Deutschen in Riga nicht bestrafen, sondern ihn nach oben lassen, damit ihn dort seine Polotschanen bestrafen (ino eho tam svoi Poločan(e) kaznjat()).“

An

gleicher Stelle legitimierten

die

Polocker

die

Rolle

von

Gesandten

deutli-cher als je

zuvor

mit

einem kollektiven Rechtsbewusstsein:

1 PG 1, Nr. 35, S.97.

2 HOLLIHN (1935), S.110f.; S.116f., S.130; vgl. auch ZÜHLKE (2002), S.227f. sowie ANGER-MANN (1995), S.122f. Von der Mitte des 15. Jh. an behinderten die Polocker die Weiterfahrt der Rigaer aktiv. SCHROEDER (1917), S.71–81.

3 J. WEITZEL, „Gast, -recht, -gericht“, in: LexMA 4, Sp.1630f.

4 PG 1, Nr. 35, 1405, S.96. Das Gästehandelsverbot zwischen fremden Kaufleuten in Riga war im 13. Jh. festgehalten, dann aber wieder entschärft worden. Von 1376 an war aber der Kleinhandel unter Gästen untersagt. ZÜHLKE (2002), S.228f.; zum Verbot des Handels mit Polockern nach 1470: TIBERG (1975), S.48f. Auch die Novgoroder erlaubten den Polockern nicht, frei mit den Deutschen in Novgorod Gästehandel zu betreiben.

5 PG 1, Nr. 35, 1405, S.97. GOETZ (1916), S.346; HILDEBRAND (1873), S.342f.

6 SCHULTZE (1908); EBEL (1971), S.375–378.

7 Vgl. EBEL (1971), S.379f.

C.II Macht zwischen Statthaltern und Städtern bis um 1490 121

„Und dazu haben wir zu euch gesandt unsere guten ehrlichen Leute (...), damit ihr unserem Gesandten reine Wahrheit [beziehungsweise Recht: dati pravda, S. R.] gebt, ohne jede List, und

unser Gesandter euch reine Wahrheit gibt ohne jede List gemäß unserem Recht (našim pravom).“1

Die

Passage belegt

die

Idee eines eigenen Rechts (

unser Recht

“ ) der

Polocker,

das auf den

alten Handelsverträgen

und

auch

den

Vereinbarungen

mit den

Fürsten beruhte, jetzt

aber

ohne

den

Fürsten

und

ohne

den

Statthalter denkbar

und

beschreibbar war.

In

diesem Bewusstsein

um ein

eigenes Recht legitimierten

die

Polocker

1405

neue Ansprüche. Ganz selbstverständlich übernahmen

sie

rechtliche Argumentationsstrategien

der

Rigaer Nachbarn

und

weiteten

mit

diesen Sätzen

ihr

Handlungsspektrum.

Der in

konkreten Kommunikationssituationen wiederholte handelsrechtliche Sprachgebrauch festigte

ein

zusammenhängendes Sprach- und Handlungsfeld. Dieses entfaltete eine eigendynamische Logik,

der sich

zumindest

die

Kaufleute unter

den

Polockern nicht entziehen konnten. Unter

dem

Schutz

des

Großfürsten begannen auch

sie,

ihren Status

und

ihre Handelsbe-dingungen

mit

rechtlichen Argumentationsfiguren auszuformulieren

und in Form von

Rechtssätzen

in

Verträgen

mit

westlichen Partnern bestätigen

zu

lassen. Zwar konnten

sie sich nur

teilweise durchsetzen.

Doch

einmal formuliert

und

sagbar oder schreibbar gemacht, wurden diese Forderungen während

des

ganzen

15. Jh.

nicht mehr zurückgenommen.

Die

Polocker handelten

den

Vertrag

mit Riga von 1406

ohne

den

Statthalter aus,

und

anders

als noch 1338

spielte

auch der

Polocker Bischof dabei keine Rolle mehr.2

Das

Aushandeln

und

Ratifizieren

von

Handelsverträgen wurde

in

dieser Situation

des

Umbruchs

zur

Sache

der

Städter

nicht aber

ihr

tatsächlicher

Ab-schluss,

der dem

Großfürsten oblag.

Der 1406

abgeschlossene Vertrag

von

Kopussa

galt als

freundschaftliche Einung(vruntlike eninghebeziehungsweise „composicionem amica-bilem“) „inter civitatem nostram Ploskoviensem ab una et civitatem Rigensem partibus ex altereabeziehungsweise „tusschen der unsen stad Ploskow, an ener syde, und der stad Rige, an der andern syde.“3

Auf die

auch

als

pax

perpetua

“4

bestimmte Einung wurde

im

handelsrechtli-chen, verschriftlichten Sprachgebrauch

des

ganzen

15. Jh. als

„ewige[s]

Schrei-ben“

(

v

ě

čnye zapisi

“)

Bezug genommen.5 „

Den

Polockern

“kam die

Aufsicht über

den

Stadtfrieden

zu –

wenigstens laut

dem

niederdeutschen

und dem

lateini-schen Text:

„Sunderlik so scholen de Ploskowere unde de Rigere sik under den andern beschermen, vor-hegen unde bevreden, ghelich sik sulven, in eren steden.Beziehungsweise lateinisch: „ Speciali-ter Ploskovienses et Rigenses inter se mutuo defendere, tueri debent et pacificare sicud se ipsos in civitatibus propriis eoarum.

1 PG 1, Nr. 35, 1405, S.97.

2 PG 1, Nr. 35, 1405, S.96f.

3 PG 1, Nr. 37, 1406, S.100.

4 PG 1, Nr. 38, 1407, S.113: „by toe smiren’e věčno stojalo neporušeno“. Der Terminus kann freilich auch weiterhin für den Vertrag von 1229 weiterverwendet worden sein.

5 Vgl. PG 2, Nr. 177, 1480, S.84.

Die

gegenseitige Pflicht

zum

Schutz

und zur

Verteidigung

der

Fremden durch

die

Einheimischen

war

hier räumlich beschränkt

auf die

Städte

und

ergänzt durch

die

Pflicht, diese

zu

befrieden. Damit

war sie

präziser formuliert

als in der

Ur-kunde

von

1396.

Sie

stellte

eine

höhere Intensität eines Rechtsfriedens

dar als die

frühere Pflicht,

von

Fremden eingeklagte Rechtskränkungen oder Ehrverletzungen

mit

Bußen

vor

Gericht

zu

sühnen.

Mit der

gegenseitigen Schutz-

und

Friedens-pflicht sollten

die

Polocker

die

mitteleuropäische rechtliche Vorstellung

überneh-men,

dass

die

Stadt einen

Raum

darstellte,

der für alle

besonders befriedet war, nicht

nur für die

Fremden unter

dem

Schutz

des

Geleits. Dieser Stadtfrieden bean-spruchte auch

für die

Beziehungen unter Einheimischen Geltung, sollten

sie doch den

Fremden nicht anders, sondern

„ in

ihren Städten gleich

wie sich

selbst schützen

“ und

„befrieden.

“ Die

Schutzpflicht

war

nicht

auf

Handelsangelegen-heiten beschränkt, sondern bedeutete

den

allgemeinen Schutz

von

Recht,

Gut und

Leben. Erstmals kann jetzt

von

einem eindeutigen

und dem

Anspruch

nach

be-sonders geschützten Stadtfrieden

die Rede

sein,

der –

garantiert durch

den

Groß-fürsten

–in der

lokalen Verantwortung

der

Städter

lag. Ein

solcher expliziter Rechtsfrieden

ist für

ostslawische Städte ohne rechtsstädtische Privilegien meines Wissens einzigartig:

In

Novgorod kann lediglich

für die

äußeren Beziehungen oder

für die

Verträge

der

Stadt

zum

Fürsten

ein

Rechtsfrieden nachgewiesen wer-den, aber nicht

für

Streitfälle zwischen

den

Novgorodern.

Ein

expliziter ‘interner

Friedensbruch war

in

Novgorod nicht denkbar.1

Der

Vertrag

von

Kopussa wurde

in

seiner niederdeutschen Fassung unverän-dert 1439

von

Großfürst Sigismund

und

1447

von

Großfürst Kasimir bestätigt.2

Er

erlangte damit mehr Bedeutung

als die 1407

ausgestellte,

in der

Polocker Urkun-densprache abgefasste Bestätigungsurkunde

zum

Vertrag

von

1406,

in der

die-selbe Bestimmung, freilich ohne

das

Wort „befrieden

“,

formuliert war.3 Aber auch

in

diesem

Text

wurde

die

gegenseitige Verteidigung unter

den

Polockern formuliert und

der

Bezug

zur

Stadt explizit gemacht: „zwischen

der

Polocker Stadt (horod)

und der

Rigaer Stadt (horod)

g

alt der

Friede.4

Im

Handelsvertrag

von

Kopussa

hieß es

sodann

wie im

Polocker Entwurf

von

1405:

Unde weret, dat jenich kopman van Ploskow tho Rige breke, den schal men kegen Ploskow senden unde dar na dem rechte richtenbeziehungsweise lateinisch: „(...) in Ploskoviam mitti debet et ibidem secundum illa jura judicari.“5

1 Für ein Bewusstsein um einen solchen Frieden, der mit der Gerichtsbarkeit enger als früher verbunden war und vor allem explizit als solcher bezeichnet wurde, steht die im Polocker Landesprivileg enthaltene und auf das Ende des 14. Jh. datierte „mirščina“: Diese Abgabe war dem Gerichtsdiener des Statthalters zu entrichten, wenn sich zwei Polocker vor diesem

„deckij“versöhnten. Sie entsprach dem Friedensgeld früh- und hochmittelalterlicher west-europäischer ‘Volksrechte’. Vgl. ROHDEWALD (2002b), S.166; PG 3, Nr. 323, S.90; PG 5, S.21f. Im Magdeburger Recht war analog die „Friedebussebekannt. PLANCK (1878), S.137f.

2 PG 1, Nr. 52 a, 1439, S.134; Nr. 78, 1447, S.164; HELLMANN (41990), S.46, S.49.

3 „A Poločjanom bljusti rižanina u Polocku kak sebe, a rižjanom bljusti Poločjanina u Rizě, sebe boronjati.“PG 1, Nr. 38, S.110.

4 PG 1, Nr. 38, S.109.

5 PG 1, Nr. 37, 1406, S.101.

C.II Macht zwischen Statthaltern und Städtern bis um 1490 123

Laut den

bisherigen Verträgen hatten fremde Verbrecher

am Ort des Gesche-hens

gerichtet werden sollen.

Die

Folge dieser neuen rechtlichen Logik führte dazu, dass

die

Polocker jeweils Schreiben über gerichtliche Abklärungen

in Po-lock nach Riga

senden mussten,

um

dort

die

Verurteilung

von

Rigaern

zu

errei-chen. Diese Schreiben machen

den

größten

Teil der

heute erhaltenen Quellen aus.

Die

Notwendigkeit ihrer Erstellung führte

zu

einem qualitativ

und

quantitativ neuem Umgang

mit

Schriftlichkeit sowie

zu

neuen Formen

von Zusammenkünf-ten. Im

Vertrag

von

Kopussa wurden auch

die

Regelungen

des

Vertrags

von 1338

über

die

Waage

neu

formuliert.1

Die

Städter gewannen

nun die

Zuständigkeit über Dinge,

die mit der

Waage zusammenhingen,

und

beerbten darin

den

Bischof

und den

Fürsten.

Der

Wäger dürfte

im 15. Jh.

nicht mehr,

wie noch im

Vertrag

von

1338 festgeschrieben,

ein

fürstlicher oder bischöflicher2 Amtsträger gewesen sein, sondern wurde offenbar

von den

Bojaren

und

Städtern eingesetzt.

Im 15. Jh. flos-sen die

Einnahmen

aus der

Waage

in die

Kasse

der

Polocker Städter.3

Auch

in der

Handelsaufsicht erlangten

die

Polocker gemäß ihrem

im

Ver-tragsprojekt erklärten Wunsch Einfluss.

Der

Kleinhandel wurde sowohl

in Riga als

auch

in

Polock

den in der

jeweiligen Stadt ansässigen Kaufleuten vorbehalten.

Darüber hinaus sollten

die

Städter fortan dieses thematische

Feld in

eigener Regie regeln können.

Es

sollten

die

Bestimmungen gelten,

so

„(...) wie die Polocker in Polock und die Rigaer in Riga setzen und machen (settende unde

makende; fac

ere

et

are; ordinunim

č i

i postavim) werden, oder unter sich später sich darüber einig werden (ens werden; concordare; a ljubo kak možem meži sebe urovnat(i)).“4

Mit

dieser Regelung gewannen

die

Polocker Satzungsgewalt über

den

Markt-handel,

ohne dass

dabei

vom

Statthalter

die Rede

gewesen wäre. Dieser Grundsatz

des

Vertrages

von 1406

ging

auf

Rigaer Einfluss zurück

– im

Polocker Entwurf

von 1405 war er

nicht enthalten gewesen.

Es

bleibt

zu

untersuchen,

ob die

Polocker diese wichtige Befugnis tatsächlich ausübten. Laut

der

Bestätigung

des

Vertrages

von

Kopussa durch

die

Polocker

im Jahr 1407

sollten

– wie in

ihrem Projekt

von 1405 –

explizit

„ die

Polocker

zuwiderhandelnde Polocker „gemäß ihrem Recht

richten:5

1

Die Kosten für die Reparatur der Geräte sollten die Polocker fortan selbst zu tragen haben:

„so scholen de Ploskowere se tho Rige senden und upp ere koste unde theringhe na den olden loden weder maken und beteren laten.“PG 1, Nr. 37, S.102.

2 Er mag unter dem Schutz des Bischofs gestanden haben, zumal der Vertrag von 1338 von letzterem mitbesiegelt wurde. PG 1, Nr. 4, 1338, S.39.

3 Im Landesprivileg von 1511 stellte Großfürst Sigismund fest, dass die Bojaren und die Bür-ger schon zu Zeiten seiner Vorfahren die Wägegebühren eingenommen hätten, bevor sie sein Vater Großfürst Kasimir (1440–1492) ihnen zusprach. PG 1, Nr. 112, 1407, S.112. Die Quelle, mit der DANILEVIČuntermauert, dass in Polock gewählte Vertreter der Städter die Wäger neben fürstlichen Beamteten überwachten, bezieht sich auf eine andere Stadt.

DANILEVIČ(1896), S.208; AJuZR 1, Nr. 4, 1396–1413, S.2f.

4 PG 1, Nr. 37, 1406, S.100f.; Nr. 38, 1407, S.109.

5 „Poločane osudjat’po svoemu pravu“. Nr. 38, 1407, S.109.

„Und wenn ein Polotschane in Riga sich vergeht, dann sollen sie diesen nach Polock schicken, damit ihn dort die Polotschanen gemäß ihrem Recht richten“(„ino eho tam Poločjane osudjat’po svoemu pravu“).1

Weder

der

niederdeutsche

noch der

lateinische

Text von 1406

nannten

an

die-ser

Stelle Akteure. Beide ließen offen,

wer die

Gerichtsgewalt trug.

Der

Über-setzungsunterschied

kann als

Autonomieanspruch

der

Polocker

in

Handelsangele-genheiten gegenüber ihrem großfürstlichen Statthalter gelesen werden. Anderer-seits wurde

der

niederdeutsch gehaltene Vertrag

von 1406 in der

Folge zweimal ohne Veränderung bestätigt.

Es

bleibt

zu

untersuchen,

ob die

Polocker

mit

oder ohne

den

Statthalter

in

Angelegenheiten richteten,

die

durch

den

Vertrag geregelt wurden.

Auch für den

städtischen Sonderfrieden,

der 1406

klarer

als in den

älteren Verträgen

des 13. und 14. Jh. als

ausdrücklicher Rechtsfriedensbereich bestimmt wurde, bleibt

im

Auge

zu

behalten, welchen Niederschlag diese Vorstellung

in der

Weder

der

niederdeutsche

noch der

lateinische

Text von 1406

nannten

an

die-ser

Stelle Akteure. Beide ließen offen,

wer die

Gerichtsgewalt trug.

Der

Über-setzungsunterschied

kann als

Autonomieanspruch

der

Polocker

in

Handelsangele-genheiten gegenüber ihrem großfürstlichen Statthalter gelesen werden. Anderer-seits wurde

der

niederdeutsch gehaltene Vertrag

von 1406 in der

Folge zweimal ohne Veränderung bestätigt.

Es

bleibt

zu

untersuchen,

ob die

Polocker

mit

oder ohne

den

Statthalter

in

Angelegenheiten richteten,

die

durch

den

Vertrag geregelt wurden.

Auch für den

städtischen Sonderfrieden,

der 1406

klarer

als in den

älteren Verträgen

des 13. und 14. Jh. als

ausdrücklicher Rechtsfriedensbereich bestimmt wurde, bleibt

im

Auge

zu

behalten, welchen Niederschlag diese Vorstellung

in der

Im Dokument ,,Vom Polocker Venedig (Seite 118-131)