GIERKE sprach für den Zeitraum von 800 bis 1200 für das deutsche Sprach- Sprach-gebiet von der Entstehung der „abhängigen oder herrschaftlichen
B. III ZWISCHENBILANZ
GIERKE sprach
für den
Zeitraumvon 800 bis 1200 für das
deutsche Sprach-gebietvon der
Entstehungder
„abhängigen oder herrschaftlichen Genossen-schaft, welche nebenund
unterdem die
ursprüngliche Einheitdes
Verbandes repräsentierenden Herrnein
eigenes Gesamtrecht entwickelt.“1
Möchteman
diese Figurmit
aller Vorsicht auf die Polocker Verhältnisse übertragen,ist
zu-nächstvon der
romantischen Vorstellungder
„ursprünglichen Einheitdes
Ver-bandes“
abzusehen. Zudemist der
Beitragdes
Fürsten,der
kaum durchden
Groß-fürsten eingeschränkt überdas Land und die
Stadt Polock herrschte,in
einemsol-chen
Vorgangnoch
stärkerzu
gewichten.Die
zwar spärlichen Vereinbarungen formalisierten seine Gewalt doch inso-weit, dass „das
genossenschaftliche Prinzip“
nicht mehrnur in den
Momenten ihres Abschlusseszur
Geltungkam.
Nichtnur in den
Verträgenmit
Riga, welcheim 14. Jh.
die „Burgstadt“als
Rechtsträger festigten, sondern geradeim
Vertrag„ der
Polocker“ mit
ihrem Fürsten entstanden Beziehungen unterder
Stadt-re-spektive Gebietsbevölkerung,
die in die
Richtung einer genossenschaftlichenbe-ziehungsweise „gleichheitlichen, horizontalen Rechts-
und
Sozialbeziehung“
(DILCHER) wiesen.2 Diese Beziehungen überlagerten
die
ältere, uneinheitliche Strukturder
Steuer-, Gerichts-und
Nutzungsbezirkein der
Burgstadtund in
ihrem Umland, überwandensie
aber nicht. Wegender
Teilhabean den
Verträgen sind aber„ die
Polocker“ im 13. Jh. eher als noch im 12. Jh. als eine
früheund
sehr uneinheitliche herrschaftliche Genossenschaft anzusehen,die
nicht über bestän-dige eigene Organe verfügte.3B.III
ZWISCHENBILANZVom 9. bis zum
Beginndes 12. Jh.
hattesich
Polockvon der gentilgesellschaftli-chen
Siedlungzur
Stadtals
multifunktionalem Zentralort entwickelt.Mit der
Taufe
des
Fürsten, seiner Gefolgschaftund
dann auchder
übrigen Stadtbevölke-rungnach
byzantinischem Ritus verbreitetensich im
herrschaftlichen Bereich neue, vergleichsweise abstrakte Begriffeund
Interaktionsformen. Andrzej POPPE sprichtin
diesem Zusammenhang sogarvon
einer „Modernisierungder
altrussi-schen Lebensweise“
durch byzantinischen Einfluss.4Der
sozialund
geographisch mobile Gefolgschaftsadel entwickelte seitdem 13. Jh.
eine Polocker Identität,die den
Gegensatzzur
übrigen burgstädtischen Bevölkerung milderte.Die
Gefolgs-leuteund
auchdie
Kaufleuteund
Handwerker bildetenals
soziale Gruppen aber keine korporativen Stände.Auch die
Polocker Klöster waren nichtin
Ordennach
einheitlichen Regelnmit
Gesetzeskraft organisiert.Fürstliche Herrschaft
war in
erster Linieauf den
Bezirk bezogen:Sie
gründetenoch
kaumauf
einem Personenverband oderauf
einer Verrechtlichungder
Be-1 GIERKE (1868), S.9.
2 Vgl. W. RÖSENER, „Genossenschaft“, in: LexMA 4, Sp.1234–1236.
3 Allzu weitmaschig ist der Grundsatz: „Genosse ist nicht nur, wer nach gleichem Recht lebt, sondern wer in irgendeiner Form mit anderen an etwas teilhat.“W. RÖSENER, „Ländliche Genossenschaft“, LexMA 4, Sp.1235f.
4 POPPE (1980), 336.
ziehungen zwischen
dem
Fürstenund den
Beherrschten. Alleinder
Fürstund
seine Dienst-und
Amtleute besaßen richterliche Zwangsbefugnissezur
Durch-setzung ihres eigenen Urteilsin der
Burgstadt,die zum
Polocker Gebiet gehörte.Doch
wurden„ die
Polotschane“ im 12. Jh. in der
Darstellungdes
Chronistenin
ihrer Kommunikation
mit
Fürstenzu
immer selbstbewussteren Akteuren. Gerieten ihre Fürstenin eine
Herrschaftskrise, vertriebendie
Polockersie und
veranlassten etwa durch eigene Gesandte Übereinkünftemit
anderen Fürsten. Dabei erlangtensie
Einflussauf die
Einsetzung neuer Fürsten. Indemsie
Verfahren,die
zunächstfür die
Interaktion zwischen Fürstenund
ihren Gefolgsleuten charakteristischwa-ren
(Urfehde, kollektiverEid,
Friede, Liebe), anwendeten, erwarbensie allmäh-lich
Vertragsfähigkeit gegenüberden
Fürstenund
entschieden über Kriegund
Frieden.Die
Relativierung fürstlicher Macht,die
schon1127 und 1151 mit der
Einbe-ziehung einer dritten Partei erreicht worden war, wurde1159
zielstrebig fortge-führt:„ Die
Polotschane“
wurdennach dem
Novgoroderund
Kiewer Vorbildzum
Vertragspartner
des
Fürsten,der sich
ihnen gegenüber explizitund im
Rahmen eines langfristigen Handlungshorizontesmit
einemin
ihrer Gegenwart geleistetenEid
verpflichtete.Die
gegenseitigen Eide,die
Begriffeund
Sätze,die in
okkasio-neller Öffentlichkeit gegenseitige und kollektive Verpflichtungen herstellten undmit
Inhalt füllten, sind aber nichtals
Beginn einer Kommunebildungzu
interpre-tieren–ein
abstrakter Begriffwie
„communitas“
oder „Gemeinde“ ist
nicht nachweisbar.Das
bilaterale Verhältnis„ der
Polocker“ zu
ihrem Fürstenwar
keine beschworene, institutionelle Bindung, sondern blieb
eine in
bestimmtenSi-tuationen stets
neu
geschworene gegenseitige Treuebeziehung. Damit bliebdie
Entwicklung zunächst ganz
im
Kontextder
übrigen bedeutenden Städteder
Rus’ .1 Im
Kontaktmit
lateinischen Kaufleuten werdenfür das 13. Jh.
neue rechtliche Denkmusteran der
oberen Dünaund in
Polock nachweisbar.Der
Vertragvon
Smolensk
1229
machte nichtden
Burgstadtbezirk, wohlaber das
Gebietmit der
Stadt
nach dem
westlichen Vorbilddes
Rechtsfriedenszu
einem Sonderfriedens-bereich,für den der
Fürstdie
Verantwortung trug.Die
sozialenund
rechtlichen Gruppender
Burgstadt wurdenals
Bewohnerdes
Gebietes Mitgarantenund
Nutznießer diesesund der
folgenden Verträge.Die
schriftlich festgelegtenBe-stimmungen veränderten
die
Interaktionsverfahrender
Polocker, insbesondereder
Kaufleute,im
Umgangmit
fremden Kaufleuten.Die
Kombinationdes
kollektiven Eidesmit
einem Friedensschluss,die
schonim 12. Jh.
nachweisbarist,
bekamim
Kontakt
mit
westlichen Partnern einen gänzlich neuen rechtlichen Inhalt.Allmäh-lich
verrechtlichtesich
kollektives Handeln;in der vom
Fürsten beherrschten Stadt entstanden allererste stadtrechtliche Anfänge.Die
Vereinbarungen„ der
Polocker“ mit
ihrem Fürsten sind nichtnur in
einen Zusammenhangzu
stellenmit den
Verträgender
Städtermit
ihren Fürstenim 12. Jh.,
sondern auchmit den
Verträgenmit
Riga,die im 14. Jh. den
Statusder
Burgstadtals
Rechtsträger fes-tigten.Mit
ihnen begannensich „ die
Polocker“ im 13. Jh. als
eine frühe, sehr un-einheitliche herrschaftliche Genossenschaft ohne institutionalisierte eigene Or-ganezu
konsolidieren.Nach und nach
nahmenin der
Interaktionmit Riga und
1 Vgl. ZERNACK (1967), S.66–78, S.92–109.B.III Zwischenbilanz 89
dem
Fürsten rechtlich ausformulierte kollektive Handlungshorizonteder
Städter Gestaltan. Die im 12. Jh.
erlangte Fähigkeitder
Städter,mit
Fürsten Verträge ab-zuschließen, wurde damitim 13. Jh. zur
Grundlage einer neuen Entwicklung.Bereits
mit den
Veränderungen,die vom 13. und 14. Jh. an im
Kontaktmit
west-lichen Partnern eintraten, beganndie
eigene,im
Vergleichzu den
Städtender
nordöstlichenRus ’
besondere Entwicklungvon
Polock. Aber erstim 15. Jh.
wur-den die
Unterschiede wirklich signifikant.Schon
vom 13. Jh. an
sindin der
Interaktionmit den
neuen lateinisch geprägten Nachbarn Veränderungenin
wichtigen Feldern kollektiven Handelnsder
Polocker Städter erkennbar. Bereitsvon 1307 an
gehörte Polock dauerhaftzum
litauischen Großfürstentum.Erst mit dem
Endedes 14. Jh.
begann aber eine Umgestaltungder
lokalen Gesellschaftnach dem
Vorbildder
Prozesse,die
zuvorin
Polenzu
beobachten waren:
Erst
nachder
Personaluniondes
litauischen Großfürstenmit dem
polnischen Königreich1385
beseitigteder
Großfürstden
Teilfürstensitz.Wie es
zuvorin den
polnischen Teilfürstentümern geschehen war, wurdeder
Fürstnun
durch einen weniger starken Statthalter
des
Großfürsten ersetzt.Erst
nach diesem Schritt wurdenim 15. Jh. für die
Organisationadelsähnli-cher
sozialer Gruppen nach lateineuropäischem Vorbilddas
genealogische Prinzipund
schriftliche Standesprivilegien grundlegend. Solche Privilegien warenfür die
Regionein
neuartiges Mediumzur
Organisation nicht weniger neuer Formenso-zialer Beziehungen:
Sie
garantierten über große räumlicheund
zeitliche Distanzen hinweg schriftlich festgelegte ständische Rechtsverhältnisse sozialerGroßgrup-pen. Die
persönliche, auch räumlich möglichst nahe Beziehungzum
Herrscher verlor ihren bestimmenden Einflussauf den
Statusdes
regionalen Adels.Der
Ge-folgschaftsadel,
der sich
durchden
Dienstam
lokalen Fürsten auszeichnete, ver-schwand oder wandeltesich
wesentlich.Die
herrschaftliche Macht,die sich seit dem 10. Jh. in der
Persondes
Polocker Fürsten gesammelt hatte, wurde
so
dauerhaft gespalten.Die
Großfürsten nahmendie
wichtigsten Befugnisse ihrer örtlichen „Statthalter“
(„
namestniki“ ), die
bald nach polnischem Vorbild durch Wojewoden ersetzt wurden,an
sich, oder übertrugensie
ihrem„ Rat“
(„
rada“ ).
Dieses Beratergremiumdes
Großfürsten beherrschten litauische Magnaten,es
gewannim 15. Jh. an
Konturenund
Ein-fluss.1Die
großfürstlichen Privilegien glichen zunächstden
katholisch getauftenli-tauischen Adel
in
seinem rechtlichen Statusdem
polnischen Adelan. Im
grundle-genden Privileg,das
Großfürst Sigismundim
Zusammenhangmit dem
Aufstandvon 1434 nun
auchdem
orthodoxen Adel verlieh, standdie
Motivation: „terras nostras Lithuanieet
Russiein
statu meliori reponere“.2
Erstmals wurde damitim
Rahmen fürstlicher Herrschaft
auch
überdas Land
Polock (respektiveden
Adel der Region) ausdrücklichdas
Ziel handlungsleitend,das
bereitsfür den
mitteleu-ropäischen spätmittelalterlichen Landesausbau („
melioratio terrae“)3
charak-teristisch gewesen war:
Ein
bestehender Zustand einer Region respektive einer sozialen Gruppe sollte langfristig verbessertund
nichtnur
bewahrt oder wieder-hergestellt werden.1 HELLMANN (1989), S.797.
2 LJUBAVSKIJ (1910), Beilagen, S.302.
3 HIGOUNET (1986), S.246; vgl. KÖRMENDY (1995); vgl. JANECZEK (1995).
C Wandel im Polen-Litauen der Jagiellonen
91 Mit den
Privilegien traten Adligein ein
unmittelbares Verhältniszu
ihrem Herrscherund
gewannen eigene Herrschaftsrechte.Der
Großfürst verlor durchdie
rechtlichen
und
fiskalischen Immunitätendes
Adels baldan
Macht,1die
mehrund
mehrder
Reichstag („
Sejm“)
übernahm.An ihm
nahmen nachder
zweiten Hälftedes 16. Jh. auch der
mittlereund
kleineAdel
teil. Insbesonderebei der
Bewilli-gungvon
Steuern erlangteder Adel nach
westlichem Vorbild schonbald
Ge-wicht.2 Auch
im
litauischen Großfürstentumist
diese frühe Phasedes
Reichstages aber nicht unmittelbarals
erster Schrittzur
Schwächungder
Zentralgewaltzu
ver-stehen:Der
Großfürst erreichte zunächstsein Ziel der
effizienteren Ressourcenbe-schaffung durchaus.Die
Städte warenvor dem
Großfürsten lediglich durchden
Trägerder
Lan-desherrschaft,den
Wojewoden,und
später durchden
regionalen Adel vertreten.Nach
der
Verleihungvon
Magdeburger Recht,das die
Städtede jure von der
Lan-desherrschaft trennen sollte, hattensie
keine Teilhabeam
Personenverbandsstaat.3Das
Recht wurde nicht zuletzt verliehen,um mit den
Zahlungender
Bürger,die
damit verbunden waren,
die
großfürstlichen Einnahmenzu
verbessern.4Als
Reak-tionenauf
Klagen Adliger kamenbald
Schiedssprüchedes
Großfürstenund
seiner magnatischen Berater zustande,die oft die
städtische Autonomie einschränkten.5In
dieser Hinsicht entwickeltesich das
Städtewesenim
Großfürstentum ganzim
Einklang
mit den
gleichartigen Entwicklungenin
Polen.6Der
polnisch-litauische Adel begründete seine lokaleund bald den
Staatbe-herrschende Macht zusehends
auf der
exportierenden Gutswirtschaft.Sie
wurde umso ertragreicher,je
mehrdie
dichter besiedelten Gebiete Nordwesteuropasvon
1500 an
bereit waren,für
Getreideund
andere Rohwarenzu
bezahlen.Der
Groß-fürst behielt jedoch längerals der
polnische König weiterhineine
mächtige Stel-lung gegenüberdem
nichtmagnatischen regionalen Adel.7Das
Bewusstseindes
orthodoxen Adels,
Teil der
alten ostslawischenRus ’ zu
sein, wurdevon
einem Zugehörigkeitsgefühlzum
litauischenund
später polnisch-litauischen Vielvöl-kerreich überlagert.81498
wurde Polockdas
Magdeburger Recht verliehen. Dieser Schrittist das
einschneidende Ereignis,
das die
Darstellung dieser Phaseder
PolockerGe-schichte während
der
polnisch-litauischen Personalunionin
zwei Teile gliedert– bis auf die
Skizzezur
wirtschaftlichenund
demographischen Entwicklung,die nun
folgt.1 ŁOWMIAŃSKI (1986), S.612f.
2 HELLMANN (1989), S.801–803.
3 Als 1529 Sigismund II. August Großfürst wurde, nahmen an der Krönung nicht nur die Woje-woden teil, sondern auch Vertreter der Städte des Großfürstentums, darunter auch solche von Polock. PSRL 17, S.405. Ihre Teilhabe wurde jedoch nicht zur Regel. Nur Wilna bildet eine Ausnahme: Kurz vor 1569 errang es einen (einflusslosen) Sitz im Sejm. JABLONOWSKI (1955), S.46. Die Städte Polens verloren von der Mitte des 15. Jh. an ihren zuvor beachtlichen Einfluss. BISKUP (1980), S.172f.; KACZMARCZYK / LEŚNODORSKI (41971), S.58–62.
4 PIETKIEWICZ (1995), S.204.
5 BARDACH (31965), S.187, S.407; BOGUCKA / SAMSONOWICZ (1986), S.461, S.478ff.
6 BOGUCKA / SAMSONOWICZ (1986), S.322f.
7 CONZE (1940), S.47f.
8 Vgl. CZECH (1987), S.566, S.572f.