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III ZWISCHENBILANZ

Im Dokument ,,Vom Polocker Venedig (Seite 88-93)

GIERKE sprach für den Zeitraum von 800 bis 1200 für das deutsche Sprach- Sprach-gebiet von der Entstehung der „abhängigen oder herrschaftlichen

B. III ZWISCHENBILANZ

GIERKE sprach

für den

Zeitraum

von 800 bis 1200 für das

deutsche Sprach-gebiet

von der

Entstehung

der

„abhängigen oder herrschaftlichen Genossen-schaft, welche neben

und

unter

dem die

ursprüngliche Einheit

des

Verbandes repräsentierenden Herrn

ein

eigenes Gesamtrecht entwickelt.

“1

Möchte

man

diese Figur

mit

aller Vorsicht auf die Polocker Verhältnisse übertragen,

ist

zu-nächst

von der

romantischen Vorstellung

der

„ursprünglichen Einheit

des

Ver-bandes

abzusehen. Zudem

ist der

Beitrag

des

Fürsten,

der

kaum durch

den

Groß-fürsten eingeschränkt über

das Land und die

Stadt Polock herrschte,

in

einem

sol-chen

Vorgang

noch

stärker

zu

gewichten.

Die

zwar spärlichen Vereinbarungen formalisierten seine Gewalt doch inso-weit, dass „

das

genossenschaftliche Prinzip

nicht mehr

nur in den

Momenten ihres Abschlusses

zur

Geltung

kam.

Nicht

nur in den

Verträgen

mit

Riga, welche

im 14. Jh.

die „Burgstadt

“als

Rechtsträger festigten, sondern gerade

im

Vertrag

„ der

Polocker

“ mit

ihrem Fürsten entstanden Beziehungen unter

der

Stadt-

re-spektive Gebietsbevölkerung,

die in die

Richtung einer genossenschaftlichen

be-ziehungsweise „gleichheitlichen, horizontalen Rechts-

und

Sozialbeziehung

(DILCHER) wiesen.2 Diese Beziehungen überlagerten

die

ältere, uneinheitliche Struktur

der

Steuer-, Gerichts-

und

Nutzungsbezirke

in der

Burgstadt

und in

ihrem Umland, überwanden

sie

aber nicht. Wegen

der

Teilhabe

an den

Verträgen sind aber

„ die

Polocker

“ im 13. Jh. eher als noch im 12. Jh. als eine

frühe

und

sehr uneinheitliche herrschaftliche Genossenschaft anzusehen,

die

nicht über bestän-dige eigene Organe verfügte.3

B.III

ZWISCHENBILANZ

Vom 9. bis zum

Beginn

des 12. Jh.

hatte

sich

Polock

von der gentilgesellschaftli-chen

Siedlung

zur

Stadt

als

multifunktionalem Zentralort entwickelt.

Mit der

Taufe

des

Fürsten, seiner Gefolgschaft

und

dann auch

der

übrigen Stadtbevölke-rung

nach

byzantinischem Ritus verbreiteten

sich im

herrschaftlichen Bereich neue, vergleichsweise abstrakte Begriffe

und

Interaktionsformen. Andrzej POPPE spricht

in

diesem Zusammenhang sogar

von

einer „Modernisierung

der

altrussi-schen Lebensweise

durch byzantinischen Einfluss.4

Der

sozial

und

geographisch mobile Gefolgschaftsadel entwickelte seit

dem 13. Jh.

eine Polocker Identität,

die den

Gegensatz

zur

übrigen burgstädtischen Bevölkerung milderte.

Die

Gefolgs-leute

und

auch

die

Kaufleute

und

Handwerker bildeten

als

soziale Gruppen aber keine korporativen Stände.

Auch die

Polocker Klöster waren nicht

in

Orden

nach

einheitlichen Regeln

mit

Gesetzeskraft organisiert.

Fürstliche Herrschaft

war in

erster Linie

auf den

Bezirk bezogen:

Sie

gründete

noch

kaum

auf

einem Personenverband oder

auf

einer Verrechtlichung

der

Be-1 GIERKE (1868), S.9.

2 Vgl. W. RÖSENER, „Genossenschaft“, in: LexMA 4, Sp.12341236.

3 Allzu weitmaschig ist der Grundsatz: „Genosse ist nicht nur, wer nach gleichem Recht lebt, sondern wer in irgendeiner Form mit anderen an etwas teilhat.“W. RÖSENER, „Ländliche Genossenschaft“, LexMA 4, Sp.1235f.

4 POPPE (1980), 336.

ziehungen zwischen

dem

Fürsten

und den

Beherrschten. Allein

der

Fürst

und

seine Dienst-

und

Amtleute besaßen richterliche Zwangsbefugnisse

zur

Durch-setzung ihres eigenen Urteils

in der

Burgstadt,

die zum

Polocker Gebiet gehörte.

Doch

wurden

„ die

Polotschane

“ im 12. Jh. in der

Darstellung

des

Chronisten

in

ihrer Kommunikation

mit

Fürsten

zu

immer selbstbewussteren Akteuren. Gerieten ihre Fürsten

in eine

Herrschaftskrise, vertrieben

die

Polocker

sie und

veranlassten etwa durch eigene Gesandte Übereinkünfte

mit

anderen Fürsten. Dabei erlangten

sie

Einfluss

auf die

Einsetzung neuer Fürsten. Indem

sie

Verfahren,

die

zunächst

für die

Interaktion zwischen Fürsten

und

ihren Gefolgsleuten charakteristisch

wa-ren

(Urfehde, kollektiver

Eid,

Friede, Liebe), anwendeten, erwarben

sie allmäh-lich

Vertragsfähigkeit gegenüber

den

Fürsten

und

entschieden über Krieg

und

Frieden.

Die

Relativierung fürstlicher Macht,

die

schon

1127 und 1151 mit der

Einbe-ziehung einer dritten Partei erreicht worden war, wurde

1159

zielstrebig fortge-führt:

„ Die

Polotschane

wurden

nach dem

Novgoroder

und

Kiewer Vorbild

zum

Vertragspartner

des

Fürsten,

der sich

ihnen gegenüber explizit

und im

Rahmen eines langfristigen Handlungshorizontes

mit

einem

in

ihrer Gegenwart geleisteten

Eid

verpflichtete.

Die

gegenseitigen Eide,

die

Begriffe

und

Sätze,

die in

okkasio-neller Öffentlichkeit gegenseitige und kollektive Verpflichtungen herstellten und

mit

Inhalt füllten, sind aber nicht

als

Beginn einer Kommunebildung

zu

interpre-tieren

–ein

abstrakter Begriff

wie

„communitas

oder „Gemeinde

“ ist

nicht nachweisbar.

Das

bilaterale Verhältnis

„ der

Polocker

“ zu

ihrem Fürsten

war

keine beschworene, institutionelle Bindung, sondern blieb

eine in

bestimmten

Si-tuationen stets

neu

geschworene gegenseitige Treuebeziehung. Damit blieb

die

Entwicklung zunächst ganz

im

Kontext

der

übrigen bedeutenden Städte

der

Rus

’ .1 Im

Kontakt

mit

lateinischen Kaufleuten werden

für das 13. Jh.

neue rechtliche Denkmuster

an der

oberen Düna

und in

Polock nachweisbar.

Der

Vertrag

von

Smolensk

1229

machte nicht

den

Burgstadtbezirk, wohl

aber das

Gebiet

mit der

Stadt

nach dem

westlichen Vorbild

des

Rechtsfriedens

zu

einem Sonderfriedens-bereich,

für den der

Fürst

die

Verantwortung trug.

Die

sozialen

und

rechtlichen Gruppen

der

Burgstadt wurden

als

Bewohner

des

Gebietes Mitgaranten

und

Nutznießer dieses

und der

folgenden Verträge.

Die

schriftlich festgelegten

Be-stimmungen veränderten

die

Interaktionsverfahren

der

Polocker, insbesondere

der

Kaufleute,

im

Umgang

mit

fremden Kaufleuten.

Die

Kombination

des

kollektiven Eides

mit

einem Friedensschluss,

die

schon

im 12. Jh.

nachweisbar

ist,

bekam

im

Kontakt

mit

westlichen Partnern einen gänzlich neuen rechtlichen Inhalt.

Allmäh-lich

verrechtlichte

sich

kollektives Handeln;

in der vom

Fürsten beherrschten Stadt entstanden allererste stadtrechtliche Anfänge.

Die

Vereinbarungen

„ der

Polocker

“ mit

ihrem Fürsten sind nicht

nur in

einen Zusammenhang

zu

stellen

mit den

Verträgen

der

Städter

mit

ihren Fürsten

im 12. Jh.,

sondern auch

mit den

Verträgen

mit

Riga,

die im 14. Jh. den

Status

der

Burgstadt

als

Rechtsträger

fes-tigten.

Mit

ihnen begannen

sich „ die

Polocker

“ im 13. Jh. als

eine frühe, sehr

un-einheitliche herrschaftliche Genossenschaft ohne institutionalisierte eigene

Or-gane

zu

konsolidieren.

Nach und nach

nahmen

in der

Interaktion

mit Riga und

1 Vgl. ZERNACK (1967), S.66–78, S.92–109.

B.III Zwischenbilanz 89

dem

Fürsten rechtlich ausformulierte kollektive Handlungshorizonte

der

Städter Gestalt

an. Die im 12. Jh.

erlangte Fähigkeit

der

Städter,

mit

Fürsten Verträge

ab-zuschließen, wurde damit

im 13. Jh. zur

Grundlage einer neuen Entwicklung.

Bereits

mit den

Veränderungen,

die vom 13. und 14. Jh. an im

Kontakt

mit

west-lichen Partnern eintraten, begann

die

eigene,

im

Vergleich

zu den

Städten

der

nordöstlichen

Rus ’

besondere Entwicklung

von

Polock. Aber erst

im 15. Jh.

wur-den die

Unterschiede wirklich signifikant.

Schon

vom 13. Jh. an

sind

in der

Interaktion

mit den

neuen lateinisch geprägten Nachbarn Veränderungen

in

wichtigen Feldern kollektiven Handelns

der

Polocker Städter erkennbar. Bereits

von 1307 an

gehörte Polock dauerhaft

zum

litauischen Großfürstentum.

Erst mit dem

Ende

des 14. Jh.

begann aber eine Umgestaltung

der

lokalen Gesellschaft

nach dem

Vorbild

der

Prozesse,

die

zuvor

in

Polen

zu

beobachten waren:

Erst

nach

der

Personalunion

des

litauischen Großfürsten

mit dem

polnischen Königreich

1385

beseitigte

der

Großfürst

den

Teilfürstensitz.

Wie es

zuvor

in den

polnischen Teilfürstentümern geschehen war, wurde

der

Fürst

nun

durch einen weniger starken Statthalter

des

Großfürsten ersetzt.

Erst

nach diesem Schritt wurden

im 15. Jh. für die

Organisation

adelsähnli-cher

sozialer Gruppen nach lateineuropäischem Vorbild

das

genealogische Prinzip

und

schriftliche Standesprivilegien grundlegend. Solche Privilegien waren

für die

Region

ein

neuartiges Medium

zur

Organisation nicht weniger neuer Formen

so-zialer Beziehungen:

Sie

garantierten über große räumliche

und

zeitliche Distanzen hinweg schriftlich festgelegte ständische Rechtsverhältnisse sozialer

Großgrup-pen. Die

persönliche, auch räumlich möglichst nahe Beziehung

zum

Herrscher verlor ihren bestimmenden Einfluss

auf den

Status

des

regionalen Adels.

Der

Ge-folgschaftsadel,

der sich

durch

den

Dienst

am

lokalen Fürsten auszeichnete, ver-schwand oder wandelte

sich

wesentlich.

Die

herrschaftliche Macht,

die sich seit dem 10. Jh. in der

Person

des

Polocker Fürsten gesammelt hatte, wurde

so

dauerhaft gespalten.

Die

Großfürsten nahmen

die

wichtigsten Befugnisse ihrer örtlichen „Statthalter

(

namestniki

“ ), die

bald nach polnischem Vorbild durch Wojewoden ersetzt wurden,

an

sich, oder übertrugen

sie

ihrem

„ Rat“

(

rada

“ ).

Dieses Beratergremium

des

Großfürsten beherrschten litauische Magnaten,

es

gewann

im 15. Jh. an

Konturen

und

Ein-fluss.1

Die

großfürstlichen Privilegien glichen zunächst

den

katholisch getauften

li-tauischen Adel

in

seinem rechtlichen Status

dem

polnischen Adel

an. Im

grundle-genden Privileg,

das

Großfürst Sigismund

im

Zusammenhang

mit dem

Aufstand

von 1434 nun

auch

dem

orthodoxen Adel verlieh, stand

die

Motivation: „terras nostras Lithuanie

et

Russie

in

statu meliori reponere

“.2

Erstmals wurde damit

im

Rahmen fürstlicher Herrschaft

auch

über

das Land

Polock (respektive

den

Adel der Region) ausdrücklich

das

Ziel handlungsleitend,

das

bereits

für den

mitteleu-ropäischen spätmittelalterlichen Landesausbau (

melioratio terrae

“)3

charak-teristisch gewesen war:

Ein

bestehender Zustand einer Region respektive einer sozialen Gruppe sollte langfristig verbessert

und

nicht

nur

bewahrt oder wieder-hergestellt werden.

1 HELLMANN (1989), S.797.

2 LJUBAVSKIJ (1910), Beilagen, S.302.

3 HIGOUNET (1986), S.246; vgl. KÖRMENDY (1995); vgl. JANECZEK (1995).

C Wandel im Polen-Litauen der Jagiellonen

91 Mit den

Privilegien traten Adlige

in ein

unmittelbares Verhältnis

zu

ihrem Herrscher

und

gewannen eigene Herrschaftsrechte.

Der

Großfürst verlor durch

die

rechtlichen

und

fiskalischen Immunitäten

des

Adels bald

an

Macht,1

die

mehr

und

mehr

der

Reichstag (

Sejm

“)

übernahm.

An ihm

nahmen nach

der

zweiten Hälfte

des 16. Jh. auch der

mittlere

und

kleine

Adel

teil. Insbesondere

bei der

Bewilli-gung

von

Steuern erlangte

der Adel nach

westlichem Vorbild schon

bald

Ge-wicht.2 Auch

im

litauischen Großfürstentum

ist

diese frühe Phase

des

Reichstages aber nicht unmittelbar

als

erster Schritt

zur

Schwächung

der

Zentralgewalt

zu

ver-stehen:

Der

Großfürst erreichte zunächst

sein Ziel der

effizienteren Ressourcenbe-schaffung durchaus.

Die

Städte waren

vor dem

Großfürsten lediglich durch

den

Träger

der

Lan-desherrschaft,

den

Wojewoden,

und

später durch

den

regionalen Adel vertreten.

Nach

der

Verleihung

von

Magdeburger Recht,

das die

Städte

de jure von der

Lan-desherrschaft trennen sollte, hatten

sie

keine Teilhabe

am

Personenverbandsstaat.3

Das

Recht wurde nicht zuletzt verliehen,

um mit den

Zahlungen

der

Bürger,

die

damit verbunden waren,

die

großfürstlichen Einnahmen

zu

verbessern.4

Als

Reak-tionen

auf

Klagen Adliger kamen

bald

Schiedssprüche

des

Großfürsten

und

seiner magnatischen Berater zustande,

die oft die

städtische Autonomie einschränkten.5

In

dieser Hinsicht entwickelte

sich das

Städtewesen

im

Großfürstentum ganz

im

Einklang

mit den

gleichartigen Entwicklungen

in

Polen.6

Der

polnisch-litauische Adel begründete seine lokale

und bald den

Staat

be-herrschende Macht zusehends

auf der

exportierenden Gutswirtschaft.

Sie

wurde umso ertragreicher,

je

mehr

die

dichter besiedelten Gebiete Nordwesteuropas

von

1500 an

bereit waren,

für

Getreide

und

andere Rohwaren

zu

bezahlen.

Der

Groß-fürst behielt jedoch länger

als der

polnische König weiterhin

eine

mächtige Stel-lung gegenüber

dem

nichtmagnatischen regionalen Adel.7

Das

Bewusstsein

des

orthodoxen Adels,

Teil der

alten ostslawischen

Rus ’ zu

sein, wurde

von

einem Zugehörigkeitsgefühl

zum

litauischen

und

später polnisch-litauischen Vielvöl-kerreich überlagert.8

1498

wurde Polock

das

Magdeburger Recht verliehen. Dieser Schritt

ist das

einschneidende Ereignis,

das die

Darstellung dieser Phase

der

Polocker

Ge-schichte während

der

polnisch-litauischen Personalunion

in

zwei Teile gliedert

– bis auf die

Skizze

zur

wirtschaftlichen

und

demographischen Entwicklung,

die nun

folgt.

1 ŁOWMIAŃSKI (1986), S.612f.

2 HELLMANN (1989), S.801–803.

3 Als 1529 Sigismund II. August Großfürst wurde, nahmen an der Krönung nicht nur die Woje-woden teil, sondern auch Vertreter der Städte des Großfürstentums, darunter auch solche von Polock. PSRL 17, S.405. Ihre Teilhabe wurde jedoch nicht zur Regel. Nur Wilna bildet eine Ausnahme: Kurz vor 1569 errang es einen (einflusslosen) Sitz im Sejm. JABLONOWSKI (1955), S.46. Die Städte Polens verloren von der Mitte des 15. Jh. an ihren zuvor beachtlichen Einfluss. BISKUP (1980), S.172f.; KACZMARCZYK / LEŚNODORSKI (41971), S.58–62.

4 PIETKIEWICZ (1995), S.204.

5 BARDACH (31965), S.187, S.407; BOGUCKA / SAMSONOWICZ (1986), S.461, S.478ff.

6 BOGUCKA / SAMSONOWICZ (1986), S.322f.

7 CONZE (1940), S.47f.

8 Vgl. CZECH (1987), S.566, S.572f.

C.I

SIEDLUNGSGESCHICHTE, DEMOGRAPHIE

UND

WIRTSCHAFT

Im Dokument ,,Vom Polocker Venedig (Seite 88-93)