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LENKE / LUTZ / SPRENGER (1995), S.16–19

Im Dokument ,,Vom Polocker Venedig (Seite 21-27)

8 GIDDENS (1988), S.82, S.96.

9 WILLEMS (1997), S.35.

10 Rahmen differenzieren und relationieren Handlungen in langfristigen Zusammenhängen.

Rahmen „ermöglichen und strukturieren“„die Serialität des sozialen Lebens, die „Ketten

(Randall Collins) und Verkettungen von Handlungen und Interaktionen“. Rahmen bedingen und begrenzen „Bedeutungs-, Handlungs- und Erlebensfelder.WILLEMS (1997), S.44, S.32f., S.35f.

11 WILLEMS (1997), S.44.

A.III Methodisches, Definitionen und Einschränkungen 21 sieren, formieren einen Diskurs.

“1 Der

Begriff Diskurs steht hier

für

sprachlich hergestellte Handlungs-

und

Sinnzusammenhänge,

für

einen „Spielraum

des

Sag-baren

(LANDWEHR),

für die

sprachlichen Grenzen eines Handlungsfeldes.2

Ein

Diskurs formt

und

begrenzt

ein

Handlungsfeld

auf der

sprachlichen Ebene

als

Sprachfeld.

Er ist

bestimmt durch spezifische Kommunikationsmittel, thematische Inhalte, Argumentationsstrategien, Denkfiguren, Verfahren, Begriffsfelder, Satz-formationen

und

Sinnzusammenhänge, Legitimationslogiken oder Wahrheitsent-würfe.

Nicht weniger

als

mündliches Handeln3

ist

schriftliche Kommunikation

als

Handlungszusammenhang anzusehen.

Der

Einsatz

von

Schriftlichkeit durch

Ab-sender

und

Empfänger konstituiert ebenfalls unmittelbar Handlungsfelder.

Schriftstücke sind somit sowohl

als

Ergebnis einer Handlung (Protokolle, Urkun-den) sowie

im

durch

die

Situation bedingten Kontext auch selbst

als

Handlung

zu

verstehen (Missiven, Anklagen, Verteidigungsschriften). Nicht ohne Grund dehnte

sich der

Begriff

„ acta “

(

Handlungen

“) als

Folge

der

außerordentlichen Dynamisierung

der

Schriftlichkeit

im

ausgehenden

13. Jh. in

Italien

auf

Geschrie-benes insgesamt aus.4

Wichtig sind

die

Grenzen

der

Diskurse, charakteristische Argumentationslo-giken, rhetorische Überzeugungsstrategien

und

Schreibstile, einzelne spezifische Satzkonstruktionen sowie Begriffsfelder,

die

Horizonte

und

Inhalte kollektiven Handelns begrenzen

und

ermöglichen.

Eine

vollständige Diskursanalyse kann

hier

aber nicht geleistet werden.

Um

Missverständnisse auszuräumen,

soll

daher

an-statt

von

Diskursen

von

Sprachfeldern gesprochen werden.

Es

gilt,

für

möglichst große Gruppen

der

Stadt Handlungsmöglichkeiten

und

Spielräume

des

Sagbaren beziehungsweise

des

Schreibbaren darzustellen.

Gemäß

der

hier

und im

weiteren Verlauf verwendeten Begriffe findet folglich

die

Entstehung

und

Reproduktion

von

Institutionen

in

einem Handlungsfeld

in den

Schranken spezifischer Rahmenvorstellungen

der

Akteure

und

mithilfe

ge-wisser Verfahren

und

Praktiken statt.

Ein

Handlungsfeld besteht weitgehend

aus

einem spezifischen mündlichen

und

schriftlichen Sprachfeld,

das die

einzelnen beteiligten Akteure

in

ihrem Sprachgebrauch respektive Schreibstil

in

konkreten Situationen wiederholt herstellen. Handlungsfelder können verschiedene soziale Reichweiten erlangen, verschiedene „Felder

“ der

Auseinandersetzung

um

oder

im

physischen Stadtraum sowie

im

„relationalen sozialen Raum

sein.5 Zudem können

sie

besondere Handlungslogiken6

und

eine eigene Ausprägung

von

„Öffentlichkeit

hervorbringen. Grundsätzlich

ist von

unterschiedlichen Öffent-lichkeiten auszugehen.7

1 LANDWEHR (2001), S.98f., S.152.

2 Vgl. HARDTWIG (1997), S.17.

3 Vgl. LANDWEHR (2001), S.100.

4 Vgl. BEHRMANN (1995), S.10.

5 Menschen werden als Individuen und soziale Akteure „in ihrer und durch ihre Beziehung zu einem sozialen Raum oder, besser, zu Feldern als solchen konstituiert (...).“BOURDIEU (1991), S.26–34.

6 BOURDIEU (31999), S.25f.

7 HOFFMANN (2001).

Im

Vordergrund steht somit

die

Untersuchung

von

Ereignisketten,

in

denen

sich

Handlungsfelder, besondere Interaktionsverfahren

und der sie

tragende mündliche

und

schriftliche Sprachgebrauch zwischen oder innerhalb

von

Grup-pen1 allmählich ausgestalteten.2 Dabei soll der

Blick

vor allem auf die Handlungs-ziele, Mittel

und

Verfahren gelenkt werden,

die in den

spezifischen Handlungs-kontexten logisch3 wurden

und

Möglichkeiten kollektiven Handelns begrenzten, bestimmten

und

legitimierten.4

Die

Untersuchung

soll „ die

Bandbreite möglicher Interaktion

in

gegebenen Kontexten

beschreiben.5

Forschungen

zu

„politischer Kultur

gehen

von

ähnlichen Überlegungen aus,6 lassen jedoch

oft die

sozialen Träger

von

Institutionen unbeachtet.

Institutio-nen

sind jedoch

als

„soziale Kontexte

“ zu

verstehen.7 Nicht

nur aus der

Perspek-tive einer kulturwissenschaftlichen, „praxeologischen

Institutionengeschichte muss kollektive Interaktion gerade

in

einem institutionalisierten

Handlungskon-text in

Verbindung

mit

Integrationsprozessen ihrer sozialen Trägergruppe

be-trachtet werden.8 Teilhabe

an

kollektivem Handeln

ist

sozial, rechtlich oder auch geschlechtergeschichtlich

und

ethnokonfessionell bedingt.

Ein

Handlungsfeld

ist

daher

in

seiner sozialen Reichweite

und

Zugänglichkeit begrenzt.

Von

Bedeutung

ist die

Unterscheidung verschiedener Bereiche kollektiven Handelns,

die

durch

eine

teilweise übereinstimmende soziale Trägerschaft hergestellt wurden,

in

denen aber spezifische Interaktionsverfahren andere Regeln

der

Mitwirkung hervor-brachten.

Das

wechselseitige Zusammenwirken solcher unterschiedlichen Hand-lungsfelder,

die

gleichzeitig nebeneinander bestehen,

ist aus

einer übergreifenden Warte

zu

bestimmen.

Diese Ansätze erfordern

eine

phänomenologische Wertschätzung

der

Quellen.

Diese sind nicht

nur als

Wahrnehmungen

und

Darstellungen

von

Handeln, son-dern

in

ihrem zeitlichen

und

sozialen Kontext selbst

als

Handlung anzusehen.

Das

Zitieren

von

Quellentexten

soll

Handlungszusammenhänge nachvollziehbar

ma-chen.9

Eine

besondere Gewichtung

von

Institutionen

und der

Versuch, viele

Quel-len zu

zitieren, sind damit Methode.

Sie

möchte weder

aus

makro- noch

aus

mikrohistorischer Sicht

als

Mangel missverstanden sein:

Mit der

Beschränkung

auf

möglichst große, formal organisierte Gruppen

und

möglichst viele beteiligte Akteure fallen,

wie

erwähnt, zahlreiche Dimensionen einer mikrohistorischen Sichtweise

aus dem

Blickfeld. Stattdessen

soll

hier eine „Mesoebene

“ in den

Mit-telpunkt gestellt werden,

und

zwar

„ die

Ebene

der

Institutionen,

die

nichts sind

als

eigenständige, besonders stabile Mikrokontextgeflechte

von

besonderer

Quali-1 WILLEMS (1997), S.35.

2 BLÄNKNER (1994), S.105f.; programmatisch: SCHWERHOFF / MÖLICH (2000), S.25–28.

3 Eine „praxisimmanente Logikmuss nicht analytisch logisch sein. BOURDIEU (1999), S.25f.

4 Vgl. über „Legitimation durch Verfahren“: LUHMANN (1983).

5 WELSKOPP (1997), S.67.

6 ROHE (1990); LIPP (1996).

7 WELSKOPP (1997), S.43; GÖHLER (1994), S.57.

8 BLÄNKNER (1994), S.105f.

9 Bei einer Beschränkung auf eine analytische Paraphrase oder einen makrohistorischen Kom-mentar könnte dies nicht geleistet werden. WELSKOPP (1997), S.67f.

A.IV Forschungsstand 23

tät und mit

erhöhter Reichweite.

“1

Sozial-

und

Institutionengeschichte wird

als

Kommunikationsgeschichte ver-standen. Damit

soll

mikrohistorischen Ansprüchen

der

Alltags-, Diskurs-

und

Kulturgeschichte entsprochen

und

gleichzeitig Perspektiven einer dynamisch ver-standenen Strukturgeschichte wahrgenommen werden.2 Insgesamt wird versucht, innerhalb

der

einzelnen Zeitabschnitte

und

soweit

es die

Quellen erlauben,

die

Individuen

in der

Gruppe hervorzuheben.

Im

Vergleich

zu

Darstellungen

einzel-ner

Städte,

die

meist

in

mehreren Bänden angelegt sind, oder

zu stadtgeschichtli-chen

Monographien über bestimmte Perioden sind

die

Skizzen

zu den

separaten Zeitabschnitten knapp gehalten.

A.IV

FORSCHUNGSSTAND

Für fast alle

Zeitabschnitte besteht

das

Desiderat einer Erforschung mittelgroßer Städte

des

ostslawischen Gebietes.3

Die

Geschichte

von

Polock

ist

bisher

nur für die

Phase

der

Entstehung

der

Stadt befriedigend untersucht:4

E.

MÜHLE analysiert

bis

gegen Ende

des 12. Jh.

eingehend

die

Entwicklung

zur

Stadt,

die

sich

als

mul-tifunktionaler regionaler Zentralort5

von

Herrschaft, Wirtschaft, Religion,

Nah-und

Fernhandel sowie durch ihre sozial differenzierte Bevölkerung

und

ihre

ge-gliederte, verdichtete Bebauung

vom

Dorf unterscheidet.6

Die

Dissertation

von A.

L.

CHORO

Š

KEVI

Č

bietet

viel

Material

für die

Frage

nach der

Entstehung

der

un-terschiedlichen sozialen Gruppen

und

Leistungs- oder Nutzungsgenossenschaften

in

der Stadt

bis in

die erste Hälfte

des 16. Jh.7

Bei der

Untersuchung

der

Entwicklung kollektiven Handelns

der

Städter

ist für die Zeit vom 12. Jh. an zu

fragen, inwiefern

die

Polocker

ihr

gemeinsames Handeln entsprechend

dem von P.

BLICKLE entworfenen Konzept

des

„ Kommu-nalismus

organisierten. Kannten

sie die für

Land-

und

Stadtgemeinden Mittel-europas grundlegenden Leitbegriffe kollektiven Handelns

wie das

„bonum

com-1 WELSKOPP (1997), S.64.

2 Vgl. WELSKOPP (1997); BLÄNKNER (1994). Zu analogen mediävistischen Überlegungen vgl. GOETZ (1999), S.174–177, S.212f.; OEXLE (1998); auch ALTHOFF (1990); ALTHOFF (1997).

3 Vgl. bereits HELLMANN (1966), S.379; ZERNACK (1973), S.21f.; REXHEUSER (1982), S.226; HAUSMANN (2002a), S.34, S.116.

4 Werke zum gesamten Zeitraum: Eine kurze, auf Quellenverweise verzichtende Aufsatzsamm-lung (KRAVČENKO / KAMENSKAJA (Red.) (1967); erneut: PETRIKOV (Red.) (21987)) so-wie eine kurze Monographie (ŠAMOV (1987)) sind unbefriedigend. Eine Fundgrube, aber ohne Fragestellung: ORLOV (1995) / ARLOŬ(2000). Zur Stadttopographie: TARASOV (1992b); TARASAŬ(1998).

5 GOEHRKE (1980), S.195; ENGEL (1995), S.9f.; zum Zentralitätsbegriff: DENECKE (21975).

6 MÜHLE (1991), S.203–238. Die ersten Monographien zur Geschichte der Polocker (und Vi-tebsker) Region bis ins 16. Jh. sind historiographiegeschichtlich wertvoll: DRUŽILOVSKIJ (1866); DRUŽILOVSKIJ (1867); BĚLJAEV (1872). Im Gegensatz zum Werk von DOVNAR-ZAPOL’SKIJ (1891) ist V. E. DANILEVIČs Buch zum Polocker Land bis ins 14. Jh. auch so-zial- und institutionengeschichtlich interessant. DANILEVIČ(1896). Zur älteren Archäologie:

ŠTYCHOV (1975). Vgl. die Synthese zum Polocker Land bis ins 13. Jh.: ALEKSEEV (1966).

7 CHOROŠKEVIČ(1974b). Teile der unveröffentlichten Dissertation wurden im 5. Bd. der Quellenedition PG erweitert publiziert.

mune

“ , den

korporativen Konsens oder

den

gegenseitig getragenen Rechtsfrie-den?1 Damit verbunden

ist die

Frage nach

dem

Charakter

der

Stadt

als

„Rechts-stadt

“ .2 Die Wege zur

kommunalen Stadt,

die für das

ältere Ostmitteleuropa

und

insgesamt Mitteleuropa erarbeitet worden sind, dürften

sich

auch

für die

Ein-schätzung

der

Vorgänge

in

Polock

als

maßgeblich erweisen.3 Kernfragen

zu den

ersten beiden Zeitabschnitten betreffen daher

das

„ve

č e“– die

Volksversamm-lung,

die im 12. Jh. in

kritischen Phasen

der

fürstlichen Herrschaft nachgewiesen ist.4 Grundlegend

zu den

Versammlungen

in

Polock

bis ins 12. Jh.

sind

die

For-schungen

von

ZERNACK.5

In

dieser Abhandlung soll versucht werden, seine Ergebnisse durch

die

Konzentration

auf die in den

Quellen verwendete Begriff-lichkeit

und mit der

Herstellung

von

Handlungszusammenhängen

zu

erweitern.

In

seiner Sicht konnte

das

Verhältnis zwischen

der

Stadt

und dem

großfürstlichen Statthalter,

der mit der

institutionellen Eingliederung

ins

Großfürstentum Litauen

zu

Beginn

des 14. Jh.

eingesetzt wurde, lediglich

noch in

Krisensituationen,

in

denen

die

Zentralgewalt funktionsunfähig war, ähnlich

sein wie

früher.

Ver-sammlungen

des 15. Jh.

seien zwar

eine

Umformung

der

ve

č

e-Versammlungen gewesen

– ein

„aristokratisiertes Ve

č e“

(LJUBAVSKIJ).

Sie

hätten aber „

das

ge-meinsame Auftreten

des

Adels

des

Landes

’ im

Auge

gehabt.

Sie

stellten somit

„etwas

in

verfassungsgeschichtlicher Hinsicht Andersartiges

und

Neues

dar.6 Hingegen sieht

die

russische Forschung

bis

heute

die

burgstädtischen

Ver-sammlungen

im 15. Jh. in

einem kontinuierlichen Zusammenhang

mit

denen

des 12. Jh.7

DVORNI

Č

ENKO fragt daher nicht,

ob im 15. Jh.

der Anfang

von

etwas 1 Eine Gemeinde soll eine kommunalistische genannt werden, wenn sie über Institutionen wie

ein eigenes Gericht und einen Rat verfügte, von den Amtsträgern repräsentiert wurde und die Kompetenz besaß, Recht zu setzen. BLICKLE (1991), S.10f., S.15f. Zu Schlüsselbegriffen im Konzept des Kommunalismus: SCHREINER (1996); EBERHARD (1988); wichtig zu Nov-gorod: LEFFLER (2005) (im Druck); zur Rolle von Friedenskonzepten in der Rus’und in

Novgorod: ROHDEWALD (2002b).

2 Wesentliche Elemente einer solchen sind städtischer Friede, städtische Freiheit, Stadtrecht und eine „Stadtverfassung auf gemeindlich-genossenschaftlicher Grundlage“. DILCHER (1973), S.15. ENGEL betont im Gegensatz etwa zu MÜHLE, dass auch große städtische Siedlungen, die weder diese rechtlichen Kriterien erfüllten, noch eine unabhängige Selbst-verwaltung kannten, „herrschaftlich-frühstädtisches Siedlungszentrum“und nicht Stadt

genannt werden sollte. ENGEL (1995), S.10f., S.18; vgl. BRACHMANN (1995), S.342. Mit der Definition der Stadt als multifunktionalem Zentralort wird indessen zwischen einer nicht-kommunalen Stadt und einer kommunalen Stadt unterschieden. Vgl. A. CHOROŠKEVIČ,

„Stadt; Kiewer Rus’“, in: LexMA 7, Sp.2207f.; A. POPPE, Gorod’“, in: LexMA 4, Sp.1562f.

3 DILCHER (1998); ENGEL (1995), S.13–22. In der Perspektive des Sammelbandes Burg –

Burgstadt Stadt (BRACHMANN (Hg.) (1995)) fehlen ostslawische Städte fast gänzlich.

4 ZERNACK (1973), S.17; MÜHLE (1991), S.236. Zur Historiographiegeschichte über diesen Themenkreis bis ins 15. Jh., leider in fehlerhaftem Druck: ROHDEWALD (2001b).

5 ZERNACK (1967), S.119–124.

6 ZERNACK (1967), S.113, S.125.

7 Gemäß dem slawophilen I. D. BĚLJAEV soll das angeblich sehr früh entstandene veče bis 1498 keinerlei Veränderung erfahren haben. Nach 1498 konnte er nur einen völligen Bruch mit der vorherigen Verfassung erkennen. BĚLJAEV (1872), S.153, S.305, S.325f. Auch laut CHOROŠKEVIČblieb das veče bis in die zweite Hälfte des 15. Jh. erhalten, wobei allerdings im 15. Jh. die alten angeblich „republikanischen Ordnungen verschwommenere Züge annah-men als im Altrussischen Staat“. CHOROŠKEVIČ(1982a), S.121; CHOROŠKEVIČ(1974b), S.94f.; CHOROŠKEVIČ(1974a), S.21; ähnlich: FLORJA (1995).

A.IV Forschungsstand 25 Neuem lag, sondern beklagt lediglich

den

Zerfall

der

angeblich „altrussischen

Gesellschaftsordnung.

Sein Werk ist

sehr hypothetisch angelegt.

Der

genannte frühneuzeitliche Chronikabschnitt über

das

Polocker Venedig belegt

in

seinen Augen einen hochmittelalterlichen Stammesältestenrat.1

Mit

derselben Passage begründet

Z. Ju.

KOPYSSKIJ seine These

von

einer

im 13. Jh.

gefestigten „Selbst-verwaltung

“. Die

„Ve

č

etradition

“, die im 12. Jh.

entstand, lässt auch

er ungebro-chen bis in die

zweite Hälfte

des 15. Jh.

wirken.2

ZERNACK hebt

als

Charakteristikum

der

ostslawischen Gebiete

Polen-Litau-ens

hervor, dass Orthodoxe stadtrechtlich diskriminiert

sein

konnten.

Wo nur

Teile

der

Stadt

mit

Magdeburger Stadtrecht bewidmet wurden, habe

sich

keine homogene Rechtsstadt entwickelt. ZERNACK stützt

sich in

diesem Zusammenhang

bei

seiner Einschätzung

der

Ausdehnung

des

ostmitteleuropäischen Geschichts-raumes

nach

Osten

u. a. auf den

verfassungstypologischen, komparatistischen Aufsatz MUMENTHALERs,

in dem für das

östliche Polen-Litauen nicht

von

einer Rechtsstadt, sondern

von

einer „Partikularstadt

gesprochen wird.

Auf

dieser Grundlage identifiziert ZERNACK eine „Übergangszone ostmitteleuropäischer Struktur

nach

Osten

“ . 3 Auch

diese Thesen sind

zu

überprüfen.

Mit der

demnächst publizierten Dissertation

von C. V.

WERDT

zum Städtewe-sen der

früheren Gebiete

der Rus ’ im

polnisch-litauischen Staatsverband

vom 14.

bis zur

Mitte

des 17. Jh.

liegt nunmehr eine Typologie

zur

Entwicklung rutheni-scher Städte während dieser

Zeit vor. So

differenziert

V.

WERDT „zwei städtische Idealtypen,

die

unterschiedlichen historischen Traditionen

und

Kulturräumen ent-stammen

“:

Während „

die

Magdeburger Rechtsstadt (...)

der

Inbegriff

der

okzi-dentalen Stadt

nach Max

Weber

gewesen

sei,

führte „

die

ruthenische Burgstadt 1 DVORNIČENKO (1983c), S.23; DVORNIČENKO (1993), S.46, S.237. Sein Konzept lehnt sich an das von I. Ja. FROJANOV an: Die Sippenverbände sollen sich bis zum 11. Jh. zu „Stadt-staaten“(goroda gosudarstva“) entwickelt haben. Das veče soll schon im 9. und 10. Jh.

existiert haben, was unhaltbar ist. Nach dem Übergang zur territorialen „Gemeinschaft“ („obščina“) im 11. Jh. soll diese bis ins 15. Jh. bestehen geblieben sein, bis sie sich wegen des wachsenden und mit Privilegien immunisierten Großgrundbesitzes der Bojaren auflöste.

Die Einführung des Magdeburger Rechts soll die Überreste der alten Selbstverwaltung zum Verschwinden gebracht haben. Die Wirkung des „ausländischenRechts sei schädlich gewe-sen. DVORNIČENKO (1983b), S.1; vgl. FROJANOV (1974); FROJANOV (1980); FROJANOV / DVORNIČENKO (1988); DVORNIČENKO (1983c), S.49, S.92–96, S.20. Offenbar von DVORNIČENKO beeinflusst: A. POPPE, Gorod’“, in: LexMA 4, Sp.1562f. ŠTYCHOV schreibt ebenfalls von einem Weiterleben des veče direkt bis 1498. ŠTYCHOV ist aber be-züglich der Kompetenzen des veče und seiner Stellung zum Fürsten zurückhaltender als

DVORNIČENKO. ŠTYCHOV (1975), S.21; vgl. DVORNIČENKO (1993), S.140; DVOR-NIČENKO (1983c).

2 Er vertritt in einem Artikel und in einer kurzen Monographie zur Stadtgeschichte im rutheni-schen Teil des Großfürstentums die These, die Stadtbevölkerung von Polock hätte weitge-hend autonome Institutionen gehabt, bis sie zu Beginn des 15. Jh. vom großfürstlichen Stell-vertreter abhängig geworden seien. Während des 15. Jh. habe Polock im Kontakt mit Riga handelsrechtliche Normen entwickelt, die dann 1498 Teil des (verliehenen) Stadtrechts wur-den –nicht anders als etwa in Genua oder Venedig. KOPYSSKIJ (1975), S.76f.; KOPYSSKIJ (1972), S.34. Der Wandel sei aber nicht durch die Verbindungen zu Riga oder anderen Städten mit deutschem Stadtrecht in Gang gekommen, diese hätten während langer Zeit kei-nen Einfluss auf die Entwicklung in Polock gezeigt. KOPYSSKIJ (1975), S.82; KOPYSSKIJ (1972), S.35–37.

3 ZERNACK (2001), S.328; MUMENTHALER (1998).

(...)

die

Traditionslinie

der

altrusischen [sic!] Burgstadt

aus den

Zeiten

des

Kiewer Reiches

fort.“1

Allerdings sind Burgstädte

bis ins 13. Jh.

nicht allein für

den

ostslawischen

Raum

charakteristisch, sondern auch

für

Mitteleuropa.2 Beide

von V.

WERDT unterschiedenen Typen wichen

in den

Formen,

wie sie für die

ru-thenischen Städte

im

Spätmittelalter

und in der

frühen Neuzeit herausgearbeitet werden, jedoch

vom

Idealtypus

ab. V.

WERDT stellt

für

diese

Zeit in

Ruthenien einen „graduellen Übergang

zwischen

den

beiden Idealtypen fest.3

Während

V.

WERDT Gemeinsamkeiten

und

Differenzen

der

ruthenischen Städte untereinander

und

schließlich idealtypische Charakteristika

der

Städte

der

Region gegenüber westeuropäischen Städten sowie Burgstädten Osteuropas

im

engeren

Sinn

herausarbeitet, sollen

in der

vorliegenden Untersuchung Vergleiche

von

Polock

mit

mittelgroßen Städten Polens,

wie

beispielsweise Kalisz

und

P

ł ock,

Aufschluss über Unterschiede

und

Gemeinsamkeiten

des

Polocker Werdegangs gegenüber jenem ostmitteleuropäischer Städte geben.4

Für

Polock

ist

der

dynami-sche

Charakter

der

Entwicklung kollektiven Handelns

im

Kontakt

mit dem

west-lichen Europa hervorzuheben. Zudem

ist der Grad der

Institutionalisierung

von

Versammlungen

zu

unterscheiden. „Öffentliches

Handeln

ist bis tief ins

Spät-mittelalter

zu

verstehen

als in der

„face-to-face

-Interaktion

der

beteiligten

Ak-teure hergestellte, ereignis-

und

situationsgebundene „okkasionelle Öffentlich-keit

“ der in

ihrer

Ehre

berührten Fehdefähigen.5 Angesichts

der

Festigung genos-senschaftlicher Formen kollektiven Handelns

ist

sodann nach

der

Entstehung einer genossenschaftlichen Öffentlichkeit

zu

fragen.

Im Dokument ,,Vom Polocker Venedig (Seite 21-27)