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MITTEIS / LIEBERICH (1988), S.280

Im Dokument ,,Vom Polocker Venedig (Seite 167-173)

Noch in einem weiteren Fall aus der ersten Hälfte der 80er Jahre des 15. Jh

5 MITTEIS / LIEBERICH (1988), S.280

6 KNACKSTEDT (1975), S.146.

C.II Macht zwischen Statthaltern und Städtern bis um 1490 167 nungen, dass

sich

freie Leute gegen Zahlung einer gewissen Summe

in

Abhän-gigkeit begaben

und so der

allgemeinen Steuerpflicht entkamen.1

Die

Klage

der

Polocker richtete

sich 1486

nicht

nur

gegen

den

Adel, sondern auch gegen

den

Bischof

und

dessen Schuldknechte.

Auch der

orthodoxe Bischof

von

Polock beanspruchte

im 15. Jh.

steuerliche Befreiungen,

die

über seine alten Rechte hinausgingen.2

Die

Handwerker

und

Kaufleute

auf

städtischem Besitz

der

Geistlichkeit,

der

dank Schenkungen

an

Klöster stetig wuchs,3 hatten zunächst kaum unter

der

Gewalt ihrer Grundherren gestanden.

Ihr

Status erfuhr

erst im 15.

Jh. eine

grundlegende Wandlung,

als

neuartige Privilegien

und

Befreiungen

Aus-einandersetzungen

um

ihre Pflichten

und

Rechte verursachten.

Die

Möglichkeit,

sich

durch

eine

Selbstverpfändung gegenüber einem Grundherrn

von

allgemeinen Lasten

zu

befreien, wurde

für

Neuzuzügler

vom Land

immer attraktiver. Vertei-digten

der

Bischof

und die

Klöster Schuldner,

die

Steuern verweigerten, konnten

sie sich aber auf

keine Privilegien berufen:

Sie

handelten

auf

eigene Faust

nach dem

Vorbild

des

Adels

und

katholischer Bischöfe

der

westlichen Nachbarstädte.

Bisher

war die

fürstliche Macht

in dem

Gebiet,

das die

Burgstadt einschloss,

auf

keinerlei Ansätze

von

Immunitäten gestoßen, abgesehen

von den

unvollständigen

der

Geistlichkeit. Traditionell

war die

befestigte „Burgstadt

(

horod

“)

rechtlich nicht

vom

Umland getrennt: Insgesamt stellten

sie, wie zur Zeit der

Rus

’, gemein-sam das

„Gebiet

(

volost

) des

Herrschaftsträgers dar.4

In

diese rechtlichen Raumvorstellungen drangen

im 15. Jh.

steuerliche

und

gerichtliche Immunitäten nach okzidentalem Vorbild

ein, die in der

städtischen Siedlung

bis 1486

offensichtlich

nur von den

Bojaren

und der

Geistlichkeit

bis zu

einem gewissen

Grad

durchgesetzt wurden.

Die

Bürger

und die

übrigen Städter mussten

sich

benachteiligt fühlen: Schlimmstenfalls mussten

sie in dem Maß, in dem sich

andere weigerten, mehr

zur

ehemals allgemeinen Abgabe beitragen.

An-dererseits musste

der

Großfürst

um die

schwindenden Einkünfte besorgt sein.

Beider

Ziel war es, die

Anzahl

der

Schuldknechte

der

Geistlichkeit

und der Boja-ren auf dem

Stadtgebiet möglichst gering

zu

halten.

1486

versuchte

der

Großfürst deshalb

mit

einer Verordnung,

die

Geltung

der

Privilegien innerhalb

der

Stadtbe-festigungen indirekt einzuschränken. Gemäß

dem

Schreiben

von 1486

wurde

da-mals eine

bereits bestehende Regel schriftlich formuliert

und vom

Großfürsten verordnet:

1 KNACKSTEDT (1975), S.129, S.146; zum 17. Jh.: HITTLE (1979), S.57–61.

2 Wichtige Teile der Kirchenordnung Jaroslavs galten auch im litauischen Großfürstentum und

wurden der Kirche im 15. Jh. sowie zu Beginn des 16. Jh. bestätigt. LJUBAVSKIJ (1893), S.628f.; JABLONOWSKI (1955), S.53f.

3 Im 15. Jh. und zu Anfang des 16. Jh. stifteten alte Bojarengeschlechter Land. Auch reiche Bürgerfamilien zeigten sich großzügig; der litauische Großfürst hingegen ließ sich nie zu

Schenkungen an Polocker orthodoxe Kirchen bewegen. CHOROŠKEVIČ(1974b), S.184–189;

PANOV (1915), S.49. Eine katholische Kirche in Polock, deren Bau den Rigaer Kaufleuten 1406 erlaubt wurde, ist eventuell 1471 erneut genannt. PG 1, Nr. 36, 1406, S.98; PG 2, Nr.

147, 1471 S.36f.

4 „Skirigailu volodeti horodom Polockom i usemi tymi mesty i horody i volostmi i ljudmi, useju toju zemleju, što koli tjahlo i tjahnet k horodu Polocku.“PG 1, Nr. 10, 1387, S.53; PG 2, Nr.

226, 1498, S.154; PG 2, Nr. 239, 1500, S.174.

„Der Bischof und die Bojaren dürfen keine Schuldknechte in der Stadt (v meste) haben, außer einen Vorsteher auf ihren Vorhöfen in der Burg (v horode), aber in der Stadt (na meste) soll es beim alten bleiben, wie es von alters her war.“1

Erst mit

diesem Dokument

von 1486

passte

sich der

Großfürst

dem

Wandel

an, der im

lokalen offiziellen Sprachgebrauch

mit der

Verleihung

des

Wachsgüte-siegels

in

Polock

zu

beobachten war:

Er

sprach

ab

jetzt

von der

„Stadt

(

m

ě

sto

“ )

Polock.2 Diese Stufe

des

terminologischen Wandels

war wie jene von 1449 (Die

Bürger verwendeten

nach der

Bestätigung

des

Standesprivilegs

von 1447 den

Begriff „m

ě

sto

“ .) und 1463 (Der

Statthalter übernahm

mit der

Verlei-hung

des

Wachsgütesiegels

den

Begriff.) unmittelbar

mit

einem Privileg verbun-den.

Die

Sonderregel,

die

mithilfe dieses Begriffes aufgesetzt wurde,

war in

ihrer Gültigkeit

auf das

Stadtgebiet begrenzt.

Sie

ging daher stillschweigend

von

einer neuartigen Unterscheidung

von

Stadt

und Land

aus, wenn auch zunächst

nur

hin-sichtlich

der

Geldabgaben. Selbstverständlich änderte

das

jedoch nichts daran, dass

die

Städter weiterhin gemeinsam

mit dem

Umland

die

Landesabgabe

zu

ent-richten hatten

und

rechtlich

mit dem Land

verbunden blieben.

Das

Verbot, Schuldknechte

auf

städtischem Boden leben

zu

lassen, bedeutete noch lange nicht, dass ‘Stadtluft

frei

machte

’.

Zudem scheint

das

Dekret

von 1486

ohne große

Wir-kung geblieben

zu

sein. Dennoch

ist 1486

neben

den

älteren handelsrechtlichen Bestimmungen

und dem in der

Burgstadt intensivierten Sonderfriedensbereich

eine

weitere organisatorische Unterscheidung

des

Burgstadtbezirkes

vom Land

festzustellen.

Der

Großfürst legitimierte

die

Reaktion

der

nichtadligen Städter

auf die

neuartigen Immunitätsansprüche

der

Stände

der

Geistlichkeit

und des

Adels, indem

er

einen Bezirk abgrenzte,

in

welchem diese Ansprüche ungültig

sein soll-ten. Die

beginnende rechtliche

und

steuerliche Trennung

der

Stadt

vom Land und vom

Schloss

war

eine Folge

des

Wandels

der

gesamten Gesellschaft

von

Stadt

und Land

Polock.

Das

Dokument

von 1486

zeugt

von

einer

in

Polock

formulier-ten

Antwort gegenüber

dem

neuen Immunitätsgedanken westlicher Herkunft.

Von

1486 bis 1498

befand

sich die

Stadt

in

einem Zwischenstadium,

das den

prozess-haften Charakter

des

Wandels unterstreicht.

Aus dem

Dokument

von 1486

geht zudem hervor, dass

zu

diesem Zeitpunkt

die

größten sozialen Gruppen

der

Stadt gemeinsam

mit den

Bojaren schon

seit

einiger

Zeit

gegenüber

dem

Großfürsten

eine

Leistungsgemeinschaft bildeten,

die

durch einen gemeinsam geleisteten promissorischen

Eid

hergestellt worden war.

Es

heißt dort,

dass die Bojaren und die Bürger und die burgstädtischen Hofadligen und wir, die ganze Gemeinheit, den Eid geschworen haben (prisjahnuvši), diese Hilfe zu leisten.“Die Bojaren

ent-1 Vladyce i bojarom zakladnev za soboju v meste Poloc

kom ne nadobe meti, niž

’’li tol’ko

odnoho podvornika po svoim podvor(’)em v horode, a na meste po davnomu, kak zdavna byvalo.“PG 1, Nr. 195, S.112.

2 PG 2, Nr. 155, 1475, S.48; Nr. 195, 1486, S.112. Auch der Bischof verwendete weiterhin für die Stadt Riga und Polock „horododer „hrad“, was der ihm soziolinguistisch angemesse-nen kirchenslawischen Variante von „horodentspricht. PG 2, Nr. 181, 1481, S.93; Nr. 188, 1482–1488, S.103.

C.II Macht zwischen Statthaltern und Städtern bis um 1490 169

gegneten dazu vor dem Großfürsten, dass es diesen Eid schon lange nicht mehr gäbe, und sie baten uns, dass wir sie gemäß den Rechten des Fürsten Vytautas hielten, und gemäß unserem Recht, das wir ihnen gaben. Und der Brief, in dem der Eid steht, den haben wir ihnen für eine gewisse Zeit gegeben zur besseren Kenntnis (...).Schließlich ordneten der Großfürst und seine Berater an, dass die Bojaren diese Hilfe leisten müssen, wenn wir sie wünschen, gemäß unserem Eid, wie sie uns geschworen haben, in allem das Gute zu wollen. (...) Und die Bürger und die burgstädtischen Hofadligen und die ganze Gemeinheit haben von sich aus beliebt (zvolili) und uns gebeten im Namen der ganzen Stadt (ot vseho mesta) und der Hofadligen und der ganzen Gemein-heit, dass wir ihnen diesen Eid nicht erlassen.

Schon

vor 1486 war

folglich

ein

Verband verschiedener sozialer Gruppen ent-standen,

der sich mit dem

Schwur gegenüber

dem

Großfürsten einte.

Die

ver-schiedenen Gruppen wurden

in

diesem

Text aber

nicht

als

Einheit beschrieben, sondern

als

Vielheit

von

Gruppen:

Die

Gruppen leisteten

die

Abgabe nicht

ge-meinsam

als

Einheit, sondern

als

Summe einzelner Gruppen

sonst hätte

der

Großfürst nicht feststellen können, dass

die

Bojaren weniger beitrugen. Zudem hätte

er sie

auch nicht

mit dem

Verweis

auf

ihren kollektiv geleisteten

Eid als

ein-zelne Gruppe haftbar machen können.1

Die

Kombination dieses Eides,

den die

verschiedenen Gruppen ablegten,

mit den

abstrakten Begriffen „

die

ganze Stadt

“ und die

„ganze Gemeinheit

“ und die

bisher festgestellten gerichtlichen Befugnisse,

die den

Städtern ohne Statthalter

nach der

Mitte

des 15. Jh.

zukamen, zeigen, dass

sich der

Handlungsraum

der

Städter weiter konkretisierte. Ihre Befugnisse waren freilich immer noch bedeu-tend geringer

als die der

Kommunen westlicher Rechtsstädte. Immer

noch –

oder sogar erst jetzt

kann lediglich

von

einer privilegierten herrschaftlichen Genos-senschaft gesprochen werden,

die

über

ein

gemeinsames Organ verfügte,

ein

ge-meinsames Vermögen hatte,

die

Abgaben gemeinsam leistete

und

durch

Privile-gien

gewisse gerichtliche Kompetenzen besaß. Letztlich liegt

im

Grunde

nur

ge-meinsames Handeln mehrerer ständischer Genossenschaften

vor.

Es ist

insofern

von

einer übergreifenden Schwurgenossenschaft oder einem Schwurverband

einer durch eine „coniuratio

konstituierten Friedens-

und

Rechtsgemeinschaft

-2 zu

sprechen,

als die

verschiedenen Gruppen

mit dem

gemeinsamen

Eid

auch

die

Garantie

des 1406 von

ihnen

und den

Großfürsten

ge-tragenen Vertrages übernahmen,

der

zudem

1478 nur

durch

sie

bestätigt worden war. Damit wurden

sie zu

Trägern

des in ihm

festgelegten Stadtfriedens.

Im

Do-kument

von 1486

wurden gerichtliche Befugnisse aber nicht eigens genannt.

Es

sicherte keinen expliziten Stadtfrieden, dieser

war nur

durch

die

Verträge

mit Riga

ausdrücklich festgelegt. Tatsächlich nahmen

der

Wojewode

und

seine Gericht-samtleute weiterhin

die

meisten Aspekte

der

Gerichtsbarkeit über

die

Stadt wahr.

In

erster Linie wurde

mit

diesem

Eid

lediglich

die

Leistung

der

allgemeinen

Ab-gabe beschworen.3 Ähnlich

wie in

deutschen Städten

bis um

1200, aber

im

Unter-schied

zu

späteren Jahrzehnten, stand

der

Verband,

der sich mit dem

Schwur

ge-genüber

dem

Großfürsten konstituierte, noch ganz

im

Rahmen

der

Herrschaft

des

1 Vgl. GIERKE (1873), S.396–398.

2 K. KROESCHELL, „Schwurverband“, in: LexMA 7, Sp.1651.

3 Vgl. zur landesherrlichen „Bede“im Dorfverband: BADER (1967), S.272f.

Stadtherrn.1 Andererseits sind

für die

Städte

der

nordöstlichen

Rus ’

noch

um 1500

keine eindeutigen Hinweise

– und

schon

gar

nicht

so

konkrete

wie in

Polock

– auf

Grundformen einer solchen Leistungsgenossenschaft bekannt.2

Gemäß

dem

Schreiben

von 1486

trugen neben

der

Gruppe

der

Bojaren

„ die

Bürger

und der

Hofadel,

und die

schwarzen Leute,

und die

ganze Gemeinheit

“3

diesen Verband.

Mit den

„schwarzen Leuten

(

čornye ljudi

“ ) ist

eine neue

Be-zeichnung

für

eine soziale Gruppe

zu

erklären.

Sie war 1486 bis zu

einem

gewis-sen

Grad synonym

für die

„Gemeinheit

“4 und

verwies

auf

Beisassen

der bürgerli-chen

Grundbesitzer

in der

Stadt.5

Vor 1486 ist der

Terminus

im

Polocker Kontext nicht nachweisbar.6

1486

waren „schwarze Leute

abgabenpflichtige freie Leute.

Sie

leisteten

die

allgemeine Geldabgabe

und auch den

Schwureid,

was

daran

ab-zulesen

ist,

dass auch

sie die

Eintreibung

der

Abgabe

von den

Schuldknechten

der

Bojaren forderten. Obschon

die

Bürger ähnliche Privilegien erhalten hatten

wie die

Bojaren,7 waren ihre Beisassen

von

einer fiskalischen

und

gerichtlichen Mediatisierung nicht betroffen.8

1 Vgl. DILCHER (1998), S.40–44.

2 KNACKSTEDT (1975), S.168.

3 PG 2, Nr. 195, S.110.

4 Der Begriff stand 1486 dreimal direkt neben dem Terminus „Gemeinheit“: „Es haben uns geklagt die Bürger und der Hofadel, und die schwarzen Leute, und die ganze Gemeinheit“.

Bei anderen kummulativen Beschreibungen offensichtlich derselben Akteure fehlte er aber im

gleichen Dokument: „Aber die Bürger und die burgstädtischen Hofadligen und die ganze Gemeinheit haben uns von sich aus geklagt“. Offenbar waren hier „die schwarzen Leute“ vom Begriff der „Gemeinheitumfasst. In einem anderen Abschnitt jedoch steht in einer sol-chen Reihe nur der Begriff der „Schwarzen“: die Bürger und die Hofadligen der Burgstadt und die Schwarzen“. PG 2, Nr. 195, S.109–112.

5 CHOROŠKEVIČsieht mit dem Begriff „die niedrigeren Schichten der Stadtbevölkerungbezeichnet. PG 5, S.186. Weil im Land Polock 1528 und 1552 auch sehr kleine Grundstücke (damals freilich nur noch solche im Umland) zur Gestellung von Reitern verpflichteten, die teils vom Besitzer beackert wurden, und da es viele arme Erbengemeinschaften gab, die den-noch Bürger oder gar Bojaren waren, dürften alle Städter mit Grundbesitz entweder Bürger oder Bojaren und keine schwarzen Leute gewesen sein. Noch 1509 wurden die „schwarzen Leute“in einer in der sozialen Hierarchie absteigenden Reihe mit den Bürgern genannt: „alle Bürger, und die schwarzen Leute, und alle Abhängigen (zakladni), auch jene (...) unter dem Bischof, und den Äbten, und den Fürsten und Bojaren“. PG 3, Nr. 306, S.57. 1498 hingegen ist in dem analogen Kontext von „Leuten der Bürger“oder „bürgerlichen Leuten“die Rede:

„alle Leute (vsi ljudi) des Bischofs und der Äbte und auch der Priester und Popen, und die bojarischen (i bojarskie), und die der Bürger (i meščanskie)sollten dem neuen Recht unter-stehen. PG 2, Nr. 226, S.154. Von „schwarzen Leuten“ist noch ein drittes Mal in den 20er Jahren des 16. Jh. die Rede, später aber nicht mehr. PG 3, Nr. 306, S.57; BA 2, Nr. 164, S.122.

6 Er war im 15. Jh. dem Smolensker, Novgoroder oder auch dem Moskauer Sprachgebrauch entliehen worden. Im Smolensker Aufruhr gegen den Wojewoden zu Anfang der 40er Jahre des 15. Jh. erschienen neben Bojaren und „mestiči“auch „černye ljudi“als Teil der freien Stadtbevölkerung. PSRL 17, S.68, S.339f. In Novgorod waren die schwarzen Leute freie Ge-werbetreibende und Kleinhändler, die auf kleinen, eigenen Grundstücken in der Stadt wohn-ten. GOEHRKE (1981), S.459. Zu schwarzen Leuten in Moskau: KNACKSTEDT (1975), S.145.

7 KRASAUSKAITĖ(1927), S.41; LJUBAVSKIJ (1910), Beilagen, S.306; HELLMANN (1989), S.804.

8 So berichtet ein Schreiben „von den Polocker Bojaren und Bürgern und der ganzen Gemeine der Polocker Stadt“aus dem Jahr 1468 von einer Gerichtssitzung mit Vertretern dieser Gruppen. PG 2, Nr. 133, 1468, S.19. 1451 war die Gerichtsbarkeit des Wojewoden

bezie-C.II Macht zwischen Statthaltern und Städtern bis um 1490 171

Der

Großfürst bemühte

sich

1486,

den

Zwist zwischen Bojaren

und

übrigen Städtern

zu

entschärfen, indem

er die

Stadt

vom Land

organisatorisch

voneinan-der

abgrenzte. Zudem versuchte

er, die

allgemeinen Versammlungen,

die

durch getrennte Standesversammlungen abgelöst

zu

werden drohten, durch

eine

Rege-lung besser

zu

institutionalisieren.

Es

galt

zu

verhindern, dass

die

Stände ausein-ander gingen

und sich die

Einkünfte verringerten.

Nun ist auf

institutionelle

Maß-nahmen einzugehen,

die das

Dekret

von 1486

vorsah.

C.II.3.8 „dass

die

Bojaren

und die

Bürger

und die

ganze Gemeinheit einig unter

sich

seien

Scheiternde Institutionalisierung

1486

Das

Dekret

von 1486

entstand

im

Zusammenhang

mit

einer Gerichtsversammlung

vor dem

Großfürsten

und

wurde

an

seinem

Hof in

Traken verfasst. Offenbar

wa-ren

Vertreter aller Polocker Gruppen dorthin gereist, nachdem

die

Bürger gegen

die

Bojaren geklagt hatten:

„Wir haben uns angesehen mit den Herren unseres Rates, mit den Polocker Bojaren, mit den Bürgern und den Hofadligen, und mit den schwarzen Leuten und mit der ganzen Gemeinheit“. Der Großfürst verlangte nach der Sitzung als Konsequenz, dass die Bojaren und die Bürger und der Hofadel der Burg und die ganze Gemeinheit in Einmütigkeit (v zhode) unter sich seien, und dass sie unsere herrschaftlichen Angelegenheiten alle einig und gemeinsam erledigten (vsi z

hodoju pospolu spravljali) wie von alters her, und dass sich alle gemeinsam an jener Stelle versammeln,

wo sie sich seit langer Zeit versammeln. Und ohne die Bojaren dürfen die Bürger und der Hofadel der Burg (z horod

skimi dvorany) und die Schwarzen keine Versammlungen abhalten, in allen Sachen sollen sie sich so beraten, wie wir ihnen das Recht dazu gegeben haben.“1

Diese teilweise bereits zitierte Passage belegt nicht nur, dass hinter

den

Ab-senderformeln

in den

Urkunden tatsächlich jeweils

eine

Versammlung

von

zahl-reichen Mitgliedern

der

städtischen sozialen Gruppe angenommen werden darf.2

Sie

bezeugt außerdem

die

Freiheit

und

Prozessfähigkeit

der

„Schwarzen

“, die an den mit

gerichtlichen

und

fiskalischen Befugnissen ausgestatteten

Versammlun-gen der

Städter teilzunehmen hatten.

Auch in

Pskov waren

die

Grundbesitzlosen

bei

Versammlungen

der

Städter anwesend.3

hungsweise des „decki“über Hintersassen der Bürger („sjabry“) praktisch aufgehoben und dem Adel sowie Bürgern anheim gestellt worden. PG 3, Nr. 323, 1511, S.87; PG 5, S.8, S.19;

KRASAUSKAITĖ(1927), S.45, S.49; LJUBAVSKIJ (1910), Beilagen, S.306. „Sjabry“sind in den Quellen aber nur im Umland zu finden und nicht innerhalb der Stadtbefestigungen. Die Artikel des Landesprivilegs dürften auch im 15. Jh. für alle freien Polocker gegolten haben, unabhängig von der Frage, ob sie Grundbesitz hatten oder nicht.

1 „I dalei prikazuem, aby bojare i meščane i dvorane horodskii i vse pospolstvo v zhode meži soboju byli, a dela by naši h(ospo)d(a)rs

skie vsi z

hodoju pospolu spravljali po davnomu, a symalis(’) by vsi pospolu na tom meste, hde pered tym syimyvalis(’) zdavna. A bez bojar meščanom i dvoranom horodskim i černi soimov ne nadobe činit’, vo vsich by rečach radilistak, kak my im pravo dali.“PG 2, Nr. 195, S.111.

2 Der hier genannte großfürstliche Hofadel stellte nur eine kleine Anzahl von mittleren Char-gen dar, die sich erst Ende des 15. Jh. vergleichbar den Ministerialen um den fürstlichen Statthalter gruppierten, aber eben auch mit der Stadt verbunden waren. PG 4, S.107f.

3 PICKHAN (1992), S.230.

Der

Großfürst ordnete weiter

an, die

Landesabgabe,

der sich die

Bojaren

und

ihre Hintersassen entziehen wollten,

sei von nun an in

einer Truhe

zu

sammeln:

„Und wir haben auch angeordnet, dass von den Bojaren zwei gewählt werden sollen, und von den Bürgern zwei, und von den Hofadligen zwei, und von der Gemeinheit zwei, gute und würdige

und treue, und wir haben ihnen dazu diesen Schrein mit vier Schlüsseln gegeben, wo diese Hilfe gesammelt werden soll: einen bojarischen Schlüssel, einen städtischen (mest

skii), und einen Schlüssel der Gemeinheit. So sollen sie alleine ohne den andern nicht an die Truhe, und auch, was sie herausnehmen und was sie verteilen, das soll bekannt sein, und Rechenschaft soll darüber geleistet werden, damit ihnen darin kein Schaden geschehe.“1

Damit sollte keine Gruppe

die

andere übervorteilen können.

Die

vier

Schlüs-sel

sollten

das

Prinzip garantieren, dass

die

Genossenschaft

nur

insgesamt

und als

versammelte Menge handlungsfähig war: Rechenschaft über

Ein- und

Ausgaben sollte

vor den

übrigen Gruppenvertretern oder sogar

der

Versammlung geleistet werden.

Das

„dekret

sollte

aber

gleichzeitig

eine

Versammlungsform

verfesti-gen, die

ohne

den

Statthalter auskam

und

deren leitendes Organ schärfer umrissen war.

Die

Zuständigkeit

der

Schlüsselträger

lag

zumindest

im

Einsammeln

und

Hüten

der

Abgabe

für den

Großfürsten.

Die

Vorstellung

von

einer dauerhaft

in-stitutionalisierten

und

nicht mehr

nur

okkasionellen Öffentlichkeit

in

einem

be-stimmten Handlungsfeld

insbesondere

die

genossenschaftliche Rechenschaft über

die Ein- und

Ausgaben

des

Kollektivs

– ist für

Polock erst

mit

diesem Dekret belegt.

Die

rechtlichen und

in

sich mehr und mehr genossenschaftlich

organisier-ten

Gruppen,

die nur als

explizite Summe

der

einzelnen Gruppen

als

„Stadt

auf-traten, trugen

die

Burgbefestigungspflicht weiterhin gemeinsam

mit der

übrigen Bevölkerung

des

Landes. Ihren Beitrag

zu

einer allgemeinen „Landabgabe

sammelten

sie aber

spätestens

von 1486 an in

eigener Kompetenz. Insofern

Im Dokument ,,Vom Polocker Venedig (Seite 167-173)