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II.2.3.3 Verträge nach 1260

Im Dokument ,,Vom Polocker Venedig (Seite 79-82)

gen des „Rechts der Rus ’

B. II.2.3.3 Verträge nach 1260

1263

vermittelte

der

litauische Fürst Gerden

einen Handels-

und

Friedensvertrag,

der

lediglich wenige Grundsätze umfasste. Darin wurden

„ die

Polocker

“ und „ die

Vitebsker

neben

dem

Meister

des

livländischen Ordenszweigs

und den

Ratsher-ren

Rigas

als

Vertragspartner genannt: „

wir

haben Frieden geschlossen zwischen

dem

Meister

und den

Rigaer Ratsleuten

und mit den

Polotschanen

und den

Vi-tebskern

so, wie es in

dieser Urkunde geschrieben steht.

“ 1 Der

Fürst spielte damit

beim

Abschluss dieses Vertrages

nur noch als

Vermittler

und

Schlichter zwischen

den –

einerseits

als Rat und

andererseits

als

geschlossene Gruppen auftretenden

Stadtbevölkerungen

eine

Rolle,

aber

nicht mehr

als

Wortführer seiner Seite.

In

dieser Passage handelten

„ die

Polocker

erstmals

in der

Rolle

des

entscheidenden kollektiven Akteurs

und

akzeptierten Partners

beim

Abschluss eines Handels-

und

Friedensvertrages

mit

westlichen Herrschaftsträgern.

Die

Formulierung lässt

eine

größere Versammlung

von

Polockern

beim

Abschluss

des

Vertrages

als

möglich erscheinen, zumindest

aber

waren ihre Gesandten oder „gute Leute

daran beteiligt.

Für eine

größere Zusammenkunft spricht

die für das 12. Jh.

beobachtete Praxis

von

Volksversammlungen,

die

keinen Vorstand kannten

und

lediglich

als

Versammlung beschlussfähig waren.

Die

Kollektivbezeichnung

„ die

Polocker

“ als

Träger eines gemeinsamen Willens

– und in

ihrer Rolle

als

Vertragspartner

auch als

Rechtsträger

– ist in der

Interaktion

von

Städtern

mit

Fürsten

der Rus ’

schon

für das 12. Jh.

bekannt.

Im 13. Jh.

griffen

der

beauftrage Schreiber

des

Vertrages oder sogar direkt Wortführer

der

Städter diese formulierte Vorstellung einer einheitlichen Gruppe

im

Kontakt

mit

westlichen Partnern auf, vorerst ohne dass

eine

Weiterentwicklung festzustellen wäre.

1 PG 1, Nr. 1, 1263, S.35. Der Text ist nur als Abschrift aus dem frühen 15. Jh. erhalten.

B.II Macht zwischen Fürst und Städtern

79 Der

Sonderfriedensbereich wurde zwar auch

1263

durch

den

Fürsten

in der

Interaktion

mit Riga

gestiftet.

Als

Rechtsträger

für ihn

mitverantwortlich waren

nun

aber zusätzlich

die als

Kollektiv auftretenden Städter, vermittelte

und

schloss doch

der

Fürst zwischen ihnen

und den

Rigaern Frieden.

In den

früheren

Verträ-gen

spielten

die

Städter

eher als

Zeugen denn

als

mitverantwortliche Rechtsträger

eine

Rolle, obschon diese Funktionen nicht vollständig voneinander trennbar sind.

Zudem wurde

im

Frieden

von 1263

deutlicher

als im Text von 1229

neben

dem

„Gebiet

(

volost

) die

„Burgstadt

(

gorod

“) als

räumlicher Geltungs-bereich

des

Gerichtes beziehungsweise

der

Schuldeintreibung oder Sühne

ge-nannt: „Aber

wo

jemand einem etwas schuldig

sein

wird,

in

dieser Burgstadt

(v tom

gorode)

soll man das

richten (praviti),

wo

dieser Mensch wohnt, (...).

“1

Zwar blieb damit

der

Sonderfrieden auch

im

ländlichen

Teil des

herrschaftlichen

Ge-biets gültig,

aber die

Gerichtsbarkeit,

die

diesen Frieden durchsetzen

und

bewah-ren

sollte,

war

begrifflich

fest mit dem Raum

innerhalb

der

Stadtbefestigungen verbunden.

Die

Polocker Stadtbevölkerung,

und

nicht

die

Landesbevölkerung, wurde

mit zum

Träger eines räumlich

und

zeitlich bestimmten Sonderfriedens,

der die

Burgstadt

zum

Mittelpunkt hatte.

Die 1229

festgelegte beidseitige Freiheit

von

Handel,

Kauf und

Verkauf wurde

im

Vertrag bestätigt. Ebenfalls blieb

der

zeit-weilige Wohnort eines beschuldigten Kaufmanns Gerichtsort. Indem diese ent-scheidenden Bestimmungen

des

Vertrages

von 1229

zitiert wurden, wurde

der

ganze Vertrag vergegenwärtigt

und

bestätigt.

Die

Geltung

des

Rechtsfriedens sollte soweit

wie nur

denkbar über

die

Person

des

Fürsten hinausgehen, blieb aber doch

an

Personen gebunden: „

Und den

alten Frieden muss Fürst Gerden einhal-ten, und

der

Fürst,

der ihm

folgt.

“2

Um 1265

entwarf

der

Polocker Fürst Izjaslav einen weiteren Vertrag,

in dem er

einen

Eid vom

livländischen Meister

und von den

Rigaer Rats-

und

Stadtleuten, nicht

aber von den

Polockern einforderte: „Hierauf küsst

mir das

Kreuz

in

Wahr-heit

(v

pravdu), Liebe

und

Friede

zu

haben,

wie es zur

Zeit

der

ersten Polocker Fürsten war.

“3 Der für die

Rus

charakteristische

und im

Westen wenig

ge-bräuchliche kollektive Kreuzkuss wurde

in der

interkulturellen Kommunikation

nun

auch

von den

lateinischen Partnern übernommen

und

sogar verlangt.4

Die

Polotschanen spielten

in

diesem Entwurf aber

nur eine

passive Rolle

als

Be-günstigte. Einer

der

wenigen Grundsätze

des

Textes besagte, dass „Geurteilte nicht umgeurteilt

werden sollten

( „ A

su

ž

enogo

ne

posu

ž

ivati

“ ). Der

Satz bezog

sich auf das

Berufungsverbot beziehungsweise

den

Grundsatz

„ ne bis in

idem

“im

Vertrag

von

1229;5

er war

hier jedoch anders formuliert. Zudem wurde festge-stellt: „

Und

klagen soll man,

wo man

will

“ ( „ A gde

komu godno,

tu

tja

ž et ’ sja “).

Damit wurde

die

bisherige Priorität

des

Gerichtsstandes

am

momentanen Wohnort

1 PG 1, Nr. 1, 1263, S.35; Regest: HUB 1, Nr. 595, S.209.

2 Vgl. GOETZ (1916), S.237.

3 „Na sem k mne celovati kr(e)st’v pravdu, ljuboviměti i mir“. PG 1, Nr. 2, S.36f.

4 Vgl. SKVAIRS / FERDINAND (2002), S.156–159.

5 Vgl. SCHROEDER (1917), S.38.

geschwächt.1 Schließlich wurde

1265

eine gegenseitige Urfehde gefordert: „Aber

was im

Krieg geschehen

ist und an den

Grenzen,

das

sollt

ihr

nicht rächen (m

ščati),

wie

auch

wir es

euch nicht vergelten werden.

“2

Auch

sie

diente dazu,

dem

Frieden,

der in

dieser Situation hergestellt werden sollte,

für die

Zukunft Geltung

zu

verschaffen.

1309 bestätigte

der

Polocker Bischof die Verträge,

die mit dem

Rigaer Erzbi-schof

und der

Stadt

Riga

bestanden. Dabei sprach

er von

„eurer ersten Liebe

mit den

Polotschanen,

mit

meinen Kindern

(

byla ljubov

va

š a

pervaja

s

Polo

č

any,

s

d

ě tmi

moimi

“ ).

Auch

er

nahm damit

auf den

Vertrag

von 1229

Bezug

oder

auf

jenen

von

1263.3

Im

1309 erfolgten Rückblick

des

Bischofs auf den

Vorläuferver-trag spielte

das

Kollektiv

der

Städter überraschenderweise eine größere Rolle

als der

Fürst

von

Polock. Indem

er den

Vertrag erneuerte, wurde

der

Bischof während

der

Abwesenheit

des

Polocker Fürsten kompensatorisch aktiv. Möglicherweise handelte

er

bewusst

nach dem

Novgoroder Vorbild.

Dort

spielte

der

Bischof eine erstrangige politische Rolle.

Wie in

Novgorod konnten

die

Polocker mangels einer eigenen Rechtsperson

jene des

Bischofs

zur

Legitimation ihrer Belange vor-schieben.

1338

schlossen

der

Fürst

von

Litauen

und

seine Bojaren,

der

Polocker Fürst,

der

Bischof sowie

die

Stadt Polock

und die

entsprechenden Vertreter

von

Vitebsk

mit dem

Meister

des

Ordens

und

auch

dem

Stadtrat

von Riga

einen neuen Frie-dens-

und

Handelsvertrag. Diesmal küssten,

so die

Formel, auch ostslawische Städter sowie

der Rat von Riga das

Kreuz:

unde mit vulbort des biscopes van Plocowe, des koninghes unde des stades van Ploskowe unde des koninghes van Vytebeke unde des stades van Vytebeke, de alle uppe dessen vorbenome-den vrede dat cruce hebben ghekusset.“4

Die

„Stadt

von

Polock

wurde dabei

als

parallele Formulierung

zu

der Rat von

Riga

eingesetzt. Diese Bezeichnung verweist

auf die

Entstehung einer neuen Terminologie,

um ein

Kollektiv

als

Rechtsträger

zu

charakterisieren. Zwar weist

der Satz

noch keine größere Versammlung

von

Polockern nach, doch

ist

erneut

von

einer Vertretung

der

Städter

etwa

in

Gestalt

von

Gesandten oder

eben „ gu-ter

Leute

“–

auszugehen.

„ Die

Stadt

“ war hier

aber

noch in

einer Aufzählung

ne-ben dem

Bischof

und dem

„König

“ von

Polock genannt

und

nicht

als

einziger Rechtsträger.

Der

ausführliche Rechtsfrieden

von 1338 war

räumlich

auf das

„vredelant ymme lande

tho

Lettowen

“– und

damit nicht ausdrücklich

auf die

Stadt

– bezo-gen

sowie zeitlich

auf 10

Jahre beschränkt.5

Mit dem

gemeinsamen

Eid

wurden 1 Möglicherweise wurde damit die Beurteilung von Fällen zwischen Fremden und Polockern durch ein Gericht der „Guten Leute“, wie es im Vertrag von 1229 definiert worden war, legi-timiert.

2 PG 1, Nr. 2, S.36.

3 PG 1, Nr. 3, S.37; GOETZ (1916), S.330f.

4 PG 3, Beilage I, 1338, S.106f. Aus dem Inhalt und anderen Hinweisen ist mit „Ploskowe“in

diesem Fall eindeutig Polock und nicht Pskov gemeint. Vgl. den Kommentar: PG 3, S.131f.

5 Weret ok dat eyn unbevredet man in den vrede queme“; „Dit sint de vredelant ymme lande tho Lettowenbeziehungsweise der Raum je einen Pfeilschuss entfernt zu beiden Seiten der

B.II Macht zwischen Fürst und Städtern 81

die

Städter

als

kollektiver Akteur beziehungsweise

als

„Stadt

“ wie die

anderen Parteien

zum

dauerhaften Mitgaranten

und

Mitträger

des

schriftlich vereinbarten Sonderfriedens. Wegen

der

thematisch

und

begrifflich klareren kollektiven recht-lichen Verpflichtungen kann

eher

als bei den für das 12. Jh.

beobachteten kol-lektiven Eiden

– von

einer rechtlichen Festigung

der

Städter

als

Gemeinschaft,

die

durch

ein

gemeinsam getragenes Recht verbunden war, gesprochen werden.

Der Text ist

freilich

nur in

seiner niederdeutschen

Form

erhalten.

Der

Stadtbegriff

als

abstrakte Bezeichnung

des

Kollektivs

der

Polocker kann daher

noch

nicht

als Teil des

Sprachgebrauchs verstanden werden.

Im

Gegensatz

zu den

früheren Verträgen sollten

nun

Rechtsstreite,

die

unter Deutschen

in

Polock vorfielen,

in Riga

gerichtet werden, während solche unter Orthodoxen

in Riga „ vor eren

oversten

“ in

Polock

zu

richten seien.1 Damit

mö-gen der

Fürst oder auch

der

Bischof gemeint gewesen sein. Andererseits waren

im

Vertrag

von

1229

für

solche Fälle

die

Polocker selbst zuständig. Tatsächlich

wur-den mit

ähnlichen Termini

im

überregionalen Sprachgebrauch häufig wenig

in-stitutionalisierte Sprecher

der

Städter bezeichnet.2

Um 1398 war bei

Verhandlun-gen

wegen

der

neuen Schnellwaage

in

einem Schreiben

des

deutschen Kaufmanns

in

Bezug

auf die

Polocker

von „ ere

upperste

“ und „ al de

uppersten borgers

“ die

Im Dokument ,,Vom Polocker Venedig (Seite 79-82)