Geschichte Q uellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa Franz Steiner Verla g
Kollektives Handeln
sozialer Gruppen einer Stadt zwischen Ost- und Mitteleuropa
(Mittelalter, frühe Neuzeit, 19.Jh. bis 1914)
,,Vom Polocker Venedi g ,,
Stefan Rohdewald
„ Vom Polocker Venedig “
zur Geschichte des östlichen Europa
Begründet von Manfred Hellmann, weitergeführt von Erwin Oberländer, Helmut Altrichter und
Dittmar Dahlmann,
in Verbindung mit dem Vorstand des
Verbandes der Osteuropahistorikerinnen
und -historiker e.V.
herausgegeben von
LUDWIG STEINDORFFBand 70
Stefan Rohdewald
„Vom Polocker Venedig“
Kollektives Handeln sozialer Gruppen
einer Stadt zwischen Ost- und Mitteleuropa (Mittelalter, frühe Neuzeit, 19. Jh. bis 1914)
Franz Steiner Verlag Stuttgart 2005
Nationalfonds
zur
Förderungder
wissenschaftlichen ForschungUmschlagabbildung: Links: Rekonstruktion
der
Sophienkathedrale
im 11. Jh.
durch TARASAŬ
gemäß H. ŠTYCHAŬ ,
TARASAŬ
(1991), S.36f. Mitte: Abbil- dung der Kathedrale um 1579, ALEXANDROWICZ(1971), Abbildung
8.
Rechts: Ausschnitt aus einer Post- karte um 1900, ORLOV (1995), S.417.Die vorliegende Arbeit wurde
von der
Philosophischen Fakultätder
Universität Zürichim
Sommersemester2004 auf
Antragvon
Prof.Dr.
Carsten Goehrkeund
Prof.Dr.
Hans-Jörg Gilomenals
Dissertation angenom- men.Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim
Internet über<http://dnb.ddb.de> abrufbar.
ISBN 3-515-08696-X
ISO 9706
Jede Verwertung
des
Werkes außerhalbder
Grenzendes
Urheberrechtsgesetzesist
unzulässigund
strafbar.Dies gilt insbesondere
für
Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowiefür die
Speicherungin
Datenverarbeitungsanlagen.Gedruckt
auf
säurefreiem, alterungsbeständigen Papier.© 2005 by
Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart.Druck: Printservice Decker
&
Bokor, München Printedin
GermanyINHALT
Vorwort 9
A. Einleitung 11
I. Einordnung in Zeit und Raum 11
II. Grundfragen 16
III. Methodisches und Einschränkungen 19
IV. Forschungsstand 23
V. Quellen 30
B. Die Stadt als Fürstensitz –Waräger, Rus’, Litauer 34
I. Stadtgenese und soziale Gruppen 36
1. Stadträumliche Entwicklung 36
2
Gefolgschaft, „einfache Leute“
und Geistlichkeit–
Soziale Gruppen 392.1 „denn Volodimer liebte seine Gefolgschaft“ 39
2.2 „Mercatores“und „einfache Leute“ 41
2.2 Bischof, Klerus und Geistlichkeit 43
3. Von der Ost- zur Westorientierung des Handels 44 II. „wir werden deine Leute sein, und du sei Fürst“Macht zwischen Fürst und Städtern 45
1. „und er setzte sich auf den Thron seines Großvaters und seines Vaters mit großer Ehre“
Grundlagen von Herrschaft und Gericht in der Stadt 45 2. „die Polotschanen (...) versammeln sich wie zur Beratung zum veče“Interaktion von
Städtern, Fürsten und Lateinern 52
2.1 „und sie vertrieben ihn“Interaktion von Fürsten und Städtern im 12. Jh 52
2.2 Zwischenbilanz –Volksversammlungen im 12. Jh. 63
2.3 Recht und Gericht in der Interaktion mit Lateinern 68
2.3.1 Frühe Rechtsfrieden 69
2.3.2 Handelsrecht und Gericht in der Burgstadt um 1250 72
2.3.3 Verträge nach 1260 78
2.4 Kommunikation von Fürst und Städtern im 13. und 14. Jh. 83
III. Zwischenbilanz 87
C. Wandel im Polen-Litauen der Jagiellonen 90
I. Siedlungsgeschichte, Demographie und Wirtschaft 92
II. Macht zwischen Statthaltern und Städtern bis um 1490 95 1. Vom Fürsten zum Statthalter und zum Wojewoden 95 2. Ständische Rechte und soziale Gruppen (1400–1470) 99
2.1 Bojaren 101
2.2 Bürger 103
2.3 Gemeinheit 106
3. „dass sich alle gemeinsam an jener Stelle versammeln, wo sie sich seit langer Zeit
versammeln“Versammlungen 107
3.1 Grundlagen im nordosteuropäischen Kontext 108
3.1.1 „alle Polocker“Zur Teilnahme an Versammlungen 108 3.1.2 „Älteste“und „upperste“–Zur Führung von Versammlungen 110 3.2 Polotschane, Statthalter und Rigaer
–
Das Aushandeln des Vertrages von 1406 117 3.3 Versammlungen und Gericht des Statthalters bis 1460 124 3.3.1 „gemäß dem Frieden“Klagen gegen Vertragsbrüche 124 3.3.2 „pro administranda iusticia“Bitten um Recht 126 3.3.3 „wir haben geurteilt“Gericht, Strafbegehren und Auslieferung 1293.3.4 Zwischenbilanz 132 3.4 Frühe Versammlungen ohne Statthalter (1399–1408, 1441–1448) 134 3.5 „von der ganzen Polocker Stadt“Bürgerversammlungen (1445–1465) 140 3.6 Versammlungen ohne (und mit) Statthalter nach 1459 149 3.6.1 „denn das ist unser Wort“Gesandte und Schreiber 150 3.6.2 „gemäß dem Frieden“Klagen gegen Vertragsbrüche 152 3.6.3 „pro administranda iusticia“Bitten um Recht 154 3.6.4 „wir haben ihn verurteilt“‘Urteile’mit und ohne Statthalter 158
3.6.5 Weitere Themenbereiche 163
3.6.6 Zwischenbilanz 164
3.7 Immunitäten, Schwurverband und „Schwarze“um 1486 166 3.8 „dass die Bojaren und die Bürger und die ganze Gemeinheit einig unter sich seien“
Scheiternde Institutionalisierung 1486 171
3.9 Bilanz –Anfänge einer Kommmunegenese im nordosteuropäischen Kontext 174 III. „zur Mehrung des Gemeinwohls“Nach der Verleihung des Magdeburger Rechts 1498 178
1. Immunitäten und soziale Gruppen nach 1498 179
1.1 Das Gericht des Wojewoden –Grenzen der „Stadt“gegenüber dem „Schloss“und
dem „Land“ 179
1.2 Adel, adliger und geistlicher Besitz in der „Stadt“ 183 1.3 Adlige und geistliche Gerichtsbarkeit in der „Stadt“ 186
1.4 Grundbesitzende Bürger nach 1498 188
1.5 Von Bürgern und „Leuten“zur Bürgergemeinde nach 1498 190
1.6 Sozialtopographie der Zinsbürger 192
1.7 Handwerkerkorporationen und Juden 194
2. Macht zwischen Rechtsstadt und adliger Landesherrschaft 195 2.1 Vogt & Lehnsvogt zwischen Stadtrat & Landesverwaltung 195
2.2 Bürgerversammlungen und Ratssitzungen 199
2.2.1 „Wir, die Bürgermeister und Räte“Neue Institutionen 199
2.2.3 Kompetenzen und Themen 202
2.3 Bürger vor dem Landesgericht 205
IV. Zwischenbilanz 208
D. Polock in der Adelsrepublik 213
I. Bevölkerungszahlen und Wirtschaft 215
1. „gleich der Erden hinweg gebrandt“Demographie 215
2 Handel und Gewerbe 217
II. „c’est le mélange des hommes et des langues comme à la bâtisse de la tour de Babilone“
Rechtliche Grossgruppen in der Vielvölkerstadt 219
1. „denn alle nennen sie sich Polocker“Recht und Stadtraum 219 1.1 „Ansässigkeit“und ewige Erbleihe –Neue rechtliche Kategorien 220
1.2 „Juridiky“Festere und weichere Immunitäten 222
1.3 Aussage gegen Aussage –Immunitätsdiskurs 228
1.4 Adliger und geistlicher Besitz im Jahr 1765 in Zahlen 230
2. Ständische Gruppen in der christlichen Gemeinde 232
2.1 „lose Leute“, „gemeine Leute“–Einwohner und Bürger 232 2.2 „ehrbare“und „gerühmte Herren“–Honoratioren 233 3. „Bürger der Polocker Stadt“Juden zwischen Schloss, Synagoge und Rathaus 238
3.1 Rechtlicher Status 239
3.2 Sozialtopographie 245
4. Fazit 250
Inhalt 7
III. Kleine formelle Gruppen: Klöster, Bruderschaften, Zünfte und konfessionelle Konflikte 252 1. „catholicum (...) cultum propagare et plantare“Gegenreformation und Union 253
1.1 Kommunales Leben in Klöstern 254
1.2 Katholische und unierte Bruderschaften 257
1.3 Zünfte als Räume kollektiven Handelns 259
1.4 Prozessionen
–
Inszenierungen des sakralen Raumes 268 2. Die Formierung orthodoxer Gruppen im zwischenkonfessionellen Konflikt 2762.1
Erste Konflikte zwischen Orthodoxen und Lateinernim
Kalenderstreit 277 2.2 Union oder Orthodoxie? Neue Konflikte und Konturen (1618–1621) 279 2.3 Von ersten Netzwerken der Orthodoxen zur Bruderschaft (1621–
1633) 2812.4 Der orthodoxe Jugendliebesbund (1651) 285
2.5 Zwischenkonfessionelle Öffentlichkeit im Ringen um sakralen Raum (1633–1682) 287
3. Jüdische Bruderschaften 294
4. „Schäden und Excesse“Jüdischer und christlicher sakraler Raum in Polock 296
5. Zwischenbilanz im „Wettstreit“der Konfessionen 298
IV. „die Republik unserer Stadt“Kommunale Interaktion 300 1. Teilautonomie? Die Lehnsvogtei zwischen Schloss und Rathaus 302
2. Magistrat und Gemeinde 309
2.1 Bürgermeister- und Ratswahlen 311
2.2 Der Rat als Gericht 315
2.3 Einträchtiges Handeln von Rat und Gemeinde bis 1640 317
2.4 Proteste und erste Deputierte bis 1652 320
2.5 „Gemeindeherren“unter der Moskauer Herrschaft (1654–1667) 326
2.6 Deputierte und Finanzberatungen bis 1676 330
2.7 „Gemeindeleute aller drei Sessionen“bis 1704 335 2.8 Konfessioneller Ausgleich in der Not –Ratswahlen 1725 347
3. Gemeindebehörden der Juden 347
V. Schluss –Juridikien, Konfessionen und Korporationen 351
E. Polock im Russländischen Imperium 358
I. „Štetl“oder Boomtown? Wirtschaftliche und soziale Grunddaten 361
1. Demographisches und wirtschaftliches Wachstum 361
2. Konfession, Stand, Arbeit 362
3. Konfessionelle Bildungsinstitute 366
4. Sozialräumliche Grundlagen 367
II. Von Integration zu Exklusion –Kommunale Stadtpolitik 371 1. Integration und Partizipation –Die Selbstverwaltung bis 1867 372
1.1 Wahlen als Rahmen kollektiven Handelns 373
1.1.1 Wahlen in den Jahren 1800 und 1839 373
1.1.2 Wahlen 1847, 1859 und 1865 380
1.1.3 Wahlbeteiligung 386
1.2 Weitere Ebenen des kommunalen Zusammenlebens 389
1.3 Kommunales Handeln in der lokalen Geschichtsschreibung 393
1.4 Zwischenbilanz 395
2. Beschränkte Partizipation –Die Städteordnung von 1870 (1879–1892) 396 3. „zur Entfernung der Juden“Die Selbstverwaltung von 1892 bis 1915 402
3.1 Wahlen 1894–1895 403
3.2 Scheiternde Wahlen 1910–1915 408
3.3 „‘Väter’der Stadt“und „Interessen der Stadt“–Kommunalpolitik? 412 3.4 Partizipation von Juden auf unterer Ebene und religiöse Handlungsspielräume 415
4. Zwischenbilanz 417
III. Assoziationen und ihre Binnenöffentlichkeit 419
1. Vereine, Gründer und ihre Ziele 422
1.1 Adelsklubs 422
1.2 Von jüdischen Bruderschaften zu Gesellschaften 423
1.3 „Russifizierung
“
als Ziel einer „Bewegung“–
Von der Theophanie- zur Nikolaj-und-Evfrosinija-Bruderschaft 427
1.4 Wirtschaftliche Vereinigungen 433
1.5 Wohltätigkeitsvereine 438
1.6 Große ethnokonfessionell übergreifende Vereine 442
1.7 Kleinere Vereine mit speziellen Zielsetzungen 444
1.8 Jüdische politische Assoziationen und Gewerkschaften 447
1.9 Formelle christliche politische Gruppierungen 454
2. Das Netzwerk der Mitglieder 456
3. Vereinsöffentlichkeit 463
4. Fazit 469
IV. Öffentlichkeit zwischen Evolution und Revolution 473
1. Vereinswesen und Stadtpolitik 473
2. Öffentlichkeit im physischen Stadtraum 481
2.1 Der Hauptplatz als Ort der Macht 481
2.2 Demonstrationen und die Pogrome von 1905 484
2.3 Die Rückführung der Evfrosinija 1910 499
3. Öffentlichkeit im Staat –Wahlen in die Staatsduma 511 V. Polock um 1900 –Eine typische russländische Kreisstadt? 515 F. Zwischen Gleichzeitigkeit und longue durée –Kollektives Handeln sozialer Gruppen in
einer Stadt zwischen Ost- und Mitteleuropa 521
G. Quellen- und Literaturverzeichnis 541
I. Abkürzungen (vgl. auch G.II, G.IV–V) 541
II. Bibliographien, Enzyklopädien, Lexika 541
III. Ungedruckte Quellen 542
IV. Edierte Texte und Selbstzeugnisse 543
V. Edierte Akten 544
VI. Broschüren ohne Autor 547
VII. Zeitungen, nichtwissenschaftliche Periodika und Statistiken 548
VIII. Darstellungen 549
H. Anhang 586
I. Plan der Stadtbefestigungen bis zur Mitte des 16. Jh 586
II. Stadtplan um 1778 587
III. Das Stadtzentrum um 1918 588
VORWORT
Epochengrenzen gliedern
die
Geschichtswissenschaftin
Fachbereichemit
eigenen Forschungstraditionen.Die
methodischen Zugängezu den
unterschiedlichen Perioden verändernsich
aberin
dieselbe Richtung:Die
neue Kulturgeschichte oder kommunikationstheoretische Überlegungen erweisensich für
Mediävisten,für
Forschendezur
frühen Neuzeit oderzum 19. und 20. Jh. als
gleichermaßen zentral.Der
vorliegendeBand
widerspiegelt dies. Allerdings verträgtsich eine
Darstellung,die
mehrere Jahrhunderte umfasst,auf den
erstenBlick
schwermit
wichtigen Forderungen
der
neueren Historiographie–
auch wennsie sich auf
eine Siedlung beschränkt,die um 1900 nur noch als
Kleinstadtzu
bezeichnenist.
Schon
an
dieser Stelleist
daher hervorzuheben, dassdie
Verklammerungder
unterschiedlichen Zeiträume äußerst locker bleibt. Trotzder
mehrere Zeitspannen übergreifenden Anlage interessiert geradedie
Differenzder
Phänomenein den
konkreten sozialen Situationen.
Der
erstaunlichtief
greifende Wandelder
Stadt- gesellschaft,der
nicht vergleichbarist mit der nur
oberflächlichen Veränderungder
Farben eines Chamäleons,hat mich
zusehends fasziniert.Die
intensive Inte- grationvon
Polockin
ostmitteleuropäische Zusammenhängeim
Laufedes
Spät- mittelaltersund noch
stärker währendder
frühen Neuzeitist
heute weitgehend vergessen. Angesichtsder
gegenwärtigin
Belarus’
vorherrschenden Sowjetnostal-gie ist sie
kaum vorstellbar.An
erster Stelle dankeich
Prof.Dr.
Carsten Goehrkefür die
Projektbetreuung,die
stetsdie
erforderlichen Freiräume gestattete. Ohnedie Zeit der
Assistenzin
Zürich wäre
das
Vorhaben kaum gelungen.Für die
Gewährung eines15-
monatigen Stipendiums
der
Max-Planck-Gesellschaft dankeich den
Leiternder
International
Max
Planck Research Schoolfor
Comparative Legal Historydes
Max-Planck-Instituts
für
europäische Rechtsgeschichte sowie der Johann Wolf- gang Goethe-Universitätin
Frankfurtam
Main, insbesondere Prof.Dr.
Michael Stolleisund
Prof.Dr.
Gerhard Dilcher. Währendder
letzten Etappe durfteich als
Mitarbeiter
der
Universität Passaubei
Prof.Dr.
Thomas Wünsch freundliche Unterstützung erfahren. Gleichfalls dankeich
Monika Bankowski (Zentralbiblio- thek Zürich)für
zahlreiche Hilfeleistungen. Henadz’
Sahanovič bin ich zu Dank
verpflichtet, nichtnur für die
sehr freundliche Einführungin die
Minsker Biblio- theks-und
Archivlandschaft. Insgesamt schuldeich den
Angestelltendes
Histori- schen Archivsin
Minsk (NHARB) sowieder
Minskerund
Petersburger Bibliothe-ken
Dankfür die
hilfsbereite Betreuung unter erschwerten Umständen. Prof.Dr.
Mathias Niendorf danke
ich für den
Einblickin
seine unpublizierte Habilitation.Auch den
übrigen Teilnehmernund
Teilnehmerinnenan der
Passauer Tagungzum
Großfürstentum Litauenund den
östlichen Gebietender
polnischen Kroneals
einer interkulturellen Kommunikationsregion (15.– 18. Jh.) in
diesemMärz
danke
ich für die
letzte Gelegenheitzur
Reflexion über Kernbereicheder
Arbeitvor der
Drucklegung.Schließlich
sei
jenen herzlichDank
gesagt,die mit
Kritik halfen,den Text in-
haltlich und sprachlich
zu
verbessern, namentlich Christophe von Werdt, Prof.Dr.
Thomas Wünsch, Prof.
Dr.
Heiko Haumann, Hans-Hermann Schöne, Sibylle Strobel, meinem Vater August Rohdewald, Stefan Wiederkehr sowie Andreas Nievergelt. Prof.Dr.
Ludwig Steindorffsei
gedanktfür die
rasche Aufnahmeder
Arbeit
in die
Reihedes
Verbandesder
Osteuropahistorikerinnenund
-historiker (VOH). Prof.Dr.
Hans-Jörg Gilomen dankeich für die
Übernahmedes
Korrefe- ratsder
Dissertation, obschonihr
Untersuchungsgegenstandnur
teilweisezum
mitteleuropäischen Mittelalterzu
rechnenist.
Dankbarbin ich
auch Angela Höldvom
Steiner Verlagfür die
geduldige Hilfebei der
Vorbereitungzum
Druck.Kostenbeiträge
des
Schweizerischen Nationalfonds sowiedes VOH
stellenmich in
deren Schuld.Passau,
im
April2005
A. EINLEITUNG
A.I
EINORDNUNGIN ZEIT UND RAUM
Unter
der
Überschrift „Vom
Polocker Venedig oder überdie
Polocker Freiheit“ („O
Polockoj Veneceiabo
svobodnosti“)
berichtetder
kurze Abschnitt einer Chronikder
ersten Hälftedes 17. Jh. in
einerForm der
ruthenischen Kanzleispra-che von der
legendären Freiheit, derersich die
Polocker1im 13. Jh.
erfreut haben sollen:„(...) sie herrschten in dieser Zeit frei über sich, und hatten keine Obrigkeit (zvarchnost’) über sich, nur 30 Älterleute (mužov starcov) aus der Mitte ihrer Republik (reči pospolitoe) für das Gericht über die anstehenden Angelegenheiten (potočnyi spravy), die sie sich als Senatoren (jako Senatorov) gaben.“Wichtiger aber als diese Älterleute seien ihre Versammlungen gewesen, die zusammengerufen wurden „auf den Schlag der großen Glocke, welche in der Mitte der Stadt auf- gehängt war, wo sie sich alle versammelten (...).“An diesen Zusammenkünften entschieden sie
„über ihre Angelegenheiten und über die Notwendigkeiten ihrer Republik und ihrer Besitzungen.
(...) Dieselbe Freiheit (volnosti) genossen damals Pskov und Groß-Novgorod.“2
Dieses Zitat eines unbekannten ostslawischen Kompilators übersetzt
eine Pas-
sageaus der
polnisch-litauischen Chronik Maciej STRYJKOWSKIs,die 1582 ge-
druckt wurde.3
Der Text
dieses polnischen Renaissancehistoriographen beruht seinerseitsauf
älteren ostslawischen Chroniken,in
denendie
Volksversammlun-gen in
Polockmit dem
Verweisauf
Novgorod gerühmt worden waren.4Der ost-
slawische Übersetzerließ
diesen Bezugzu
Novgorod zwar unverändert, beseitigte aberden von
STRYJKOWSKIin
humanistischer Manier eingebrachten Vergleichvon
Polockmit
„griechischen Republiken“ wie
Athen und Sparta. Stattdessen brachteer die
Polocker Stadtgeschichte–
ebenfalls ganznach
westeuropäischem Geschichtsverständnis–in den
Zusammenhangmit
Venedig,das im
lateinischen Europa bereitsim 15. Jh. als
ideale Stadtrepublik galt.5 Damit überlagertensich
1 „Die Polozker Urkundensprache“war bereits im 13. Jh. eine weißrussische Sprachform. Im 15. Jh. wurde sie zu einer regionalen Variante der ruthenischen Kanzleisprache. STANG (1939), S.28–32, S.130f., S.147; STANG (1935), S.3–5, S.51; DINGLEY (2001), S.440f. Be- reits im Privileg von 1434 wurden die Ostslawen des Großfürstentums Litauen latinisiert
„Rutheni“genannt: LJUBAVSKIJ (1910), Beilagen, S.302. Bei der Transliteration von Quel- lentexten ist vom 14. Jh. an Γals Spirant vom okklusiven Kr (g) zu unterscheiden und als h zu schreiben. STANG (1939), S.8, S.53, S.109; STANG (1935), S.15, S.75. Städtenamen er- scheinen in ihrer in der deutschsprachigen Historiographie gewöhnlichen Schreibweise, so
Polock statt weißruss. Polack, poln. Połock, jidd. Polotzk. Die Schreibweise der Quellen, auch der Personennamen (abgesehen von den litauischen Herrschern, vgl. NIENDORF (2003), S.19), wird nicht der modernen Orthographie angepasst. Die Transliteration des Jiddischen beruht auf den DIN Normen.
2 BEF 2, Nr. 304, S.440.
3 STRYJKOWSKI 1, S.239f.
4 Vgl. PSRL 17, S.231f., S.362; ZERNACK (1967), S.124; JABLONOWSKI (1955), S.60f.
5 REINHARD (22000), S.257.
im
Diskurs über Polock ostslawisch-osteuropäische Idealvorstellungen1 städti- schen kollektiven Handelns (Novgorod, Pskov)mit
lateineuropäischen (Venedig).Die
Bedingungen dieser Überlagerung sollenin der
folgenden Skizzezur Ent-
wicklungder
historisch-geographischen Situationder
Stadt näher erläutert werden.Die
Gegend,in der
Polock entstanden war,lag
nördlichder
Grenzendes
spätantiken römischen Reiches. Dieses Gebiet geriet
im
Mittelalter, ähnlichwie das
westslawische Siedlungsgebiet, aber auch Norddeutschland, Skandinavien,Ir-
landund
Schottland, unterden
Einflussdes
byzantinischen Reiches beziehungs- weisedes
karolingisch-ottonischen Imperiums.Als
Peripheriender
beiden euro- päischen Zentren Byzanzund Rom2
wurden diese Regionen durch christliche Taufeund die
Übernahme wichtiger rechtlicher sowie kultureller spätantiker Denkmusterzu
„Neueuropa“ . 3 In
einer frühstädtischen Entwicklungsphase wuchs Polockzu
einem Handelsort,wie er für die
Küstengebieteum das
„nordosteuro- päische Mittelmeer“4
typisch war.5Im 12. Jh. war
Polockals
Bischofs-und
Fürstensitz nebenKiew und
Novgorod einerder
wenigen wirtschaftlichenund
kulturellen Mittelpunktedes
byzantinisch geprägten, mehrheitlich ostslawischen Osteuropaim
engeren Sinn.6Über
skandinavische7und
polnische Kontaktekam die
Stadt frühund in der
Folge immer stärkermit
lateineuropäischen Einflüssenin
Berührung, insbesondere nach
der
Gründungvon Riga zu
Beginndes 13. Jh. Ab
Anfang
des 14. Jh.
gehörtedas
Fürstentum dannauf
Dauerzum
litauischen, später polnisch-litauischen Gemeinwesen. Polock,das
bisherzur
orthodox-ostslawisch- warägisch geprägten „Kommunikationsregion“8
gehört hatte, wurdeso
allmählichin die
polnisch-litauischeWelt
integriert.9Die
Eingliederungvon
Polockin
ostmitteleuropäische Zusammenhängeging
damit einher: „Ostmitteleuropa“
entstandim
Verlaufdes so
genannten zweiten„Verwestlichungsschubs
“.
Dieser hatteden
westslawischen und ungarischen öst- lichenTeil
Mitteleuropasvon der
Mittedes 12. Jh. an
immer stärkerin
westliche Kommunikationskreise integriert.Erst
durch diese rechtliche, soziale, wirtschaft- licheund
insgesamt kulturelle Eingliederungin
mitteleuropäische Zusammen- hänge unterschiedsich
Ostmitteleuropavon
„Osteuropaim
engeren Sinne“ , vom
„byzantinisch-orthodox-ostslavischen
und
später moskauisch-russischenUm-
kreis“
(ZERNACK).10 Diese Definition Ostmitteleuropasist
kaum umstritten,ob-
schondie
Vorstellungvon
einem Geschichtsraum „Ostmitteleuropa“ e in
Vorzei-1 Unkritisch im Umgang mit diesen Quellen zuletzt: FLORJA (1995); RUKAVIŠNIKOV (1999).
2 „Einen Ausgleich zwischen dem westlichen und dem östlichen Zentrum in Europa hat es im Mittelalter niemals gegeben.“SEIBT (1987), S.7, S.17.
3 ZERNACK (1977), S.70.
4 ZERNACK (1977), S.53.
5 GOEHRKE (1994), S.238, mit Bezug auf MÜHLE (1991).
6 POPPE (1988), S.470; MÜHLE (1998), S.354; GOEHRKE (1982), S.218f.
7 SAWYER (1982), S.137–141.
8 Vgl. WEBER (2001), S.58f. Eine Kommunikationsregion ist definiert als Raum, in dessen Grenzen „nach innen gerichtete Interaktion deutlich dichter ausfällt als die nach außen ge- richtete“. KIESSLING (2001), S.21f. Von einem oft zu statisch und homogen verstandenen
„Kulturraum“ist abzusehen. Vgl. mit Bezug auf AUBIN: IRSIGLER (1987), S.42.
9 Vgl. HELLMANN (1958).
10 ZERNACK (1977), S.70f., S.35.
A.I Einordnung in Zeit und Raum 13 gebeispiel
für
„mental maps“
ist.1 Geradedie
Beantwortungder
Frage nachder
Reichweite Ostmitteleuropasin den
ostslawischen Siedlungsraum hineinist
auchin
dieser Hinsicht interessant. Bisherist sie erst in
Thesenformund
sehr unter- schiedlich beantwortet worden.Im
Folgenden referiereich nur eine
enge Auswahlder
Ansätze.„ Die
Diskussion überdas
historische Regionalkonzept Ostmitteleuropaund
seine Erprobungin
vielen Disziplinenhat
Hochkonjunktur“,
stellt ZERNACK jüngstin
einer knappen Untersuchung fest. Deren Titel– „ An den
östlichen Gren-zen
Ostmitteleuropas“–
lässtdas
ungebrochene Interessean
einer makrohistori- schen Einordnungder
Gebieteam
östlichenSaum des
Geschichtsraumes erken- nen.2 Schonin
seiner grundlegenden Einführungin die
Geschichte Osteuropas nennt ZERNACKdie
ostslawischen Regionen Polen-Litauens,die von
Ausläufernder
genannten zweiten Okzidentalisierungswelle erfasst wurden, eine „Über- gangszone“. Sie sei
„trotz ihrer langen staatlichenund vor
allem strukturellen Zugehörigkeitzu
Ostmitteleuropa letztlich dochein
Bestandteilder
ostslavisch- russischen Geschichte“
geblieben.3 Nach dieser Analyse wurden ostslawische Gebiete offenbarnie
wirklichzu
einemTeil
Ostmitteleuropas, sondern höchstens mechanisch, „staatlich undvor
allem strukturell“. Für
SCHAMSCHULAist die
Ostgrenze Ostmitteleuropas westlich dieser Gebiete gezogen:Er
verortetdie
weißrussischen Uniertenin
einer „Regiondes
Übergangs“
östlichder
„Demar- kationslinie“ .4 Für
ZERNACK prallen aberam
östlichenRand
dieses Raumesvon der
zweiten Hälftedes 15. Jh. an
„eine reußischeund die
moskauische Konzep- tion ostslawisch-russischer Geschichte“
aufeinander.5 Ausgehendvon
diesen Abgrenzungen könnendie
mehrheitlich ukrainischenund
weißrussischen Sied- lungsgebiete auchals eine
eigene, spezifische Kontaktzone angesehen werden,6die
„weder eindeutig Osteuropa noch Ostmitteleuropa zuzuordnen“ i st und in der
„mitteleuropäische
die
autogenen ostslavischen Traditionen überlagert haben oder beide eine neue Synthese eingegangen sind“
(GOEHRKE).7Die
östlichen Gebieteder
polnisch-litauischen Adelsrepublik können aber auchals
integralerTeil
Ostmitteleuropas betrachtet werden. CONZE bestimmt Ostmitteleuropa insgesamtund
nichtnur
dessen ostslawische Gebieteals
„glei- tende Übergangszone“,
„deren östlichste Landschaften (...) auf ostslavisch-ost- kirchlichen Grundlagen beruhten.“8 In
dieser Sichtweise erscheinen ostslawische Gebiete sogarals
zentralerTeil
Ostmitteleuropas:Mit der
Ausweitung„ in den
ostslavisch-orthodoxen Raum erfährtdie
Überlappung quasi ihre Vollendung und 1 Vgl. KOCKA (2000), S.161f.; SCHENK (2002), S.512.2 ZERNACK (2001), S.321.
3 ZERNACK (1977), S.38.
4 SCHAMSCHULA (1992), S.52f. JAWORSKI situiert Belarus’ „an der Ostflanke Ostmittel- europas“. JAWORSKI (1992), S.42.
5 ZERNACK (1994), S.152; vgl. ZERNACK (2001) und ZERNACK (1977), S.38.
6 V. WERDT spricht für Ostgalizien von einem „Überlappungsgebiet der Kulturen und Völ- ker“. WERDT, V. (1998).
7 GOEHRKE (1988), S.777.
8 CONZE (21993), S.109. Problematisch sind die Kulturträgermetaphorik und die Ausschließ- lichkeit, mit der bei CONZE „deutsche Kultureinflüsse“, direkte oder so genannte „in- direkte“, Ostmitteleuropa kennzeichnen.
gerinnt
zu
deren Kerngebiet.“1
Diese Definitionvon
Ostmitteleuropaist
jedoch allzu weit gefasst.Der
geringste gemeinsame Nenner dieser makrohistorischen Hypothesen liegtin der
Annahme, dass ostslawische Gebiete zeitweisein
einer sehr engen Bezie- hungzum
ostmitteleuropäischen Geschichtsraum standen. Trotz dieser Überein- stimmung kommtdie
ostslawische Bevölkerung Polen-Litauensin
neuerenSam-
melbändenzur
mittelalterlichen Stadtgeschichte,2zur
frühneuzeitlichen Konfes- sionalisierung3 sowiezur
Ständekultur Ostmitteleuropas4 nicht oder kaumzur
Sprache. Umgekehrt werdenin
Lubliner Sammelbändenund in der
dort publi- zierten Geschichte Ostmitteleuropasdie
Gebieteder
heutigen Ukraine sowie Belarus’
ohne große Vorbehalte Ostmitteleuropa zugeschrieben.5 Auchdie
Zeit- schrift „Ostmitteleuropaforschung“
schenkt weißrussischerund
ukrainischerGe-
schichte vermehrt Aufmerksamkeit.
Der
jüngste Sammelbandzur
ostmitteleuro- päischen Stadtgeschichteum 1900
vertritt ebenfalls einen weit gefassten Ostmit- teleuropabegriff. Zugleichist im
Vorwortzu
Recht festgehalten,die
Einbettungder
Entwicklung ostmitteleuropäischer Städte dieserZeit in
ihren historischen Zusammenhangsei noch
kaum geleistet.6Bei der
Abgrenzung europäischer Geschichtsräumegibt die
Konfessionszu- gehörigkeitder
Bevölkerungin der
Regelden
Ausschlag.In
keiner Region Euro-pas sei die
einmal katholisch (lateinisch) oder orthodox (griechisch) erfolgte konfessionelle Festlegungder
Bevölkerungim
späteren Verlaufder
Geschichte durchden
Übergangzur
anderen Konfession umgekehrt worden.7 Veränderungenin der
Konfessionszugehörigkeitder
Mehrheitder
Stadtbevölkerungvon
Polockist
daher besondere Aufmerksamkeitzu
schenken.Die
zahlreichen Thesenzur
Ausdehnung Ostmitteleuropasin
Richtung Osten stehenin
einem Missverhältniszur
geringen Anzahlvon
Lokalstudien,die
diese Geschichtsräume abgrenzenden Hypothesen erhärten oder verwerfen könnten.Stadtgeschichtliche Untersuchungen eignen
sich
besonderszu
einer solchenSon-
dierung,da in den
meisten Definitionen Ostmitteleuropas Eigenschaftender
Städte erstrangige Bedeutung zukommt.8
C. V.
WERDT arbeitetin
seiner Disserta-tion zum
Städtewesenin den
ostslawischen Gebieten Polen-Litauensvom
Spät- mittelalterbis zur
Mittedes 17. Jh.
einen regionalen, stadtgeschichtlichen Über- gangstypusim
Grenzbereich zwischen lateinischemund
orthodoxem Europa her- aus.9 Bislang liegen aber keine Abhandlungenvor, die
Phasendes
Wandels zwi- schenOst und West in
einer einzelnender
wenigen Städtedes
ostslawischen Siedlungsgebietes untersuchen, welche bereitszur Zeit der
KiewerRus ’
wichtig waren. Zumindestauf dem
heutigen Gebietvon
Belarus’ ist
Polockdie
einzige1 SCHATTKOWSKY (1996), S.14.
2 BRACHMANN (Hg.) (1995).
3 BAHLCKE / STROHMEYER (Hg.) (1999).
4 BAHLCKE / BÖMELBURG / KERSKEN (Hg.) (1996).
5 KŁOCZOWSKI (Red.) (2000).
6 HOFMANN / WENDLAND (2002), S.21.
7 POMIAN (1990), S.21; vgl. WERDT, V. (2003), S.4.
8 Vgl. ZERNACK (2001), S.327f.; KOCKA (2000), S.165, S.168.
9 WERDT, V. (2003), S.259f.
A.I Einordnung in Zeit und Raum 15
bereits
im 12. Jh.
bedeutende ostslawische Stadt,an der die
Annäherungan Mit-
teleuropaauf
Dauer beobachtet werden kann. Pinsk, Minsk, Druck, Vitebsk (weißruss. Vicebsk, poln. Witebsk)und auch
Grodno (weißruss. Hrodna, poln.Grodno) waren
im 12. Jh. noch
wesentlich kleinerals
Polock.1Das
großfürstlich- litauische Smolensk geriet mehrmals über einen langen Zeitraumin den
Macht- kreis Moskausund
kannte Magdeburger Recht nichtauf
Dauer. Ähnlichesgilt für
Perejaslav. Mogilev (weißruss. Mahile
ŭ ,
poln. Mohylew), eine weitereder
weni-gen
großen ruthenischen Städte,ist noch
wesentlich jüngerals
Lemberg,dem im
12. Jh. –
andersals
Polock–
keine Bedeutung zukam. Währendsich Kiew nie vom
Tatarensturm erholteund im
Grundeeine
„Teilwüstung“ am
Steppenrand blieb,2war
Polockvon
diesem Sturm unberührt. Novgorodund
Pskov standen, trotz mancher Kontakte, überwiegend außerhalbdes
Einflusses Polen-Litauens.1478
beziehungsweise1510
wurdensie
moskowitischund
verloren ihre altenIn-
stitutionen.
Aus
einer makrohistorischen Perspektive interessiert Polock wegen seiner Entstehungin der
Rus’, der
langfristigen Zugehörigkeitzum
GroßfürstentumLi-
tauen
vom
Beginndes 14. Jh. an bis ins
dritte Dritteldes 18. Jh. – mit
einerUn-
terbrechung
von
wenigen Jahren währendder
Besatzung durch Moskauer Trup-pen im 16. Jh.
(1563–
1579)und im 17. Jh.
(1654–
1667)–
sowieder
Integrationins
Russländische Reich 1772. Diese Daten legeneine
geschichtsräumlicheLage der
Stadt zwischendem
stark lateinisch beeinflussten Ostmitteleuropa sowiedem
ostslawisch-orthodoxen respektive moskowitischen Osteuropa nahe.
In
welcher Weiseund in
welchem Ausmaß diese schwankende Zwischenlage zutrifft, wirdzu
untersuchen sein.
Am
Beispielder
Polocker Sophienkathedrale lässtsich
illustrieren,wie sich der
makrohistorische Bezugvor Ort
niederschlagen konnte.Zur
Mittedes 11. Jh.
wurde
sie als
fünfschiffige Kreuzkuppelbasilika erbaut, ganznach dem
Musterder
Sophienkathedralen,die nur
wenige Jahre zuvor nach byzantinischem Vorbildin Kiew und
Novgorod errichtet worden waren.3 Frühestens Mittedes 15. Jh.,
spätestensaber im
ersten Vierteldes 16. Jh.,
wurdesie zu
einer Wehrkircheum-
gestaltet,
die von der
polnischen Burgenarchitekturder
Renaissance geprägt war.4Im
ersten Vierteldes 17. Jh.
folgteein
Umbaunach
manieristischen, frühbarocken Vorgaben.Von 1738 bis 1750
erhieltsie die
Gestalt einer Basilikain
spätba- rockem, auch jesuitisch genanntemStil
nach Wilnaer Vorbild.5Im 19. Jh.
verän- dertesich ihr
Äußeres nicht, wohlaber
ihre Funktion:Sie
verlor 1839,als die
kirchliche Union
von 1596
aufgelöst wurde, ihren Statusals
Kathedralkirchedes
unierten Polocker Erzbischofs. Trotz
der
wesentlichen architektonischen Verän- derungenkann
aberbis
heute nichtvon
einem völligen Bruchmit der
ursprüngli-1 MUEHLE (1998), S.317, S.337.
2 GOEHRKE (1968), S.44.
3 MÜHLE (1991), S.221.
4 ALEXANDROWICZ (1971), S.20f.; FAENSEN (1990), S.177.
5 ALEXANDROWICZ (1971), S.28f.
chen
Baukonzeption gesprochen werden. Davon zeugen etwa Fragmentevon
Fresken
aus dem 11. Jh. an den
Innenwänden.1A.II
GRUNDFRAGENDie
architektonischen Kontinuitätender
Sophienkathedraleim
Wandel zwischenOst- und
Mitteleuropa sind allerdings nicht ohne weiteresauf den
kulturellen Wandel insgesamtzu
übertragen.Die
Grundlagenfür eine
Einordnungder
Stadtin
überregionale europäische Zusammenhänge sindmit der
Untersuchung einzel-ner
Zeiträume erstzu
erarbeiten.Als
Charakteristika ostmitteleuropäischer Städte gelten ihre nicht römisch-lateinischen Ursprünge, ihreim
Vergleichzum
westli-chen
Mitteleuropaerst
später okzidentalisierte rechtlicheund
soziale Struktur,die
Gründung
nach
deutschem Stadtrechtund für
deutsche Siedler sowie ihre multi- ethnischeund
mehrkonfessionelle, namentlich auch jüdische Bevölkerung.2In den
wenigen bisher vorliegenden Untersuchungen wird insbesonderedem
Rechtswesen, genauer:
der
Ausbreitungdes
deutschen Stadtrechts3,ein
großes Gewicht beigemessen. Nicht nur,um die
Entwicklungin
Polockin
einen Zusam- menhangmit
Ergebnissenund
Ansätzen neuerer Forschungender
deutschsprachi-gen
Historiographiezur
mitteleuropäischen (Stadt-)Geschichte stellenzu
können, wirdin
dieser Abhandlung Stadtgeschichteals
Kommunikations-und
Institutio- nengeschichte sozialer Gruppen aufgefasst.Die
Fragenach den
rechtlichen Gren-zen der
Handlungsräume dieser sozialen Gruppen bleibt dabei wichtig.Die Be-
stimmung makrohistorischer Geschichtsräume
ist
aber, wenn überhaupt, lediglichauf
einer sehr hohen Abstraktionsebene sinnvoll.Sie
wird hier mithinals ein Ziel
verfolgt, aber erstin
dritter Linie.Interessanter
als
eine bündige Thesezur
Eingliederungvon
Polockin
ostmit- teleuropäische Zusammenhängeist
eine Antwortauf die
Frage,wie sich die Be-
gegnung bestehender ostslawisch-warägisch-byzantinischer kultureller Muster
mit
ostmitteleuropäischen konkret gestaltete.
Eine
Übernahmeund
auch einebe-
wusste Ablehnung
von
Organisationsmustern sind ohne vorhergehende Ausein- andersetzungund
zumindest teilweiser Aneignung, Adaptionund
gegebenenfalls Weiterentwicklung nicht denkbar.Die Art und
Weise,in der
bestehende Kommu- nikationszusammenhängesich mit
neuen verwobenund sich
dabei veränderten,ist am
konkreten Untersuchungsgegenstandin den
einzelnen Zeiträumen heraus- zuarbeiten.4 Hierin liegtdas
zweite Anliegender
Abhandlung.Das
eigentliche Hauptinteresse besteht aberin
einem Zugangzur
Stadtge- schichte,der sich in
jedemder
hier betrachteten Zeiträume ganzauf die
lokalen Kommunikationskreise einlässt.Die
Analyse kollektiven Handelns sozialer Grup-pen in der
Stadt Polock stehtim
Mittelpunktder
Arbeit.Es
werden daher nichtnur jene
Bereiche ausgewählt,die sich auf den
erstenBlick für
eine Einordnungin
1 SELICKIJ (1992), S.25f.
2 HECKER (1991), S.184.
3 Besonders knapp und eindimensional: SCHUBART-FIKENTSCHER (1942); vgl. auch ROGATSCHEWSKI (1992); ROGATSCHEWSKI (2000).
4 Vgl. WÜNSCH (2003), S.VIII–XI.
A.II Grundfragen 17
den
makrohistorischen Kontext besonders eignen. Letztlich lassen sichdie
beiden erstgenannten Zieleder
Arbeitauch nur auf
einer solchen Grundlage annähernd erreichen.Der
Abhandlung sollenaus
diesen Gründendie im
Folgenden umrisse-nen
Fragen zugrunde liegen.Im
Vordergrund stehtdie
Fragenach den
Organisationsformen „kollektiver“ und
„korporativer Akteure“ in der
Stadt: Während „kollektive Akteure“
eine„übergreifende Zielsetzung
“
verfolgen, aber ohne formale, „bindende Vereinba- rungen“
auskommen, werden „korporative Akteure(...)
mittels bindender Ver- einbarungen intentional produziertund
reproduziert“. Die
wichtigsten Ausprä- gungen korporativer Akteure sind „formale Organisationen“ wie
Vereine,Ver-
bände, staatliche Verwaltungen, Zeitungen, Schulen,etc.
Vereine sind„ von un- ten “
konstituierte Interessenorganisationen“.1 Bis ins 19. Jh.
werden hier ledig-lich
Akteure korporativ genannt,die
rechtlichals
Körperschaften organisiertwa- ren.
Kollektive Akteure können
in
ihrem Handelneine
soziale Gruppe konstituie- ren.Eine
soziale Gruppeist
gemäß OEXLE definiert durch Regelnund
Normen,die
ausdrücklich oder stillschweigend vereinbart sind.Sie
deckensich mit den
Zielen
der
Mitgliederund dem Bild der
Gruppein den
Augen anderer. Nebenden
kollektiven Beziehungen
zu
anderen Gruppen bildetsich
jeweilseine
interneOr-
ganisation heraus.2
OEXLE und auch HARDTWIG heben mit Verweis auf O. VON GIERKE gemein- same Organisationsmerkmale mittelalterlicher Formen „
freier
Einungen“
(Gilde,Zunft, Stadtgemeinde)
und des
modernen Vereins hervor, ohne wichtige Unter- schiedezu
übersehen.3Der
Terminus „Genossenschaft“
bezeichnetals
methodi-sche
Hilfskonstruktionauch
wenig formalisierte Verbände ohne feste körper- schaftliche Organisation.Er
stehtfür eine
kollektive, horizontale, sozialeBin-
dung, basierend
auf
einer rechtlichund
sozial paritätischen Mitgliedschaft.4 Wesentlichbei der
Untersuchung kollektiverwie
korporativer Akteure oder sozialer Gruppenist die
Analyseder
Konzepte,mit
denensich die
Sozialverbände definierten. Damit verbundenist die
Frage,in
welchem Verhältnissie zu den üb-
rigen Gruppender
Stadtbevölkerung standen.Von
großer Bedeutung sinddie Ei-
gendarstellung
und
Fremdwahrnehmung dieser Gruppen, ihre nach innenund
außen demonstriertenund
wahrgenommenen Handlungsspielräume sowiedie
Entwicklung
des
Statusder
Gruppenund
ihrer einzelnen Mitgliederim
sozialenund im
rechtlichen Gefügeder
Stadt. Nebender
Organisationsstrukturund den
Kommunikationsvorgängen innerhalbder
Gruppenist für
diese Abhandlung auchdie
Interaktionder
Gruppenin
ihrer gegenseitigen Konkurrenz wichtig.Von be-
sonderem Interesse sind Handlungszusammenhänge
und
Institutionen,in
denen Gruppengrenzen abgesteckt oder überwunden wurden (Volksversammlungen, Stadtrat, Stadtparlament, städtische Unruhen, Prozessionen, konfessionelleAus-
1 „„Von oben“konstituierte Arbeitsorganisationen“sind Verwaltungsbehörden oder Unter- nehmen. SCHIMANK (2000), S.308–319.
2 OEXLE (1998), S.17.
3 HARDTWIG (1997), S.12, S.26–28; vgl. OEXLE (1990), S.19.
4 DILCHER (1985), S.74, S.108–111; vgl. B.-R. KERN, „Genossenschaft (Rechtliches)“, in:
RGA 11, S.82–87.
einandersetzungen, politisch-nationale Demonstrationen, etc.).
In
allen Teilender
Arbeit wirddas
Machtverhältnis zwischen Herrschaftsträgern oder Vertreterndes
Staatesin der
Stadtund den
Gruppender
Stadtbevölkerungzur
Sprache kom- men.1Aus dem
Anliegen, Themender
Stadtgeschichtein
ihren makrohistorischen Kontext einzuordnen, ergebensich
zudem folgende, lediglichin
Ansätzen ver- folgte komparatistische Fragen:War
Polockzu
seiner Entstehungszeiteine für die Rus ’
charakteristische Stadt? Inwieweit glichsie sich nach der
Eingliederungins
Großfürstentum Litauen beziehungsweise Polen-Litauen
bis 1772
Mittelstädten vergleichbarer Größeder
polnischen Kronean?
Worin unterschiedsie sich nach der
Eingliederungins
Zarenreich 1772– 1917 von
Städten Zentralrusslands?Mit- tels
Vergleichen sollen innere Prozesseder
Polocker Stadtgeschichte deutlich werdenund
nicht etwa eine teleologische Geschichteder
Defizite osteuropäischer Städte gegenüber mitteleuropäischen Städten entstehen.Diese Grundfragen sollen
in
mehreren Zeiträumenim
jeweils unterschiedli-chen
historischen Bezug untersucht werden. Dabei wirddie
Stadtin den
Phasendes
Übergangsvon
einemder
großräumigen Gemeinwesen (Rus’,
Polen-Litauen, Russländisches Reich)zu
einem anderen untersucht werden. Außerdemsoll
überden Grad der
mutmaßlich größten Annäherungan die
Städtedes
überregionalen Verbandes,zu dem
Polock jeweils gehörte, Klarheit gewonnen werden.Am
Anfangder
Skizzenzu den
einzelnen Perioden stehen jeweils kurzeEin-
führungenin den
regionalen historischen Zusammenhang. Ihnen folgen Angabenzur
formalen, rechtlichenund
stadträumlichen Gliederungder
Stadtbevölkerungin
soziale Großgruppen sowiezur
städtebaulichen Entwicklung. Diesen Hinwei-sen
schließensich
Beschreibungen kleinerer Gruppenund
ihres internen Hand- lungsrepertoiresan.
Darauf wirddas
kollektive Handeln dieser Gruppenin
Handlungsfeldern, welche
die
gesamte Stadt betrafen, untersucht.Von
Interesse sind hierbeivor
allemdie
konfessionelle Konkurrenzund die
gemeindliche Orga- nisation. Dieses Schema,das
auch Vergleiche zwischenden
Zeiträumen erleich- tern soll, wird soweitwie
möglich verfolgt;es
wird allerdings nicht immer ein- gehalten werden können.In den
jeweiligen Schlussbemerkungen erfolgen weitere synchrone verglei- chende Hinweise.Erst im
Schlusskapitel werden neben einer Zusammenfassungzu den
einzelnen Zeiträumen auch Aspekteder
longue durée festgehalten.2Auch
wirdder
Versuch einer geschichtsräumlichen Einbettung unternommen.Die
makrohistorische Verklammerung
der
Untersuchungsteile bleibtbei der
Analyseder
verschiedenen Zeiträumeaber im
Hintergrund:Im
Mittelpunktdes
Interessesder
Arbeit stehtder
mikro- oder ‘mesohistorische’
Zugang,der nun zu
erläutern ist.1 Herrschaft ist eine im kulturellen Kontext der Gruppen legitimierte Form von Macht. Vgl.
MASET (2002), S.62, S.77.
2 Vgl. VOVELLE (21994).
A.III Methodisches, Definitionen und Einschränkungen 19
A.III METHODISCHES, DEFINITIONEN
UND
EINSCHRÄNKUNGEN Kollektives Handeln bedeutet Handeln kollektiver Akteureoder
sozialer Gruppen,das sich auf
einen gemeinsamen, zeitweiligen Handlungszusammenhang bezieht.Damit
ist
sowohldas
Handelnvon
mehreren, möglichst zahlreichen Akteurenin-
nerhalb einer einzelnen Gruppeals auch die
Interaktion zwischen möglichst vielen Angehörigender
unterschiedlichen Gruppen gemeint.1Lediglich
ein
kleinerTeil der
zahllosen gemeinsamen Handlungender
Grup-pen
einer Stadtbevölkerungist mit
dieser Definition angesprochen.Sehr
wechsel- hafte Netze sozialer Beziehungen, informelle Netzwerke oder klientelistische, auch familiäre Gruppierungen werden zugunsten formaler Akteureund
sozialer Gruppen zurückgestellt. Handlungen Einzelner oder Weniger werden nichtbe-
rücksichtigt,
es sei
denn, damit beginnteine
explizit ausgetragene Interaktion zwi- schen oder innerhalb größerer Gruppen. Wesentliche Ebenen einer städtischen Alltagsgeschichte sindalso
ausgeklammert.Im
Blickfeld bleiben aber durchdie
Situation bedingte Überschneidungen oder Abgrenzungen
von
Akteurskreisen unterschiedlicher Handlungsfelder.Mit der
Beschränkungauf
möglichst umfang- reicheund
formale kollektive Akteure interessieren beispielsweisenur jene
Berei-che von
Herrschaftund
staatlicher Verwaltung,an
denen größere Teileder
Stadt- bevölkerungals
soziale Gruppen teilhatten, jedoch nicht ihre Gliederungin ein-
zelne Ämterund
Ressorts insgesamt. Unterdem
beschriebenen Blickwinkelsoll die
Aufmerksamkeitauf
bestimmte Ebenendes
Zusammenlebens gelenkt werden.Von
zentraler Bedeutungist
kollektives Handeln,das sich von
einem Hand- lungshorizont leiten ließ,der sich auf
eine soziale Gruppeals
Ganzesund vor al- lem auf die
Stadtals
Ganzes bezog. Damitist
selbstbestimmtes, gemeinsames Handelnfür eine
bestimmte soziale Gruppe gemeint oder„ im
Interesseder
Stadt“ und
ihrer Bewohner,„ der
Polocker“, im
Sinnedes
„Kommunalismus“
(BLICKLE)„
zum
Wohlder
Stadt“
und,wie im
eingangs zitierten Chronikabschnitt, zugunstender
„Republikder
Stadt“. Im
Hinblickauf das
ausgehende19. Jh.
interessiert kollektives Handeln,das die
„Zielutopie“ der
„bürgerlichen Gesellschaft“
(KOCKA)
in der
Stadtgemeindewie im
Staat herstellen sollte.2 Wichtig wirddie
Untersuchungder
sprachlichenund
konzeptuellen Formender
Interessen sein,mit
denen Akteure kollektives Handeln legitimierten oder wahrnahmen.
Kommunikation
in und
zwischen Gruppen wirdals
eine „Sozialhandlung“
verstanden,
als
eine „notwendigvon
mehreren gemeinsam durchgeführte Hand- lung.“ 3
Soziale Systeme existieren lediglichin den
zahllosen Interaktionender
Individuenin
ihren Mikrokontexten.Jene
Praktiken,die sich am
weitestenin Raum und Zeit
ausdehnen, geltenals
Institutionen.4 Damitist der
Übergang ver- einzelter Handlungen mehrerer Menschenhin zu
kollektivem Handeln gefestigter 1 SCHIMANK (2000), S.232f., S.307f. etc.2 „„Bürgerliche Gesellschaft“meint ein Modell wirtschaftlicher, sozialer und politischer Ord- nung, die in Überwindung von Absolutismus, geburtsständischen Privilegien und klerikaler Gängelung das Prinzip rechtlich geregelter individueller Freiheit für alle realisiert, (...).“
KOCKA (1988), S.34f.; zum russischen Zusammenhang: HAUSMANN (2002a), S.13, S.19.
3 LENKE / LUTZ / SPRENGER (1995), S.122f.
4 GIDDENS (1988), S.69; GÖHLER (1994), S.22; vgl. MELVILLE (1992).
sozialer Gruppen
mit
eigenen,oft
institutionalisierten Handlungsfeldernins
Blickfeldzu
rücken. Handelnund
Struktur sind dabeials
zwei Seiten derselben Medaillezu
verstehen (GIDDENS):1„ Die
Stabilität institutioneller Formen exis- tiert nicht trotz oder außerhalbder
Begegnungendes
Alltagslebens, sondernsie ist
geradein
diese Begegnungen einbegriffen.“2
Institutionalisierte Handlungs- kontexte sind dabeiin
eine „Institutionskultur“
eingebunden,die sich
nach Kultur und Epoche unterscheidet.3Wesentlich
für
alles kollektive Handeln,das mit
Sprache einhergeht,ist die
situationsbedingte Sprachanwendungder
Akteure.4Bei der
Herstellungvon
zeitli- chen, räumlichenund
inhaltlichen Handlungshorizontenin
konkreten Situationen spieltder
Sprachgebraucheine
entscheidende Rolle.5Das zur
Verfügung stehende und verwendete Vokabular, Begriffe6mit
hohem Abstraktionsgrad und Meta- phern7 sind Bestandteilevon
„Interpretationsschemata“ . 8
„Handlungsrahmen“
ermöglichen
es dem
Akteur,das
Handelnin
einer Situationzu
identifizierenund
sinnvollmit dem
Handelnin
früherenund
späteren Situationenzu
verbinden:„Rahmen
“
kollektiven Handelns (GOFFMAN) strukturierendie
Wahrnehmung sozialer Situationen. Rahmen („
frames“ ), von
denenin der
Soziologieim
Pluraldie Rede ist,
geben Antwortenauf die
Fragedes
Akteurs:„ Was
gehthier
eigent-lich
vor?“9
Ähnlichwie
Rahmen Gemäldevon der
Umwelt abgrenzenund Büh- nen
Theateraufführungen einem bestimmten Interpretationszusammenhangzu-
weisen, geben Interaktionsrahmendem
Beobachter Hinweise,das
Beobachtetezu
verstehen
und
einzuordnen.10In
vorliegender Abhandlungsoll
nicht zuletztaus
stilistischen Gründen wenigervon
Interaktionsrahmen oder Handlungsrahmen gesprochen werdenals von
Rahmenvorstellungen oder Bezugsrahmender Ak-
teure. Kommunikations-
und
damit Handlungszusammenhängevon
großen Grup-pen
sollen übergreifendals
„Handlungsfelder“11
verstanden werden.Auf
ihnen verläuft Interaktionin
bestimmten Rahmenvorstellungen,die
alle Beteiligtenbis zu
einem gewissen Grad teilen.Handlungsfelder sind
auf
ihrer sprachlichen Ebeneals
Diskursezu
verstehen.„Aussagen,
die sich
hinsichtlich eines bestimmten Themas systematisch organi-1 GIDDENS spricht in diesem Zusammenhang von einer „Dualität“von Handeln und Struktur.
GIDDENS (1988), S.34f., S.66f.; vgl. SCHIMANK (2000), S.14–16; WELSKOPP (1997).
2 GIDDENS (1988), S.122.
3 REINHARD (22000), S.124f.
4 Zur linguistischen Pragmatik: JÜTTE (1990), S.115–120.
5 Vgl. BAHRDT (1996), S.51–56.
6 „Ein Begriff ist nicht nur Indikator der von ihm erfassten Zusammenhänge, er ist auch deren Faktor. Mit jedem Begriff werden bestimmte Horizonte, aber auch Grenzen möglicher Erfah- rung und denkbarer Theorie gesetzt.“KOSELLECK (1979), S.29.
7 LENKE / LUTZ / SPRENGER (1995), S.176–197.
8 GIDDENS (1988), S.82, S.96.
9 WILLEMS (1997), S.35.
10 Rahmen differenzieren und relationieren Handlungen in langfristigen Zusammenhängen.
Rahmen „ermöglichen und strukturieren“„die Serialität des sozialen Lebens, die „Ketten“
(Randall Collins) und Verkettungen von Handlungen und Interaktionen“. Rahmen bedingen und begrenzen „Bedeutungs-, Handlungs- und Erlebensfelder.“WILLEMS (1997), S.44, S.32f., S.35f.
11 WILLEMS (1997), S.44.