• Keine Ergebnisse gefunden

4. Spezifische Aspekte einer Sexualität von Frauen mit Behinderung

4.7. Sexuelle Gewalt

Eine klare Definition des Begriffes „Sexuelle Gewalt“ ist nicht möglich. Häufig wird zwischen einer

„weiten und einer „engen“ Definition differenziert. Die weite Definition schließt dabei alle als schädlich eingestuften Aktivitäten mit ein wie beispielsweise Exhibitionismus oder Voyeurismus.

Enge Definitionen beschränken sich auf bestimmte Handlungen, deren Schädigungspotenzial in Abhängigkeit zur gesellschaftlichen Norm stehen. Da im Falle einer sexuellen Gewalterfahrung von Frauen mit Behinderung immer ein Machtgefälle vorhanden ist, plädieren einige Stimmen dafür, den Begriff der sexuellen Gewalt dem des sexuellen Missbrauchs vorzuziehen. (Bender:

2012: 79f.) Sexueller Missbrauch wird nach Heinz-Grimm (2005: 436) als „sexuelle Handlung eines Erwachsenen an einem anderen Menschen, der aufgrund seiner emotionalen oder/und geistigen Entwicklung und aufgrund des Machtverhältnisses zwischen beiden dieser Handlung

nicht zustimmen und sie verhindern kann“ definiert. Da nach meinem Verständnis aber keine faktische handgreifliche Handlung nötig ist, um sexueller Gewalt ausgesetzt zu sein, wird im Folgenden der Begriff „Sexuelle Gewalt“ verwendet.

Die Zahl der Betroffenen von sexueller Gewalt ist relativ hoch, im Bereich von Menschen mit Behinderung ist diese Zahl schätzungsweise vier Mal höher. Eine EU-weite Studie aus dem Jahr 2014 zeigt, dass ungefähr jede fünfte Frau, also ungefähr 20 Prozent, seit ihrem 15. Lebensjahr Opfer von körperlicher und/oder sexueller Gewalt wurde. (FRA 2014: 19) Potenzielle Täter und Täterinnen sind neben Familienangehörigen, auch pädagogische Fachkräfte, therapeutisches Personal, Mitbewohner und Mitbewohnerinnen sowie Kollegen und Kolleginnen. (Bender 2012:

80) Für Frauen mit Behinderung gibt es mehrere Risikofaktoren, die Gewalt gegen sie begünstigen. Diese Ausführungen beziehen sich sowohl auf psychische, körperliche wie auch auf sexuelle Gewalt. Ein gewaltbegünstigender Faktor ist die Form und Ausprägung von Behinderungen, wobei manche mehr und manche weniger mit einer erhöhten Vulnerabilität einhergehen. Dies resultiert aus einer eingeschränkten Wehrhaftigkeit, den spezifisch problematischen Abhängigkeitssituationen und/oder spezifischen Reaktionen der Umwelt.

Besonders angreifbar sind Frauen mit psychischen Erkrankungen, Frauen mit Lernschwierigkeiten, weiters noch Frauen mit schweren Körper- und Mehrfachbehinderungen und Frauen mit erheblichen Hör-, Seh-, und Sprechbeeinträchtigungen. Zentrale Risikofaktoren sind zudem schädigende, beeinträchtigende und gewaltsame Erfahrungen in Kindheit und/oder Jugend. Wenn Frauen mit Behinderung in ihrer Kindheit oder in der Jugend Opfer von sexualisierter Gewalt waren, ist es relativ wahrscheinlich, dass sie auch im Erwachsenenalter sexuelle Gewalt erfahren. Ebenso führen biografische Brüche in Kindheit und Jugend, dazu zählen unter anderem das Aufwachsen bei nur einem Elternteil oder die frühe Unterbringung in Institutionen, zu einem erhöhten Risiko Gewalt im Lebensverlauf zu erfahren. Ein weiterer Faktor ist die unzureichende Förderung und eine Schwächung des Selbstbewusstseins im Rahmen der Sozialisation von Frauen mit Behinderung, welche mit einer verminderten Wehrhaftigkeit und einer erhöhten Betroffenheit durch Gewalt einhergehen kann. Wenn Frauen mit Behinderung nur geringe Bildungs-, berufliche und ökonomische Ressourcen haben, was de facto der Fall ist und in Kapitel 3.2 erläutert wurde, ist anzunehmen, dass ihre Chancen, sich gegen Gewalt zur Wehr zu setzen und sich aus dem Gewaltverhältnis zu lösen, gering sind. Verfügt eine Frau mit Behinderung über enge, vertrauensvolle Beziehungen, also soziale Ressourcen, ist ihr Risiko, Opfer von sexueller Gewalt betroffen zu sein, geringer. Zugleich suchen Frauen mit mehreren

erleichtert und beschleunigt wird. Zu diesen protektiven Einflüssen zählen auch psychische und psychosoziale Ressourcen. Frauen mit Behinderung, die aufgrund von Sozialisation und Umwelt ein gestärktes Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl haben, sind seltener Opfer von sexueller Gewalt. Wie in Kapitel 4.2 beschrieben, sind institutionelle Gegebenheiten auch wegweisend für Gewaltsituationen und Gewalterfahrungen. Die spezielle Lebenssituation in Einrichtungen stationären oder betreuten Wohnens sind Risikokonstellationen, die die Gefahr, Opfer von sexueller Gewalt zu werden, verstärken. Zu diesen Faktoren zählen das Fehlen vertrauensvoller, beständiger Beziehungen, bestehende Abhängigkeitsverhältnisse, die Angewiesenheit auf Unterstützung bei der Körperpflege und vor allem die Absenz einer Kultur des Ernstnehmens und des respektvollen und Grenzen wahrenden Umgangs. Gleichfalls gelten gesamtgesellschaftliche Rahmenbedingungen und Diskriminierungen als Ursachen für sexuelle Gewalt an Frauen mit Behinderung. Das weitgehende Fehlen von Unterstützungsangeboten im Falle einer Gewaltbetroffenheit begünstigen zudem das Auftreten von sexueller Gewalt. (Schröttle 2015:

33ff.)

Das Erleben von sexueller Gewalt löst bei den meisten Frauen mit und ohne Behinderung ein Trauma aus, das gravierende Folgen für den weiteren Lebensweg der betroffenen Frau mit sich bringt. Zu diesen Folgen zählen Symptome aus dem Spektrum der Posttraumatischen Belastungsstörung, körperliche Symptome, Störungen bei der Konzentrations- und Leistungsfähigkeit sowie bei der Affekt- und Impulskontrolle, Formen sexueller Auffälligkeiten und Störungen der Sexualität und Dissoziation. Anzumerken ist, dass die Folgen von sexuellen Gewalterlebnissen für Frauen mit Behinderung die gleichen sein können wie für Frauen ohne Behinderung. (Leiersender 2015: 73ff.)

Die Therapieangebote für Frauen mit Behinderung, die von sexueller Gewalt betroffen sind, gleichen den Therapieangeboten für Frauen ohne Behinderung. Es bedarf dabei keiner spezifischen Therapieform, sondern eines modifizierten therapeutischen Eingehens. Wichtig hierbei ist der Einsatz von Medien und die Arbeit mit Unterstützter Kommunikation. Ziele einer therapeutischen Behandlung sind vor allem die Stärkung des Selbst, das Bewusstmachen unbewusster Konflikte, die Entlastung von Schuldgefühlen, die Stärkung des Ichs und die Stärkung der Autonomie. (Bender 2012: 85f.)

Vor dem Hintergrund dieses Wissens über sexuelle Gewalt an Frauen mit Behinderung werden mehrere Maßnahmen gefordert, um eine bessere Prävention und Intervention zu gewährleisten.

Zu diesen Maßnahmen zählen zum einen die Primärprävention und ein generelles

Empowerment. Dabei geht es um einen besseren Schutz von Frauen mit Behinderung sowie eine spezifische Förderung und Stärkung, einerseits von Frauen mit Behinderung aber auch von Eltern und Betreuungspersonal. Weiters erforderlich sind Maßnahmen im Sinne des Empowerments um Frauen mit Behinderung zu stärken, beispielsweise mittels Kursen zur Selbstbehauptung, Selbstbestimmung oder Selbstverteidigung. Nicht zu vergessen ist die Stärkung der psychischen, psychosozialen, ökonomischen und beruflichen Ressourcen. Eine weitere Maßnahme bezieht sich auf zielgruppenspezifische Prävention, die auf unterschiedliche Gewaltkontexte in Institutionen eingeht. Generell ist ein Ausbau der internen und externen niedrigschwelligen Unterstützungs- und Beratungsangebote notwendig. Besonders wichtig für Einrichtungen zum Schutz von Bewohnern und Bewohnerinnen sind festgeschriebene Leitlinien und Rahmenkonzepte, die diese vor sexueller Gewalt schützen sollen, und verbindliche Handlungsabläufe für den Umgang bei Verdacht auf sexuelle Gewalt. Sexualaufklärung in Institutionen zählt gleichfalls zu den Schritten, die vor sexueller Gewalt zu schützen. Die letzte Maßnahme bezieht sich auf rechtliche, politische und gesellschaftliche Veränderungen.

Besonders im Bereich der strafrechtlichen Regelungen sollte Frauen mit Behinderung mehr Schutz zukommen. Auch in den Ausbau von Unterstützungsangeboten sollte mehr investiert werden. Abschließend ist auch in Form von Öffentlichkeitsarbeit ein Schutz vor sexuellen Übergriffen möglich. Das „Tabu im Tabu“, sexuelle Gewalt an Frauen mit Behinderung, sollte öffentlich thematisiert werden, um damit ein Umdenken anzuregen. (Schröttle 2015: 35ff)