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5. Empirische Forschung

5.4. Untersuchungsergebnisse & Interpretation

5.4.2. Gesellschaft

Ein Aspekt, der sich durch die gesamte Arbeit und auch durch die gesamte empirische Forschung zieht, ist die Rolle der Gesellschaft, welchen Einfluss sie nimmt und welche Auswirkungen das konkret auf die Sexualität von Frauen mit Behinderung hat. Generell zeigt sich, dass Gesellschaft

im mitteleuropäischen Raum, wo wir uns befinden, stark tabuisierend wirkt. Auch Friske (vgl.

1995) hat bereits darauf hingewiesen. Zudem spricht die Interviewpartnerin E3 folgendes an:

„die Menschen die mich konsultieren stehen eh schon offener dem Thema gegenüber /mhm/ das heißt für mich aber dass das Gros der Bevölkerung das noch immer nicht so sieht und (.) ganz im Gegenteil abweisend dem gegenübersteht“ (Interviewpartnerin E3 Zeile 9ff.)

In der empirischen Forschung wird zudem mehrmals bestätigt, dass unsere Gesellschaft ein völlig falsches Bild von Frauen mit Behinderung und ihrer Sexualität haben. Es existieren unterschiedliche Geschichten und Mythen zu diesem Thema. Interviewpartnerin E1 fasst dies kompakt zusammen:

„entweder die haben keine Sexualität weil sie eh ewige Kinder sind /ja/ oder sie haben eine komplett unkontrollierte Sexualität und wollen eh nur die ganze Zeit Sex und wissen aber gar nicht was es damit auf sich hat (.) und das weiß ich ganz sicher (..) dass das beides nicht stimmt“ (Interviewpartnerin E1 Zeile 12ff.)

In der Literaturarbeit fällt auf, dass die gesellschaftlichen Vorstellungen und Überlegungen auf viele unterschiedliche Bereiche Einfluss haben, dazu zählen beispielsweise Partnerschaften.

Partnerschaften und Ehen haben in unserer Gesellschaft einen sehr hohen Stellenwert, sie gelten als Meilensteine in jedem Lebenslauf. Hier taucht wieder der Normalitätsbegriff auf, der stark auf den Großteil der Bevölkerung wirkt, unabhängig von Geschlecht oder Behinderung. (Vgl.

Cloerkes 2007)

Interviewpartnerin E1 bemerkt dazu dies:

„also wenn ein Unterschied dann eben so wie ich am Anfang schon gesagt hab (.) dass es auf die Sexualität direkt wirkt […] insgesamt auch so diese gesellschaftlichen Vorstellungen von Behinderung und was da geht und was nicht das ist schon sehr präsent“

(Interviewpartnerin E1 Zeile 180ff.)

Für Frauen mit Behinderung bedeutet eine Beziehung eine Herausforderung, sie müssen den gesellschaftlichen Normvorstellungen gerecht werden und sind zudem einem kritischen Blick ausgesetzt. (Vgl. Hennies & Sasse 2004) Zu diesem Punkt weist Interviewpartnerin E2 auf folgendes hin:

„das was eben der große Unterschied ist ist (.) dass die Gesellschaft eben mehr darauf schaut vor allem wenns Frauen im fruchtbaren Alter sind“ (Interviewpartnerin E2 Zeile 128f.)

In der Literatur findet man weitere Einflussbereiche, die stark durch die Gesellschaft geprägt sind, wie beispielsweise Ehe, Schwangerschaft, Selbstbefriedigung, sexuelle Gewalt oder sexuelle Orientierung. (Vgl. Hennies & Sasse 2004, Friske 1995, Bender 2012, Schröttle 2015, Böhm 2008) Zum Thema sexuelle Orientierung spricht Interviewpartnerin E1 einen Punkt an, der in der Praxis oft zu beobachten ist:

„bei Menschen mit Lernschwierigkeiten ist die Hauptursache dass Betreuerinnen und Betreuer das gesamte Betreuungssystem so eine große und entscheidende Rolle spielt wie der Alltag ausschauen kann (..) dass es natürlich auch sehr von den Moralvorstellungen der Betreuerinnen abhängt […] oft wirkt aber auch die Norm sehr stark rein was normal ist (.) was hier alle leben und was dann auch nachgelebt wird“

(Interviewpartnerin E1 Zeile 282ff.)

Oft fehlen für Frauen die im betreuten Wohnen untergebracht sind oder generell in einer sehr geschützten Umgebung aufwachsen, Rollenbilder, die abweichen von der Mann-Frau-Vorstellung und auch andere Realitäten zeigen und diese repräsentieren.

Besonders auffallend war, welche Rolle die Normvorstellungen unserer Gesellschaft einnehmen.

Besonders Bereiche wie Arbeit, Wohnen und Freizeit werden stark von der Normalität der Allgemeinheit geprägt, was langfristig auch Auswirkungen auf die Sexualität von Frauen mit Behinderung hat. Bei allen Interviews wird auf diesen Normalitätsbegriff hingewiesen.

Interviewpartnerin E1 spricht dabei an, was bei Frauen mit Behinderung dahinterstehen könnte und welche Auswirkungen es hat:

„da hab ich manchmal das Gefühl das wirkt schon sehr stark (..) weil die Frauen mit Behinderung von Kind auf hören du bist nicht normal und dass ihre Reaktion drauf ist (.) alles zu machen was normal ist und was halt zum Normalsein so gehört“

(Interviewpartnerin E1 Zeile 208)

Als wichtig erscheint auch darauf hinzuweisen, dass besonders Frauen, egal ob mit oder ohne Behinderung, diesem gesellschaftlichen Druck der Normalität ausgeliefert sind.

Interviewpartnerin E2 deutet dies folgendermaßen:

„in einer patriarchalen Gesellschaft ist es ganz klar dass die weibliche Sexualität mehr unterdrückt sein muss /mhm/ also auch wenn sich da was getan hat in den letzten Jahrzehnten (.) kann man schon sagen dass generell Mädchen weniger in ihrer sexuellen Entwicklung gestützt werden […] aber das Entwickeln eines positiven Körperzugangs das stolz Sein auf den eigenen Körper das stolz Sein aufs eigene Geschlechtsorgan das stolz Sein auf die Brüste dieses sich Herzeigen (.) gilt eben immer noch als negativ grad für Mädchen […] und man könnt jetzt sagen das ist eine Folge einer patriarchalen Gesellschaft die niemand in dieser Gesellschaft sich ausgesucht hat die sich halt in den tausenden von Jahren entwickelt hat aber (..) jede Limitierung hat halt an sich dass es dann noch eingeschränktere Bereiche gibt (.) grad wenns um Frauen mit Behinderung geht“

(Interviewpartnerin E2 Zeile 62 ff.)

Zu möglichen Tendenzen, betreffend die österreichische Gesellschaft und ihre Vorstellungen von Sexualität von Frauen mit Behinderung, äußern sich alle Expertinnen eher negativ. Dazu entgegnet Interviewpartnerin E3:

„wir sind ja ganz am Anfang der Emanzipationsgeschichte im Grunde genommen (.) auch wenns uns vorkommt na wir habens eh so leiwand und lässig auch (..) letztendlich sind wir was die Emanzipation betrifft in Österreich im Mittelalter (..) und ich hab das Gefühl dass es wieder rückläufig ist in der letzten Zeit“ (Interviewpartnerin E3 Zeile 54ff.)

Eine Interviewpartnerin bringt eine positive persönliche Erfahrung ein, die in dieser Arbeit eine eigene Erwähnung verdient. Sie erzählt von ihrem Erlebnis bei der Regenbogenparade. Bei dieser Parade steht besonders die Vielfalt im Fokus, es wird für Akzeptanz und Gleichberechtigung demonstriert. Dieses Ereignis weist sich als Schlüsselerlebnis heraus:

„i war dann mal bei der Regenbogenparade und da war i so glücklich weil i hab früher so meinen Körper versteckt (.) da hab i mi immer gscheid anziehen müssen i hab nie was anderes kennt bis erwachsen und dann beim Regenbogen (.) war i a so wie die andren angezogen und früher hab i mi nie getraut weil i mi geniert hab für meinen Körper und dort wars aber so cool a Erlebnis des war a Auslöser für mi das hab i schon lang nirma ghabt (.) i hab mi wirklich als Frau gfühlt /mhm/ und hab mi gehen lassen i hab mi nit geniert sondern i war einfach i so wie befreit und alle haben mi nit ausglacht und alle haben mi akzeptiert und des hab i gspürt und da hab i gedacht da brauch i kan Workshop für Sexualität machen des hab i alles kapiert“ (Interviewpartnerin E4 Zeile 79ff.)

5.4.3. Institutionelle Hindernisse

Institutionen gehören zum Leben einer jeden Frau mit Behinderung, sei es im Bereich Arbeit oder aber im Bereich Wohnen. Dementsprechend bedeutungsvoll erscheint es in der Auswertung der empirischen Daten. Man kann tatsächlich bei allen Interviewpartnerinnen erkennen, dass Institutionen nicht nur beeinflussen, sondern meistens auch beschränken. Auch in der Literatur wird hervorgehoben, dass die Praxis meist von strukturellen Restriktionen durchzogen ist. Dazu zählen im Bereich Wohnen beispielsweise Unterbringung in Mehrbettzimmern, fehlende Privatsphäre, geringes Einkommen, fremdverwaltetes Taschengeld, Pflege, die die Intimsphäre nicht beachtet, strenge Reglementierungen bezüglich Ausgehzeiten, Besuchen oder Übernachtungsgästen, pauschale Empfängnisverhütung usw. (Vgl. Specht 2008) Interviewpartnerin E5 erzählt aus ihren Erfahrungen:

„in der alten WG wars schon einengend was das betrifft (..) ich hab meinen Urlaub nirgends anders verbringen dürfen ich hab in der WG bleiben müssen (.) das war irre vor allem wenn ich und mein Lebensgefährte zusammen Urlaub ghabt haben durfte er nicht mal bei mir in der WG übernachten (.) nur weil die anderen Arbeit hatten und ich fand das um ehrlich zu sein nicht in Ordnung und nur aus Respekt gegenüber den anderen was ich ehrlich gsagt (.) ich find dafür überhaupt keinen Grund weil ich fand das total nicht in Ordnung“ (Interviewpartnerin E5 Zeile 21ff.)

Die Interviewpartnerin E2 fasst diese Restriktionen unter Strukturproblemen zusammen und deutet auf mehrere Problematiken:

„das heißt wir treffen dann auf zum Beispiel auf Institutionen die in ihrer baulichen Struktur eigentlich keine Möglichkeit bieten dass hier auch sexuelle Kontakte stattfinden (.) obwohl ich grundsätzlich viele Institutionen und Teams als sehr engagiert erleb aber es sind manchmal wirklich strukturelle Fragen /ja/ wie breit ist ein Bett (…) also da gibt’s ganz ganz viele Schranken von außen“ (Interviewpartnerin E2 Zeile 5ff.)

„man könnte sagen (.) wir haben uns selber ein Problem geschaffen auch mit diesen strukturellen Einschränkungen in den Einrichtungen (.) dass man niemanden mit Heim nehmen kann oder dass es Panik gibt wenn jemand jede Nacht wen anders mitnimmt“

(Interviewpartnerin E2 Zeile 202ff.)

Bender (2012) führt an, dass in den Institutionen Selbstbefriedigung meist nicht gern gesehen wird, Großteils stimmt das in der Praxis auch zu, aber Interviewpartnerin E4 bringt hier gegenteilige Erfahrungen mit ein:

„Ja Sexkoffer hab i gmacht (…) also zuerst wars noch zum Speiben aber dieses Jahr hab i gsagt i mag das machen mit einer Betreuerin i hab gsagt i will das gern machen i genier mi nit (.) dann hama alles gmacht auch des Schreckliche was ma so peinlich war und i hab alle Fragen gestellt (..) da is nit viel drin aber ich hab mich getraut mi da so zu berühren das mach i jetzt sehr oft und das ist gut und ich hab einen Vibrator einen violetten kleinen und des is gut ja i schau ma dann Shades of Grey an und dann nimm i das und i mach das sehr oft“ (Interviewpartnerin E4 Zeile 107)

Auch in diesem Kontext wird Normalität beziehungsweise Normalisierung wieder angesprochen, es geht besonders darum die Andersartigkeit in den Hintergrund zu stellen. Interviewpartnerin E2 setzt dies in einen Arbeitskontext und sieht dabei ein großes Problem:

„in der Tagesstruktur ist sehr häufig eine Tendenz dass Sexualität da keinen Platz haben darf (.) weil es ja Arbeit ist (…) ich werde dann oft mit dem Begriff Normalisierungsprinzip konfrontiert was ich besonders absurd find wenn die 42-jährige in der Früh noch von der Mama ein Mascherl ins Haar bekommt und mit einem Bussi von zuhause weggeschickt wird (.) nur mit dem Fahrtendienst kommen darf weil ihr ja sonst was passieren könnte das entspricht absolut nicht dem Normalisierungsprozess“ (Interviewpartnerin E2 Zeile 88ff.)

Wie in Kapitel 3.2 angesprochen, hat Sexualität im Arbeitsumfeld, unabhängig davon, ob es ein geschützter Arbeitsplatz für Menschen mit Behinderung ist oder nicht, keinen Platz. (Vgl. Specht 2008) Die Interviewpartnerin E1 bringt ein ähnliches Beispiel wie das in der Literatur und bemerkt dazu:

„da fallen mir halt so Gschichten ein (.) wo halt Frauen erzählen dass sie in der Werkstatt einen Freund haben und dann wird ihnen verboten in Kontakt zu sein und in den Pausen darf man auch nicht schmusen weil es ist ja alles ein Arbeitsplatz (.) aber der Freund ist ein Mann der noch bei seiner Familie wohnt die sagen er darf auf keinen Fall eine Freundin haben und von der WG aus gibt’s auch wenig Unterstützung das heißt die haben keinen Raum wo sie sich treffen können außer in der Werkstatt und in der Werkstatt heißts immer es ist alles verboten (…) und zur Beratungsstelle kommt der Fall weil von der

Werkstatt ganz aufgeregt jemand anruft da ist am Klo Sex passiert und wir wissen nicht ob das jetzt einvernehmlich war oder nicht und eben wenn man dann hingeht und sich das bisschen genauer erzählen lasst dann kommt raus es gibt für die beiden keinen anderen Ort als das Klo (.) und das kanns halt auch nicht sein und das ist schon so dass die Werkstätten vom System her ein riesen Problem haben weil=weil da steht so diese Arbeitsidee drüber“ (Interviewpartnerin E1 Zeile 143ff.)

In Arbeitssituationen von Frauen mit Behinderung tritt noch ein anderes Problem auf, nämlich eine spürbare Geschlechterhierarchie. (Vgl. Friske 1995) Dazu merkt Interviewpartnerin E4 folgendes an:

„bei die Männer merk ich einen Unterschied weil ich das meiste arbeite (..) mein Kollege der Gärtner der arbeitet weniger Stunden und hat fixere Arbeitszeiten wie ich und i find des ungerecht“ (Interviewpartnerin E4 Zeile 34ff.)

Weiters führt Interviewpartnerin E5 ein bedeutsames Erlebnis aus ihrer Arbeitserfahrung an:

„am Anfang hatte ich schon etwas Schiss vor allem deswegen (..) weil ich die einzige Klientin war und sonst nur lauter Männer um mich herum (.) ich hatte natürlich eine Betreuerin aber sonst von den Klienten her waren nur Männer ich war dann sehr ängstlich und hab mich nicht getraut mit irgendjemandem zu sprechen (…) das war der schlimmste Anfang weil ich mich nicht wohlgefühlt hab (.) ich hätt gern noch eine andere Frau gehabt“

(Interviewpartnerin E5 Zeile 50ff.) Die Expertin E1 meint ganz allgemein dazu:

„da merk ich aber schon in den Einrichtungen dass es ein Bewusstsein gibt das man auch mit Sexualität umgehen muss /mhm/ aber es gibt halt oft auch ganz wenig Kapazität und Ressourcen (.) daran scheitert es halt dann oft das gut umzusetzen /ja/ da braucht es halt sehr engagierte Leute aber es gibt auch da viele Hürden wenn man es richtig machen will“

(Interviewpartnerin E1 Zeile 83ff.)

Es wird klar erkennbar, dass Institutionen einen großen Einfluss haben auf die Sexualität von Frauen mit Behinderung, besonders im negativen Sinne in Bezug auf strukturelle Restriktionen.

Nichtsdestotrotz wurde in den Interviews mehrmals darauf hingewiesen, dass eine Veränderung in den Institutionen, besonders in den Einrichtungen betreuten Wohnens, bemerkbar und

sichtbar wird. Es zeigt sich, dass diese immer offener mit der Thematik umgehen und auch versuchen, sie in die Praxis miteinzubinden. Hierzu sagt Interviewpartnerin E2:

„was jetzt die Wohnformen anbelangt da hab ich schon das Gefühl dass da grundsätzlich schon auch viel mehr Offenheit da ist“ (Interviewpartnerin E2 Zeile 106f.)

E3 ist einer ähnlichen Meinung und führt dies, ganz allgemein bezogen auf alle Institutionen, wie folgt aus:

„ich hab schon den Eindruck dass die sich wirklich sehr sehr auseinander setzen mit den Leuten und sich wirklich den Kopf zerbrechen was nicht das beste Angebot für die Menschen ist (.) damit sie sich weiter entwickeln können (…) also ein sehr positives Bild“

(Interviewpartnerin E3 Zeile 75ff.)

Wichtig hierbei ist aber zu erwähnen, dass die Interviewpartnerin E3 als Sexualbegleiterin oder Klinische Sexologin in Einrichtungen kommt und somit nur mit Institutionen zu tun hat, die sich mit der Thematik auseinandersetzen und dem positiv gegenüber stehen.