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1. Theoretische Grundlagen

1.1. Behinderung

In unserer Gesellschaft werden bestimmte Personengruppen mit der Kategorie „behinderte Menschen“, „Menschen mit Behinderung“, „Menschen mit Lernschwierigkeiten“ etc.

klassifiziert. Diese Oberkategorie soll nicht den Eindruck vermitteln, dass alle Personen innerhalb einer solchen Kategorie ident sind. Unter anderem deswegen wird der Begriff von manchen Gruppen abgelehnt, da er eine stigmatisierende und diskriminierende Wirkung hat. Weitere Gegenargumente sind die defizitäre Sichtweise und Defizitorientierung, die Individualisierung von Problemen, die aber genau genommen in der sozialen Reaktion auf den betroffenen Menschen zu verorten sind, die Separation von Menschen mit Behinderung, die Eingeschränktheit in Bezug auf die Entwicklung der betroffenen Person etc. (Felkendorff 2003:

25f.). All diese Gründe sprechen gegen eine genau festgelegte Definition des Terminus Behinderung, immerhin kann es keine Begriffsklärung allen Widersprechern/

Widersprecherinnen Recht machen. Es zeigt sich also, dass der Terminus „Behinderung“

begriffliche und theoretische Grenzen aufweist. Zudem scheint es unmöglich, die Komplexität und Heterogenität des Bereiches sowie die Aufgabenbereiche der Behindertenhilfe und die Lebenslagen und -probleme der betroffenen Menschen unter einer einzigen Kategorie, dem Behinderungsbegriff, hinreichend zu erfassen. Da kein einheitlicher Begriff existiert, variiert der Erklärungsansatz je nach Disziplin. Zusätzlich werden Modelle und Definitionen von historischen Veränderungen, wissenschaftstheoretischen Positionierungen, politischen Überzeugungen und ethischen und moralischen Haltungen beeinflusst. Lange Zeit war der Begriff der Behinderung sehr stark defizitorientiert und medizinisch geprägt. Ergänzt wurde diese Sichtweise u.a.:

• Durch das Verständnis von Behinderung als das Ergebnis eines gesellschaftlichen Zuschreibungsprozesses, in dem Behinderung als Abweichung der Normalität zu verstehen ist.

• Durch die Auswirkungen von Zugangsbeschränkungen für Menschen mit Behinderung.

• Durch eine system-ökologische Sichtweise, die den Blick auf die Passung zwischen individuellen Möglichkeiten und Bedingungen der Umwelt richtet.

• Durch systemtheoretische und konstruktivistische Konzeptualisierungen. (Loeken &

Windisch 2013: 14)

Im Laufe der Zeit und aufgrund heftiger Kritik am lange vorherrschenden medizinischen Modell wurde zunächst ein soziales Modell von Behinderung als Gegenpol erstellt. Dieses stellt die Zugangsbeschränkungen in den Mittelpunkt, die Menschen mit Behinderung von der Gesellschaft auferlegt bekommen. Erweitert wurde dieses Modell von einer kulturwissenschaftlichen Perspektive, die Behinderung als eine spezifische Form der Problematisierung von körperlichen Unterschieden darlegt. (Ebd.: 14f.)

Ein sozialwissenschaftlicher Blick auf diesen Behinderungsbegriff bezieht ich auf:

• einen Prozess sozialer Ausgrenzung, welcher ökonomische, soziale, historische und normative Interessen bündelt,

• individuelle Geschichten biographischer Hürden und Probleme,

• naturalisierende oder individualisierende Grundeinstellungen, die von einer Abweichung von der fiktiven Norm, als Gegenpol, ausgehen. (Schildmann 2004: 37)

Schildmann (2004: 37) führt an, dass die Kategorie Behinderung dazu dient, eine Art der Abweichung der Normalität zu definieren und zu klassifizieren. Auch Loeken & Windisch (2013:

14) zeigen auf, dass Behinderung in theoretischen Diskursen, aber auch im lebensweltlichen Kontext und sozialpolitischen und sozialrechtlichen Regelungen, als Abweichung einer mehr oder weniger klar beschriebenen Normalität definiert wird. Nicht zu vergessen ist, dass Behinderung

„nichts Absolutes [ist], sondern erst als soziale Kategorie begreifbar [wird]. Nicht der Defekt, die Schädigung, ist ausschlaggebend, sondern die Folgen für das einzelne Individuum“ (Cloerkes 2007: 9).

Nach Wüllenweber und Ruhnau-Wüllenweber (2004: 14f.) kann die Begrenztheit der Begrifflichkeit durch drei unterschiedliche Herangehensweisen aufgebrochen werden. Ziel dabei ist es, den Behinderungsbegriff komplementär zu erweitern:

• Durch die Weiterentwicklung und Anpassung der Begrifflichkeit auf der Grundlage ihrer begrifflichen und theoretischen Varianz.

• Durch das Heranziehen und Miteinbeziehen von nichtpädagogischen Fachdisziplinen.

• Durch die Adaptierung von Fachbegriffen aus der Erziehungswissenschaft. (Wüllenweber

& Ruhnau-Wüllenweber 2004:14f.)

ICIDH

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) veröffentlichte 1984 erstmals eine internationale Klassifikation von Behinderung. Dabei wurde ein mehrdimensionaler Blick auf den Begriff der Behinderung gelegt. In der älteren Version wird zwischen drei Dimensionen von Behinderung unterschieden:

impairment (Schädigung)

disability (Beeinträchtigung von Funktionen)

handicap (soziale Benachteiligung)

Demnach beinhaltet eine Behinderung eine individuelle Beeinträchtigung, die sich aus einer psychischen und/oder physischen Schädigung und einer sozialen Benachteiligung ergeben. 2002 wurde die WHO-Fassung erneuert und die Dimensionen „disability“ und „handicap“ wurden durch die positiv konnotierten Begriffe „activity“ (Aktivität) und „participation“ (Partizipation) ersetzt. „Disability“, also die Beeinträchtigung der Funktionen, ist somit als eine Aktivitätsbeeinträchtigung zu verstehen und „handicap“ als eine Beeinträchtigung oder Störung der Teilhabe an der Gesellschaft. (WHO 1984, Kniel & Windisch 2005: 16)

ICF

2001 veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation ein neues Klassifikationssystem von Behinderung, die „Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (International Classification of Functioning, Disability and Health). Die ICF, die Kurzform für „International Classification of Functioning, Disability and Health“ sieht sich selbst als eine Klassifikation menschlicher Funktionsfähigkeit und Behinderung. Er basiert auf der Integration des sozialen und des medizinischen Modells von Behinderung. Somit vereint es die soziale Perspektive, dass Behinderung ein gesellschaftlich verursachtes Problem ist und dass die Integration in den Fokus gestellt werden muss, mit der medizinischen Sichtweise, dass Behinderung ein individuelles Problem ist, verursacht durch eine Krankheit, ein Trauma oder ein anderes Gesundheitsproblem. Weiters wird der Ansatz um einen biologischen Aspekt erweitert, um die verschiedenen Blickwinkel der Funktionsfähigkeit zu integrieren.

Insgesamt geht die ICF von drei Kategorien aus, die ein Gesundheitsproblem beeinflussen und auch selbst zueinander in Wechselwirkung stehen: Körperfunktionen/Körperstrukturen, Partizipation und Aktivität. Letzteres wird wiederum von den zwei Kontextfaktoren Umwelt und Individuum beeinflusst. Ausgehend von diesen Überbegriffen klassifiziert und nummeriert der ICF alle bekannten und (weit) verbreiteten Gesundheitsprobleme. (DIMDI 2005)

People First Bewegung

In den 1960er Jahren entstand erstmals die Idee einer Selbstvertretung und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung. Damals war der Fokus besonders auf Sinnes- und Körperbehinderungen gelegt. Aus dieser Independent Living Bewegung heraus gestaltete sich die People First Bewegung, die sich besonders gegen den Begriff der „geistigen Behinderung“

wehrte. Mit dem Namen People First wollte man zeigen, dass als erstes die Person zählt und dass die Behinderung zweitrangig ist. So wird empfohlen die Begrifflichkeit „behinderter Mensch“ zu verwerfen, da durch die Erstnennung der Behinderung diese im Vordergrund steht und nicht der Mensch. Damit einhergeht auch eine Stigmatisierung, die negative Auswirkungen auf die individuellen Entwicklungschancen mit sich zieht. Stattdessen bietet sich der Ausdruck „Mensch mit Behinderung“ an. Weiters soll besonders der Terminus „geistige Behinderung“ durch Lernschwierigkeit ersetzt werden. Mit dem Begriff der Lernschwierigkeit soll gezeigt werden, dass betroffene Menschen gleich wie alle anderen rein theoretisch alles erlernen und sich beibringen können, dies aber länger dauert und/oder Unterstützung verlangt. (Kniel & Windisch 2005: 18)

Auf die Selbstvertretungsgruppen im Speziellen wird später in Kapitel 3.4. eingegangen.

Begriffliche Verwendung

In dieser Arbeit verwende ich den Begriff Menschen mit Behinderung bzw. Frauen mit Behinderung und knüpfe somit an die Überlegungen der People First Bewegung an. In dieser Arbeit stehen besonders Frauen im Mittelpunkt, weshalb einige Bezeichnungen nur in der weiblichen Form vorkommen. Weiters wichtig erscheint mir, keine Einschränkungen hinsichtlich der Beeinträchtigung zu setzen. Ich möchte sowohl körperliche, kognitive als auch mehrfache Behinderung in die Überlegungen einschließen und trotzdem den Fokus auf die Frau an sich legen. Nichtsdestotrotz gehe ich davon aus, dass Behinderung kein rein medizinisches Thema ist,

sondern auch von sozialen, politischen, kulturellen und ökonomischen Faktoren beeinflusst wird und somit unterschiedliche Perspektiven eingenommen und beachtet werden müssen.

Aufgrund meines bisherigen Werdegangs in der Arbeitswelt lege ich einen Fokus auf Frauen mit Lernschwierigkeiten, da ich dazu die meiste Erfahrung und einen persönlichen Bezug habe. In meine Überlegungen zu dieser Arbeit habe ich trotzdem auch körperliche Behinderung miteinbezogen, da neben kognitiven Behinderungen auch körperliche Einschränkungen die Sexualität von Frauen mit Behinderung beeinflussen können. Zudem ist zu beachten, dass viele Restriktionen und Einschränkungen gleichermaßen für Frauen mit physischen wie auch mit kognitiven Behinderungen gelten.