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Preußische Toleranz, Fremde und die «Repeuplirung»

Vom Migrantenschicksal kündet eines der bekanntesten Markenzeichen Ostpreußens: der Tilsiter Käse. Die in der ganzen Welt bekannte Käsesorte entstand in abgewandelter Form bei den Mennoniten Ostpreußens, die in der fruchtbaren Memelniederung seit 1713 mit insgesamt 105 Familien sie-delten. Sie waren aus den Niederlanden als Glaubensflüchtlinge nach Ost-preußen gelangt, wo sie Käse in grossen Mengen produzierten, der auf den Märkten als «Mennonitenkäse» angeboten wurde.19 Anteil an der Käsepro-duktion in der Memelniederung hatten auch Schweizer Käser, die vor al-lem aus dem Kanton Thurgau kamen. Ihnen schwebte ein würziger, klein-löchriger Käse nach Art des Appenzellers vor. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden noch grosse Teile der ostpreußischen Milchwirtschaft von Schwei-zern geführt, die diesen «Tilsiter» zum Markenzeichen machten.

Viele Regionen harrten nach der Pest der Wiederbesiedlung. Friedrich Wilhelm I. hat 1721 in Begleitung des Fürsten Leopold von Anhalt-Dessau (1676-1747) die Gegend um Insterburg bereist und sich von dem dortigen Elend selbst überzeugt. Bei dieser Gelegenheit bat der König den Fürsten, einen Landstrich zur Repeuplierung zu kaufen und instand zu setzen. Der anhaltinische Fürst erwarb daraufhin die Hauptgüter Bubainen, Schwä-gerau und Norkitten nebst Woynothen. Erliess Anhaltiner ansiedeln und baute eine Kirche in Norkitten, die 1733 im Beisein Prinz Eugens von An-halt-Dessau eingeweiht wurde. Der Besitz erstreckte sich am Südufer des Pregel bei Insterburg, in westlicher Richtung bis in die Höhe von Puschdorf auf einer Länge von etwa 25 bis 30 Kilometern. Bekannt wurde der Land-

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Tilsit und Memel, das waren die Tore Ostpreußens zum Baltikum. «Tilse», wie es auf dem Stadtplan von 1835 noch heisst, war ein Zentrum des Litauisch-sprachigen Ostpreußen und zudem eine Stadt, die viele der in Preußen willkommenen Exilanten aufgenommen hat. Der Tilsiter Käse, von Schweizer Flüchtlingen in Tilsit kreiert, erinnert noch heute daran. Im Königreich Preußen war die Stadt untrennbar mit der schweren Niederlage verbunden, die das Land im «Frieden von Tilsit» hinnehmen musste, als es die Hälfte seines Territoriums verlor.

strich als «Herrschaft Norkitten» oder «Fürstlich Anhalt-Dessauische Gü-ter». Er blieb bis 19451m Privatbesitz der anhaltinischen Herrscherfamilie.

Reformierte aus Hessen-Nassau, dem Siegerland, der Pfalz – darunter auch Wallonen, die kurz zuvor von Ludwig XIV. aus den Spanischen Nie-derlanden in die Pfalz vertrieben worden waren –, Schweizer Kalvinisten aus Neuchâtel (Neuenburg in der Schweiz), Salzburger, Halberstadter und Magdeburger sowie Schotten und Engländer fanden als Glaubensflücht-linge in Ostpreußen eine Heimat. Juden hingegen waren ungern gesehen.

Nur ganz wenige Familien erhielten Privilegien als sogenannte Hof- und Schutzjuden und durften sich in Ostpreußen niederlassen. 1680 wurde die Einrichtung einer Betstube in Königsberg genehmigt, 1703 die eines Fried-hofs. Mit dem Begräbnisplatz entstand 1704 eine Beerdigungsbruderschaft (Chewra Kaddischa), was den Beginn des organisierten jüdischen Lebens in Königsberg und Ostpreußen kennzeichnet. Im Jahr 1712 sind 36 jüdi-sche Familien, die jedoch nur zeitweise geduldet wurden, in der Hauptstadt aktenkundig. Mit einer weiteren Etablierung folgte 1756 die Einweihung einer eigenen Synagoge, die von dem Rabbiner Levin Epstein aus Grodno geführt wurde.

Französisch- und Deutsch-sprachige Schweizer aus der Grafschaft Neuchâtel, die vorwiegend dem reformierten Bekenntnis angehörten, sie-delten im Amt Insterburg. Im Kirchspiel Judtschen liess sich der überwie-gende Teil der siebentausend Einwanderer aus der französischen Schweiz in den Mutterkolonien Pieragienen, Judtschen, Szemkuhnen und Mixeln nieder. Die Deutsch-sprachigen Schweizer siedelten vornehmlich in Pur-wienen westlich von Judtschen, später in Pakalehnen und Simonischken bei Insterburg. Seit 1701 gab es eine kleine Gemeinde der Reformierten in Insterburg, doch erst 1714 entstand ein französisches Pfarramt in Judtschen sowie ein Deutsch-sprachiges in Sadweitschen, und 1731 erfolgte in Gum-binnen die Gründung einer französisch-reformieren Gemeinde. Im Seeha-fen Pillau traf sich eine reformierte Gemeinde niederländischer, flämischer und niederdeutscher Gläubiger, die seit 1681 von dem niederländischen Pfarrer Abraham Ruits versorgt wurden. Niederländische Gottesdienste fanden in Pillau bis 1865 alle vier Wochen, Englisch-sprachige der schot-tischen Reformierten bis 1820 statt. Die Königsberger französisch-refor-mierte Gemeinde erhielt 1736 eine eigene Kirche, in der bis zum Ersten Weltkrieg Französisch-sprachige Gottesdienste abgehalten wurden.

Friedrichs I. und Friedrich Wilhelms I. Politik des «Retablissement»

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Die Elchschaufel, das Brandzeichen der Trakehnerpferde, ist ein in aller Welt be-kanntes Symbol für edle Pferde und zugleich ein Wahrzeichen Ostpreußens. Über dem Eingangstor zu dem ehemaligen Gestüt in Trakehnen ist die Zahl «1732» an-gebracht, das Jahr, in dem Friedrich Wilhelm I. das Staatsgut gründete.

– der Wiederbesetzung verlassener Hofstellen – zeigte in den nordöstlichen litauischen Ämtern beachtliche Erfolge. Ende 1711 waren 4’240 (39 Pro-zent) der 10’800 wüsten Bauernhöfe Ostpreußens wieder mit einheimi-schen, vorwiegend litauischen Ostpreußen besetzt. In den drei litauischen Ämtern Insterburg, Ragnit und Tilsit zählte man 1736 etwa 8’900 Domä-nenbauern, von denen etwa 5’470 (60 Prozent) Litauer waren, 763 (8 Pro-zent) Salzburger sowie 2’992 (32 ProPro-zent) Schweizer, Nassauer und andere Deutsch-sprachige Siedler. Die Nassauer waren vor allem Reformierte, die aus dem katholischen Teil des Fürstentums Nassau-Siegen stammten, wo sie erhebliche Drangsal zu erdulden hatten, so dass sie zwischen 1712 und 1715 dem Ruf nach Preußisch Litauen gefolgt waren. Eine zweite nassaui-sche Einwanderungswelle erreichte Ostpreußen zwinassaui-schen 1721 und 1725.

Es war ausschliesslich auf wirtschaftliche Not zurückzuführen, dass Men-schen aus dem Westerwald, aus den Gegenden Beilstein, Dillenburg, Her-born und von der unteren Lahn nach Ostpreußen verschlagen wurden.20

Preußen gewährte etwa zwanzigtausend lutherischen Bauern aus dem Erzbistum Salzburg religiöses Asyl vor der unnachgiebigen Rekatholisie-rungspolitik des Salzburger Erzbischofs Leopold Anton von Firmian. Die Weigerung der Protestanten, katholisch zu werden, nahm dieser zum An-lass, kraft Landesrecht am 31. Oktober 1731 ihre Ausweisung zu verfügen, der im April 1732 die Vertreibung folgte. Friedrich Wilhelmi, hatte bereits in einem Einwanderungspatent vom Februar 1732 die Aufnahme von vier-zehntausend Salzburgern verfügt, deren Gros in den litauischen Ämtern angesiedelt wurde. 1734 lebten 1’040 Salzburger in den Städten Preußisch Litauens, vor allem in Gumbinnen, Darkehmen und Memel, und auf dem Lande waren im Amt Insterburg 6’778, in Ragnit 2002, in Tilsit 338 sowie in Memel 180 Salzburger registriert.21 Bis 1945 trugen Salzburger Famili-ennamen zum multiethnisch geprägten ostpreußischen Namenskonglome-rat bei: Zenthöfer, Meyhöfer, Milthaler und Schattauer waren keine Sel-tenheit.

Die um ihres Glaubens willen verfolgten Salzburger brachten eine neue Frömmigkeit nach Preußisch Litauen, der sich auch die einheimi-schen Deuteinheimi-schen und Litauer nicht verschliessen konnten. In einem Bericht von 1734 heisst es: «Ist an den Sonn- und Fest-Tagen der öffentliche Got-tes-Dienst geendigt, so lassen unsere Preußische Salzburger unter sich ih-ren Mund überfliessen mit Psalmen und Lob-Gesängen und geistlichen lieblichen Liedern. Man könnte davon ungemein viel Exempel anführen.

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Doch ein eintziges mag genug sein. Im Jahre 1734, am Himmelfarths-Tage, kam der Pastor Breuer von Gumbinnen auf ein Dorf, wo die Salzburger angesetzt waren. Sie hatten sich bey damahls schönen Wetter auf das grüne Gras gelagert, ein jeder hatte sein Buch in der Hand, sungen Lieder, lasen den Schaitberger und des Arends wahres Christentum. Die Teutschen und Litthauer kamen auch hinzu, und sätzten sich bei den Salzburgern nieder;

da denn einer dem andern ermunterte und erweckte.»22

Die Pest traf die ethnisch nichtdeutschen Regionen Ostpreußens – Preußisch Litauen und Masuren – besonders hart, so dass nach der Pestepi-demie von ehemals 1830 litauischen Dörfern lediglich noch 35 ausschliess-lich von Litauern bewohnt waren. Dennoch wurde bis 1719 der Gottes-dienst im ganzen Raum nördlich der Linie Labiau-Wehlau-Darkehmen-Goldap in litauischer Sprache abgehalten. Erst die Neuansiedlung Deutsch-sprachiger Kolonisten veränderte die ethnische Struktur, so dass die Litauer nur noch in wenigen Kreisen dominierten: 1736 lebten im Kreis Tilsit 92 Prozent, in Ragnit 69 Prozent und in Insterburg 52 Prozent Litauer. Einsas-senlisten von 1727 aus dem Amt Schreitlauken überliefern litauische Na-men, in Bittehnen-Schillehnen etwa sind aufgeführt Sellmis Ringis, Abries Lauszas, Adom Lauszas, Jurg Stanschullait, Ensies Noruschies, Christoff Axtins, Baltzies Lengckait, Christoff Palentzus, Nickel Mertinait, Ensies Schneidereit, und in Bittehnen-Uszbittehnen die Namen Ensekies Kairies, Killus Barrohn, Josas Rummelait, Johns Kairis, Casimir Kailuwait, Seil-mies Kairis, AschSeil-mies Widra, Johns Matzlautzkus, Enskies Lucka, Nickel Szentelait, Johns Rudait, Sellmies Pladuck, Sellmies Milckerat, Ludckus Ballnus, Crisas Ballnus, Ensies Enduszies, Sellmies Urbantat, Crisas The-nigckait, Peter Wingschus.23

Aber auch litauische Vornamen und deutsch-litauische Mischformen lassen sich in Amtsrechnungen und Kirchenbüchern finden: Kristup für Christoph, Mikkel oder Miks für Michael, Jurgis für Georg und Ansas für Hans, Marinke für Maria, Annike für Anna, Edwike für Hedwig, Katryne für Katharina. Bei Familiennamen fielen später is-Endungen weg: Kalwel-lis – Kalwell, Jonatis – Jonat, Bertulaitis – Bertulait. Eine zweite Gruppe von Namen auf -uhn, -ein, -ehl ist nicht ohne Weiteres im Litauischen er-klärlich. Namen wie Stantien, Atzpodien, Podehl, Wiluhn, Zeruhn und Malzuhn klingen für Deutsche fremdartig, dürften aber prussischen Ur-sprungs sein. Eintragungen aus den Jahren 1742 und 1747 im Taufbuch der Kirche Werden im Kreis Heydekrug nördlich der Memel zeigen vollstän-

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dig lateinische sowie litauische Eintragungen, wobei «zents» der Schwie-gersohn ist und «marti» die Schwiegertochter:

«Petrellen, den 17. Sept. 1747 Pat. Mikkel Brumpreigszo zents Mat. Ennikke Urte filia Test. [Zeugen]

1.) Krisas Inoks a Petrellen 2.) Kristups Schalkawis a Petrellen 3.) Catrine Inokene

4.) Madline Mikkelo Mikszo marti 5.) Ennike Raudinate Pranzo ux 6.) Barbe Zagatazio ux 7.) Ilze Wauszkate a Wytullen 2 .) Urte Kusawene a Petrellen.»24