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Leibeigenschaft, Gutsherrschaft und Tatarenkriege

Drückende Armut bestimmte in der Frühen Neuzeit das Leben in Preußen.

Die adligen und landesherrlichen Grundherren erhoben nicht selten Abga-ben, die das Wenige verschlangen, was der karge Boden hergab. Obwohl sie nur mit Mühe und Not ihre eigenen Felder bestellen konnten, mussten die Bauern Frondienste leisten, die zusätzlich an ihren Kräften zehrten. Zu-dem forderten die Pest und andere todbringende Seuchen immer wieder ihren Tribut. Im 17. Jahrhundert wütete die Pest auf der Kurischen Nehrung derart, dass 1603 fast die gesamte Einwohnerschaft Niddens den Tod fand.

Der Pestfriedhof wurde 1931 bei dem alten, versandeten Dorf Nidden ge-funden, das um 1675 aufgegeben wurde.

Die Menschen suchten nach Erklärungen für die grosse Not, und sie fanden Sündenböcke. Das 17. Jahrhundert verzeichnete im protestanti-schen Europa eine Zunahme der Hexenverfolgung und brutale Hinrichtun-gen. Auch das evangelische Kirchenbuch der Stadtkirche Preußisch Hol-land gibt über Hinrichtungen Auskunft, die zwischen 1628 und 1665 er-folgten, wobei Hexerei als Hinrichtungsgrund auffallend häufig genannt wird:

«1630 d. 26. Aug.: Agnes ein Weib aussm Bischtumb (welche weder natürliche Augen noch Nase, oder Maul gehabt) wegen Zauberey Vrbrandt worden.

1639 Item: Anna Braun von Briensdorf (welche mit ihrem stieff Vater Blutschande getrieben, vndt dass Kindt nach der gebürt vobkommen las-sen) mit dem Schwerdt gerichtet worden.

1653 d. 3. Septemb.: Jan N. ein Polnischer Kerl wegen Sodomitischer Sünden sampt dem Beest vbrandt worden.»8

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Lovis Corinth hat 1893 den «Kirchhof in Nidden» gemalt und das Gemälde mit dem Untertitel «Kurische Nehrung» versehen, denn es «gibt den Charakter der Land-schaft auf der engen Landzunge wieder, zu dem auch die Kreuze der Verstorbenen gehören» (Lothar Brauner). War das Leben auf den kargen Böden Ostpreußens schon hart, so war es auf der sandigen Kurischen Nehrung erst recht armselig und entbehrungsreich. Die ostpreußische Dichterin Agnes Miegel hat in dem Gedicht

«Die Frauen von Nidden» von der geplagten Bevölkerung des Fischerdorfes auf der Kurischen Nehrung erzählt, das ganz besonders unter der Pest gelitten hat, als 1603 fast alle Einwohner von der Seuche hinweggerafft wurden. Den Pestfriedhof hat man 1931 gefunden.

Im Vergleich zur Ordenszeit fanden Siedler, die nach 1525 in Preußen eintrafen, schlechtere Bedingungen vor. Während der Orden relativ gross-zügig kölmische Freibauern angesiedelt hatte, waren fortan scharwerks-pflichtige Zinsbauern in der Überzahl. Die Anwerbung erfolgte im herzog-lichen Auftrag, indem der Amtshauptmann kraft einer Handfeste dem Lo-kator die Genehmigung zur Besiedlung eines ausgewiesenen Landstriches erteilte.

Nach 1525 stieg der gesamtgesellschaftliche Einfluss des preußischen Adels. Der adlige Grundbesitz bildete sich zum einen heraus aus den Dienstgütern der frühen Ordenszeit und zum anderen aus den umfangrei-chen Landverleihungen während des Dreizehnjährigen Krieges und nach dem Zweiten Thorner Frieden. Die Landverschreibungen an Söldnerführer aus dem Reich eröffneten bald ebenfalls die Möglichkeit, in den preußi-schen Adel aufzusteigen. Diesen Weg gingen die Geschlechter Dohna, Finck, Oelsnitz und Kreytzen im Oberland sowie die Eulenburgs und Schliebens in Natangen und im Samland. Der selbstbewusste preußische Adel setzte beim Landesherrn das Privileg des Indigenats durch, wonach alle Ämter von Angehörigen des einheimischen Adels bekleidet werden mussten. Das schloss Konkurrenz aus und reservierte den preußischen Adelsfamilien die einträglichen Amtshauptmannstellen, die ihnen neben ihren Gütern Einnahmen sicherten.

Schon unmittelbar nach der Säkularisierung verlieh Albrecht Ämter zur lebenszeitlichen Nutzung an ehemalige Ordensritter. Die Ämter Schön-berg (1532), Gilgenburg (1542) und Deutsch Eylau (1548) wurden so zu Erbämtern und waren damit der herzoglichen Schatulle für immer entzo-gen. Eine Übersicht von 1663 über die Verteilung des Grundbesitzes im Herzogtum Preußen verdeutlicht, dass der Herzog nur über knapp die Hälfte des Kulturlandes verfügte, wobei der landesherrliche Anteil im Samland am höchsten und im Oberland am niedrigsten war. Im oberländi-schen Kreis herrschten Adelsgüter vor, von denen gut die Hälfte aus den Dienstgütern der Kolonialzeit bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts hervorge-gangen war, denn der Orden hatte aus militärischen Gründen dieser Form der Besiedlung in der undurchdringlichen Wildnis vor allen anderen den Vorzug gegeben. Nach 1466 hat das Areal des Adels nochmals um ein Drittel zugenommen.

In dem Masse, wie die Macht in den Händen des Adels wuchs, ver-schlechterte sich zwangsläufig die Lage der Bauern. Die ohnehin schon drückende Abhängigkeit verstärkte sich 1577 noch durch die vom Adel ini-

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tiierte und in der preußischen Landesordnung festgeschriebene Schollen-bindung der Bauern, wonach diese ihren Wohnsitz nicht ohne Erlaubnis des Gutsherrn verlassen durften. Für die dramatische Einschränkung der bäuerlichen Freiheiten trug der landsässige Adel die Verantwortung. Ehe-mals freie Bauern wie Kleine Freie und Scharwerksfreie verloren immer mehr Rechte.

Gerade der Abstieg der Freien, ursprünglich das soziale Bindeglied zwischen Adel und Bauern, offenbart die Veränderung in der preußischen Gesellschaftsstruktur. Als Besitzer kleiner Güter nahmen sie auch die nie-dere Gerichtsbarkeit wahr. Diese ausgleichende gesellschaftliche Rolle verloren sie, je mehr sie an Bedeutung einbüssten, während der Adel im-mer mehr Privilegien in seinen Händen vereinte. Auch der Landesherr trug zur sozialen Verelendung der ländlichen Bevölkerung bei. Um die herzog-liche Kasse zu füllen, verpachtete er die Domänenvorwerke an den Adel.

Diese Vorwerke entstanden bei den Ordensburgen und entwickelten sich nach 1525 zu staatlichen Domänen. Seit der Ordenszeit waren ihnen schar-werkspflichtige Zinsdörfer in der Umgebung zugeteilt. Mit dem Domänen-vorwerk erhielt der adlige Pächter nicht nur das eigentliche Gut, sondern auch alle umliegenden Zinsbauern als lebendes Inventar. Für den Adligen lohnte sich die Gutspacht nur, wenn er über den Pachtzins hinaus einen satten Gewinn erzielen konnte. Zwangsläufig stieg der Druck auf die Scharwerksbauern. Während der Regentschaft Friedrich Wilhelms waren die Vorwerke gefragt. Das sicherte dem kurfürstlichen Hof Einnahmen, förderte aber zugleich die Unterdrückung der Bauern, die in dieser Zeit ihren Höhepunkt erreichte.

Domänenverpachtungen allein konnten die chronische Geldnot Fried-rich Wilhelms, der mit dem Aufbau eines stehenden Heeres permanent neue Löcher in den Staatssäckel riss, nicht beheben. Daher erschloss er sich eine weitere Einnahmequelle, indem er in den Staatsforsten der «Wildnis»

unter Umgehung der Bewilligung durch die preußischen Stände Scha-tullbauern ansiedelte, die nur ihm direkt abgabenpflichtig waren. Mit die-sen neuen Schatulldörfern schloss er zugleich die letzten Siedlungslücken in den kargen Regionen entlang der Grenzen Preußens.

Im wald- und heidereichen Masuren gab es noch gänzlich unbesiedel-tes Land, wo der Fiskus Schatullsiedlungen förderte. In den forstfiskali-schen Schatulldörfern galt eine strenge Hierarchie, an deren Spitze die Schatullkölmer standen, die ihre Hufen erblich zu kölmischem Recht be-sassen. Sie waren bis auf den jährlichen Grundzins von Steuern und Schar-

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werkslasten befreit. Der Schatullbauer dagegen erhielt zwar auch seine Hu-fen erb- und eigentumsrechtlich verliehen, musste aber Hand- und Spann-dienste in den staatlichen Forsten entrichten. Im Vergleich zu den Amts-bauern genossen die SchatullAmts-bauern grössere Freiheiten. Da sie der staatli-chen Forstbehörde direkt unterstellt waren, blieb ihnen die Abgaben- und Fronlast der Amtsbauern erspart, die den nimmersatten Domänenpächtern hilflos aus geliefert waren.

Die privilegierte Stellung nutzte den Bewohnern der Schatulldörfer aber nicht viel, denn nicht von ungefähr waren die Siedlungen gerade dort angelegt worden, wohin mittelalterlicher wie frühneuzeitlicher Landesaus-bau nicht hatten vordringen wollen oder können. Auf diesen schlechteren Böden brachten Abgabevergünstigungen nur wenig Erleicherung. Für die erst Mitte des 17. Jahrhunderts modellhaft geplanten Schatulldörfer endete bereits 1713 die rechtliche Sonderstellung im Rahmen der unter Friedrich Wilhelm I. vorgenommenen Neuordnung. Mit dem Fortfall der steuerli-chen Privilegien drohte den «Chatoullern» der finanzielle Ruin. Gegen diese Benachteiligung liefen viele Schatulldörfer Sturm.

Vom Dreissigjährigen Krieg blieb das kurfürstliche Preußen weitge-hend verschont. Nur die westlichen Landesteile gerieten während des Er-sten Schwedisch-Polnischen Krieges zeitweilig unter schwedische Besat-zung und litten unter den Plünderungen der durchziehenden schwedischen, polnischen und brandenburgischen Truppen, die über die Bewohner grosse Not brachten.

Während des Zweiten Schwedisch-Polnischen Krieges (1656 bis 1660) wütete die Kriegsfurie dann aber umso erbarmungsloser in Masuren.

Durch sein Bündnis mit Schweden zog Kurfürst Friedrich Wilhelm späte-stens mit der Schlacht von Warschau den Zorn des polnischen Königs Jan Kazimierz auf sich. Dieser entschloss sich nun zu einem Rachefeldzug ge-gen den unbotmässige-gen preußischen Lehnsvasallen. Unter dem Befehl des Unterfeldherrn Corvinus Gonsiewski fiel ein vereintes polnisch-litauisches Heer im Herbst des Jahres 1656 in Preußen ein und bereitete den verbün-deten Preußen und Schweden am 8. Oktober 1656 eine vernichtende Nie-derlage am Lyckfluss bei Prostken. Auf den polnischen Sieg folgten über Monate Plünderungen und Brandschatzungen der südlichen Ämter. In der deutschen Historiographie sprach man vom «Tatareneinfall» und bezich-tigte die heidnischen Kämpfer besonderer Grausamkeit. Tatsächlich

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erlebte die Landschaft Masuren einen Niedergang, wie er sich bis zu den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts nicht wiederholen sollte.

Glorreiche Schlachten und Feldherren, der Kurfürst Friedrich Wilhelm und der polnische König Jan Kazimierz, das alles bedeutete den Menschen in Masuren wenig. Über sie brachte dieser Krieg nur Tod, Elend, Zerstö-rung und Angst. Wie immer rechtfertigte die Bilanz des Schreckens den Krieg nicht. Mehr als die Hälfte der Bewohner Masurens fanden in den Jahren 1656/57 den Tod: 23’000 wurden erschlagen, 3‘400 in die Sklaverei verschleppt, und 80’000 wurden Opfer der Kriegsfolgen Pest und Hunger.

Weite Gebiete überzog das Grauen des Krieges: dreizehn Städte, 249 Dör-fer, Flecken und Höfe sowie 37 Kirchen lagen in Schutt und Asche.9 Fast alle Städte Masurens wurden ein Raub der Flammen: Lyck, Johannisburg, Marggrabowa, Lötzen, Rhein, Sensburg, Ortelsburg, Willenberg, Passen-heim und Soldau brannten bis auf die Grundmauern nieder, lediglich das Schloss in Rhein überstand das Inferno.

Im historischen Gedächtnis der Masuren konnten die schrecklichen Jahre des «Tatareneinfalls» nie ausgelöscht werden, zu tief war das Grauen in die Seelen eingedrungen. Ein altes Kirchenlied im masurischen Polnisch besang in 41 Strophen die Tragödie dieses Krieges. In immer neuen Meta-phern beschrieb der Komponist, Pfarrer Thomas Molitor, was er damals in seiner Kirchengemeinde Gross Rosinsko, Kreis Johannisburg, erlebt hatte:

1. O wehgemutes Vaterland, du sollst durch Tränen waten, und Preußen, ihr, erinnert euch an euren grossen Schaden, als 1656 ganz wie eine Brücke

die vielgestaltig Heere bannten eure Blicke.

2. Ein fremdes, unbekanntes Volk aus heidnischen Gefilden, kam, einem Adler gleich, geflogen, alles zu vertilgen:

Ganz unvermutet drang es tief in ahnungslose Gaue, erstürmte donnernd sie auf raschem Ross mit grossem Hauen.

3. Mal hier, mal dort sie Dörfer, Häuser, Korn und Scheunen sengten, die Kirchen sie brandschatzten und zu Schutt und Asche sprengten:

Sie raubten und entwanden Kleider, Geld und auch die Pferde und hinterliessen nichts als Not auf Preußens Erde.

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6. Doch die Tataren, dieses elend‘ Volk, sie jagten

so toll, dass niemand sich vor ihrem Ingrimm schützen wagte:

Durch kämmt en sie doch unerbittlich alle Wiesen, Felder, zu finden die Versteckten, gleich ob dort, ob in den Wäldern.

7. Die, deren sie dann habhaft wurden, köpften sie mit Degen, den Müttern rissen sie den Säugling fort, die düstren Schergen:

Gleich, was die Mütter jetzt erblicken, kann nur Tränen lohnen, sie bitten flehentlich den Himmel, doch ihr Kind zu schonen.10

Bis 1945 kündeten in Masuren Flurnamen vom Einfall der Tataren. Zwi-schen Lyck und Neuendorf lag ein «Tatarensee». In den Wäldern um die-sen See haben sich die Lycker der Sage nach vor den Tataren versteckt, wurden jedoch verraten. Die «Tataren» haben sie auf gespürt, an das See-ufer getrieben, niedergestochen und in den See geworfen. Da dieser sich daraufhin blutrot färbte, hiess er fortan der «blutige See» oder «Tataren-see», die Anhöhe am See «Tatarenberg». Bei Gortzitzen im Kreis Lyck gab es bis 1945 eine Tatarenschanze, eine weitere im Wald zwischen Jed-wabno und Hartigswalde im Kreis Neidenburg. Ein Tatarenstein bei Nei-denburg und ein Tatarenweg bei Passenheim gehen ebenfalls auf die Er-eignisse von 1656/57 zurück. Auch durch diese Bezeichnungen blieb die schauerliche Erinnerung an den Tatareneinfall bis ins 20. Jahrhundert im südlichen Ostpreußen lebendig.