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Die multiethnische Welt Ostpreußens

Auf fremde, aber dennoch vertraute Klänge traf man in Ostpreußen überall.

In Preußisch Litauen wurde noch bis zum Ende der deutschen Herrschaft litauisches buriškai als eigener Dialekt gesprochen, der ein derbes bäuerli-ches Litauisch mit deutlichen Einflüssen des Deutsch-sprachigen Umfelds war. In der Schriftsprache griff man wie im masurischen Polnisch auf die in Deutschland übliche gotische Schrift oder die Fraktur zurück. Im Me-melgebiet, im Kirchspiel Prökuls, sprach man etwa folgendermassen:29

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Deutsch memelländisches Litauisch (buriškai)

Litauisch

Montag Pandele Pirmadienis

Dienstag Uterninks Antradienis

Mittwoch Sereda Tretschiadienis

Donnerstag Ketwerge Ketvirtadienis

Freitag Pietnice Penktadienis

Samstag Subata Sestadienis

Sonntag Schwentadiens Sekmadienis

Zeitung Zeitunga Laikrastis

Hammer Kujelis Plaktukas

Gehen Ek Eik

Streichholz Brezukas Degtukai

Tisch Stals Stalas

Dieses Sprachgemisch brachte spezifische Redefloskeln hervor: «Lop, lop, Willokas lop, schwien inne pakaln, inne Medinke Rop» (Lauf, lauf, Willi-chen, lauf, die Schweine sind am Hang in den Medingschen Kartoffeln) oder «Willi, Willi lop nach Haus, grum perkunji bus litaus» (Willi, Willi, lauf nach Haus, Gewitter grollt, es wird Regen geben).30 Am längsten, nämlich bis 1945, haben die Flurnamen Zeugnis abgelegt von Ostpreußens nichtdeutschen Wurzeln. Für das Kirchspiel Wedereitischken (Tilsit-Ragnit) sind folgende Flurnamen überliefert: «Lanka» (feuchte Wiese),

«Laukagalas» (Feldende), «Ballatis» (moorige Fläche), «Smakalnis» (Dra-chenberg), «Meschkupis» (Bärenbach), «Wilkinitschis» (Wolfsgelände) sowie «Ragowas» (Hexenschlucht).31 Im Kreis Goldap, in Matznorkeh-men, an der Schnittstelle deutscher, litauischer und polnischer Sprache in Ostpreußen, zeigen sich litauische Einflüsse in den Flurnamen Dibas, Dubbline, Kattlatis, Kisselischke, Pajurglis, Waschkischke und Mar-schischke.32

Auch in Gegenden Preußisch Litauens, in denen kein Litauisch mehr gesprochen wurde, waren noch litauische Spuren anzutreffen. Im Kreis Pillkallen gab es um 1900 unter den Bauern eine bestimmte Art der Nach-barschaftshilfe. Benötigte ein Bauer für eine Arbeit Unterstützung, erhielt er diese als «Talkas», als unentgeltliche Hilfeleistung. Durch die «Talkas»

sparten die Landwirte einen Teil der Tagelöhne. Nach Absprache fanden sich bei Morgengrauen Knechte und Bauern mit Wagen und Feldgerät ein.

Als Dank für die Hilfe wurde keine Gegenleistung in Arbeitskraft verlangt, wohl aber eine gute Bewirtung und ein kleines Fest nach Beendigung der

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In der wilhelminischen Zeit gab es die multiethnische Welt Ostpreu-ßens noch. Obwohl die Germanisierungsbestrebungen beständig zunahmen, konnte die Christliche Verlagsbuchhandlung Ludwig Sakuth in Szillen für deutsche, masurische und litauische Literatur werben. Diese vornationale Welt sollte nach dem Ersten Weltkrieg einem ethnischen Nationalismus weichen, der neben der deutschen keine andere Sprache duldete. Welcher Reichtum dadurch preisge-geben wurde, offenbart allein das von Pfarrer Jopp aus Nidden auf der Kurischen Nehrung überlieferte preußisch-litauische Vaterun-ser:

Tewe musĕ, kurs esi Danguje.

Buk szwencziamas Wardas tawo.

Ateik tawo Karalyste.

Buk tawo Wale kaip Danguje, taip ir ant Żemźs.

Důną muse dieniszką důk mums ir szę Dieną.

Ir atleisk mums musĕ Kaltes, kaip ir mes atleidsziam sawo Kaltiems.

Ne wesk mus i Pagundymą, bek gelbek mus nů wiso Pikto.

Nesa tawo yra Karalyste ir Stiprybe ir Garbe ant Amżiů Amżiů. Amen.

Arbeiten (Padaigtuwes-Vollendungsfest).33 Mancher Brauch erinnerte gar an graue Vorzeiten. Beispielsweise hiessen die Dorfversammlungen in Preußisch Litauen noch bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein

«Kriwul» (von krivule – Dorfversammlung). Die Kriwule ist ein Krumm-stab, in prussischer Zeit das Zeichen, dass der Träger vom Oberpriester (Kriwe) gesandt war. Sie wurde, wenn sich die Dorfbewohner versammeln sollten, von Haus zu Haus getragen, und jeder wusste, was das zu bedeuten hatte. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde dann an der Kriwule die Vorla-dung (Kriwulzettel) befestigt.34

Ein Beispiel für die litauische Überlieferung gibt das Dorf Christian-kehmen im Kreis DarChristian-kehmen in «Friedrich Tribukaits Chronik», wo die meisten Flurnamen auf litauische Wörter zurückgingen, etwa «Lenkis» (li-tauisch Lenke – kleine Vertiefung im Gelände), «Lenkuth» (Diminutiv-form desselben Wortes), «Paplienies» (von litauisch plienis oder plenis – am Rande des trockenen Bodens), «Padwirris» (da eine Stelle am Ufer der Angerapp gemeint ist, wohl aus litauisch vyvius oder vyris – Strudel im Wasser, also Orte am Wasserwirbel). Mitunter setzten sich die Bezeich-nungen auch aus litauischen und deutschen Wörtern zusammen, etwa

«Kleine Wingis» (litauisch vingis – Biegung, Krümmung eines Flusses oder Weges) und «Grosse Lenkutt». Die Vermischung war so fortgeschrit-ten, dass sie den Bewohnern kaum noch auffiel. Dieses Neben- und Mit-einander ist ein Hinweis darauf, dass im Ort lange zwei Sprachen gleich-berechtigt nebeneinander gesprochen wurden. Die Verdrängung des Li-tauischen erfolgte wohl bereits 1833, da die kirchlichen Visitationen für den Kreis Darkehmen kein einziges litauisches Schulkind, für 1834 auch keinen litauischen Konfirmanden mehr verzeichneten.35 Obwohl kein Li-tauisch mehr gesprochen wurde, erwähnt Tribukait lokale Ausdrucksfor-men, die voller Lithuanismen sind. Er benutzt das Wort «Klete» (kleines Speichergebäude auf litauischen Höfen, litauisch kletis, lettisch klets\

spricht von «Kubbel» (litauisch kubilas oder niederlitauisch kubelas, eine aus Lindenholz gefertigte Truhe) und «Bartsch» (litauisch barwiai, barszcz, Rote-Bete-Suppe).36 Die Begriffe bleiben ohne Erläuterung, wer-den also als bekannt vorausgesetzt.

Für litauische und polnische Wörter gab es offenbar Domänen, in de-nen sie nicht ersetzbar waren, etwa in der lokalen Topographie, wo die Eindeutschung für Verwirrung gesorgt hätte, sowie im Alltagsleben. Auch das Liedgut stammte häufig aus dem reichen Litauisch- oder Polnisch-sprachigen Erbe und wurde schliesslich ins Deutsche übertragen. So hat das wunderschöne Volkslied «Zogen einst fünf wilde Schwäne» in Preu-

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Auf dem Land gingen die Uhren noch lange anders. Nicht Berlin, sondern der liebe Gott, die Jahreszeiten und die Bräuche bestimmten das Leben. Zu diesen Bräuchen gehörte die «Talkas», eine Nachbarschaftshilfe, die aus der litauischen Kultur stammte und noch bis 1945 in Preußisch Litauen überdauerte. Nach getaner Arbeit wurden alle mit einer ordentlichen Mahlzeit belohnt. Ein weiterer Brauch war das

«Binden». Der Gutsherrschaft wurden Ähren um den Arm gebunden, und diese Fes-sel konnte sie nur lösen, indem sie etwas spendierte.

ßisch Litauen, im Kreis Stallupönen, seine Ursprünge. Karl Plenzat hat es aufgezeichnet und aus dem Litauischen übersetzt:

Zogen einst fünf wilde Schwäne, Schwäne leuchtend weiss und schön.

Sing, sing, was geschah?

Keiner ward mehr gesehn, Sing, sing, was geschah?

Keiner ward mehr gesehn.

Wuchsen einst fünf junge Mädchen schlank und schön am Memelstrand.

Sing, sing, was geschah?

Keins den Brautkranz wand.

Sing, sing, was geschah?

Keins den Brautkranz wand.

Auf deutscher Seite sah man den litauischen Spracheinfluss in Ostpreußen weniger gern und suchte ihn, je mehr die nationalen Gefühle in den Vor-dergrund drängten, zu reduzieren, während die nationalistischen Kreise Li-tauens das gegenteilige Interesse verfolgten und ihn über seinen Verbrei-tungsgrad hinaus hochspielten. Wie stark er wirklich war, lässt sich wohl am ehesten aus den kirchlichen Statistiken ablesen, obwohl auch diese mit Vorsicht zu betrachten sind. Für den Kreis Pillkallen gibt es Schätzungen der Pfarrer, die allerdings weniger auf die Abstammung als auf die Sprache der Bewohner achteten und im allgemeinen diejenigen Litauer, die sich Sprache und Sitten der Deutschen aneigneten, sich zum deutschen Gottes-dienst hielten und ihre Kinder «deutsch» einsegnen liessen, den Deutschen zugerechnet haben. Man kann also von einem weitaus höheren Anteil Li-tauisch-sprachiger Kreisbewohner ausgehen.

Im Kaiserreich ging in den ehemals dreisprachigen Diözesen Darkeh-men und Goldap die Zahl der Litauisch- und Polnisch-sprachigen Bewoh-ner erheblich zurück. 1878 fand man im Kreis Darkehmen Litauer nur noch im Kirchspiel Ballethen, in der Diözese Goldap in Dubeningken (rund 500), Gawaiten (9) und Szittkehmen (rund 800). In der Diözese Gumbin-nen gab es auch fast keine Litauer mehr. Insterburgs offizielle Kirchensta-tistik wies Litauer noch für die Kirchspiele Aulowönen (30), Berschkallen

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(250), Didlaken (40), Georgenburg (130), Grünheide (300), Insterburg-Land (80), Norkitten (20), Obelischken (120) und Pelleninken (80) aus. Die Kreise nördlich der Memel – Memel und Heydekrug – waren mit Aus-nahme der Städte noch in sämtlichen Kirchspielen in grosser Mehrheit Li-tauisch-sprachig. In der Diözese Ragnit verzeichneten die Kirchspiele Bud-wethen, Jurgaitschen, Kraupischken, LengBud-wethen, Ragnit (Litauische Kir-che), Rautenberg, Smalleningken, Szillen und Wischwill ebenfalls hohe Li-tauisch-sprachige Anteile. Auch die Diözesen Labiau und Niederung süd-lich der Memel wiesen Litauer auf. In der Diözese Labiau zählten Gilge, Labiau (litauische Gemeinde), Laukischken, Lauknen, Mehlauken und Po-pelken noch grössere Litauisch-sprachige Gemeinden, in der Diözese Nie-derung galt das für Gross Friedrichsdorf, Heinrichswalde, Inse, Kaukeh-men, Lappienen, Neukirch und Skaisgirren.37

Litauer in den Kirchspielen des Kreises Pillkallen 38

Kirchspielbewohner 1848 Kirchspielbewohner 1878 insgesamt davon Litauer insgesamt davon Litauer

Küssen 6 728 2 150 5 519 1 839 weiteren sechs wurde ein Litauisch-sprachiger Pfarrer gesucht. Den grös-sten Einbruch brachte der Erste Weltkrieg. Nach 1919 wurden litauische Gottesdienste auf der südlichen Uferseite der Memel lediglich in Tilsit, Pillkallen, Skaisgirren, Inse, Pokraken, Jurgaitschen und Ragnit abgehal-ten; in Laukischken, Lasdehnen und Schakuhnen fanden sie nur ab und zu statt. Nach 1933 wurde der litauische Gottesdienst eingestellt und nur zu besonderen Anlässen noch in Tilsit und Ragnit bis 1944 zelebriert. So ver-schwand die litauische Sprache im Laufe von zwei Jahrhunderten aus dem öffentlichen Raum, in dem die evangelische Kirche ihr letztes Refugium dargestellt hatte.39

Die Provinz Preußen, die seit 1829 bestand und mit der Auflösung des Danziger Konsistoriums 1831 auch zu einem einheitlichen kirchlichen Ver-

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waltungsgebiet umgebildet worden war, nahm unter den Kirchenprovinzen der preußischen Monarchie eine Sonderstellung ein. Sie umfasste 1854 die Regierungsbezirke Königsberg, Gumbinnen, Danzig und Marienwerder und zählte 54 Inspektionen (einschliesslich der reformierten). Die Visitati-onsberichte des Königsberger Konsistoriums sind ein beredtes Zeugnis der ethnischen und kulturellen Besonderheit Ostpreußens.

In einer Visitation der Litauischen Niederung von 1891 wird aber auch schon der offizielle Standpunkt der Amtskirche gegenüber Masuren und Litauern in Ostpreußen deutlich: «Immerhin sind auch hier die Litauer schwierig zu behandeln. Sie haben das Gefühl, dass sie eine untergehende Nationalität sind. Die deutsche Sprache herrscht in den Schulen und in dem öffentlichen Verkehr und von Jahr zu Jahr geht die litauische Sprache zu-sehends zurück. Während aber die Polen in Masuren das ähnliche Los mit Geduld tragen, widerstreben die Litauer auf das hartnäckigste dem Germa-nisierungsprozess. Dies macht die Stellung der Geistlichen ihnen gegen-über besonders schwierig; sie beschuldigen den Pfarrer, dass er im Bunde mit der Regierung darauf bedacht sei, ihre litauische Art auszurotten, und bringen darum seinem seelsorgerischen Wirken von vornherein Misstrauen entgegen.

Sie sind im Verkehr mit ihnen keineswegs von der unterwürfigen Art der Masuren, sondern rechthaberisch, eigensinnig, unwahrhaftig und heim-tückisch. Ihre grössere Kirchlichkeit hat keineswegs ein tieferes, ernsteres Christentum zur Folge, sie sind ein Naturvolk geblieben, mit den guten und bösen Eigenschaften desselben. Ihr ganzes Christentum trägt mehr äusse-ren Charakter, es besteht in äusserlicher Werkgerechtigkeit, ohne innere aufrichtige Bekehrung; ihre alten Nationallaster, Trunksucht und Unzucht, beherrschen sie auch jetzt noch...

Der Generalsuperintendent, von dem die Litauer die törichte Meinung hatten, dass er ein sehr einflussreicher Mann sei, ist mit litauischen Bitt-schriften überhäuft worden, in welchen sie von ihm erwarten, dass er ihnen ihre litauische Sprache in der Schule wieder schaffen würde. Wieviel Schwierigkeiten dieser eigenwillige Widerspruchsgeist dem Pfarrer berei-tet, geht unter anderem daraus hervor, dass dem Superintendenten der Di-özese bei dieser Visitation ganz besonders bange war vor den Unterredun-gen mit den Hausvätern, weil er befürchtete, dass bei denselben der ganz tiefe litauische Groll gegen das Deutschtum zum Ausbruch kommen würde.»40

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Generalsuperintendent Friedrich Wilhelm Gustav Carus hat sich 1885 anlässlich der Visitation in der Diözese Heydekrug sogar uneingeschränkt zur Germanisierungspolitik bekannt: «Aber der Gang der geschichtlichen Entwicklung bringt es mit Notwendigkeit mit sich, dass dieser Fortschritt nicht anders als durch Mitteilung deutscher Kultur erfolgen kann, zu wel-cher der Litauer erzogen werden muss. Ein spezifisches Litauertum künst-lich zu pflegen und zu erhalten, wäre ein Unheil für die Litauer selbst und vielleicht auch eine Gefahr für den Staat. Der Übergang des litauischen Wesens in die deutsche Art ist bei der Superiorität der letzteren unvermeid-lich, und somit würde sich denn auch der Germanisierungsprozess, selbst wenn man in keiner Weise in die weitere Entwicklung eingreifen wollte, von selbst mit naturgeschichtlicher Notwendigkeit vollziehen ... Die kirch-liche Sphäre ist der letzte Rest des Volkstums, an das sich der Litauer mit zäher, fast krampfhafter Liebe festklammert, und dieses sozusagen letzte Aufflammen der Abendröte vor dem Sonnenuntergang.»41

Ohne die evangelischen Gebetsvereine wäre die litauische Sprache in Preußisch Litauen schneller aus dem öffentlichen Leben verschwunden. In ganz Preußisch Litauen gab es diese Gemeinschaften, die von Laienpredi-gern getragen wurden. Sie zogen über Land und riefen ihre Anhänger zum Gebet zusammen. Anfang des 19. Jahrhunderts wirkte im Memelland der Stundenhalter Klimkus Grigelaitis (1750-1826) aus dem Dorf Poschka bei Prökuls, dessen Anhänger man «Klimkiskai» nannte. Der Gründer und Führer der «Alten Bewegung» war von Beruf Tischler und hatte beim Bau der ersten Holzkirche von Schwarzort eine Vision. Eine Stimme befahl ihm, seinen Beruf aufzugeben und das Wort Gottes zu verkünden. Fortan wanderte er durch das Memelland und die Memelniederung, wo er den Li-tauern das Evangelium verkündete. Er hat dreizehn Kirchenlieder für das litauische Gesangbuch verfasst und seine Seelsorge ausschliesslich in li-tauischer Sprache betrieben. Unter Grigelaitis erlebte die Gemeinschafts-bewegung ihre erste Blüte.

Einen grossen Kreis scharte auch Christoph Kukat (Kristupas Kukai-tis, 1844-1914) aus Lasdehnenum sich, dessen Anhänger «Kukaitiskai» ge-nannt wurden. Kukat erreichte von Preußisch Litauen aus auch Masuren und Deutsch-sprachige Teile Ostpreußens. 1885 hat er den «Ostpreußi-schen Gebetsverein» gegründet. Eine Welle frommer Erweckung rollte da-mals über Ostpreußen hinweg und erfasste insbesondere die ethnisch nicht-

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deutschen Gruppen. Wilhelm Gaigalat schätzte, dass den Gemeinschafts-kreisen in Preußisch Litauen sechzehn Prozent aller evangelischen Chri-sten dort sowie etwa die Hälfte der litauischen Bevölkerung in diesem Ge-biet angehörten.42

Vor allem asketische Stundenhalter wie Jokubs Assmons (1800 bis 1862) aus Lankuppen bei Prökuls erfreuten sich grosser Beliebtheit. In Li-tauisch unterwies er seine Anhänger in Sendschreiben, die die theologische Ausrichtung der Gemeinschaftsbewegung widerspiegeln: «Und wenn man schmerzhaft fällt und sich schwer verwundet, so muss man schnell zu der reichen Apotheke des lieblichen Herzens unseres Herrn Jesu Christi eilen;

da findet man Heilmittel gegen alle Krankheiten und Wunden. Denn er ist der vollkommene Arzt; dabei heilt er umsonst und ohne Bezahlung ... So gütig ist er wohl gegen alle Kranken, Wehklagenden und Seufzenden, die im Seelenkampf verwundet sind; aber wer sein Fallen und sein Straucheln nicht erkennt, der sehnt sich auch nicht nach der Hilfe der Seelen, sondern bleibt in hässlichen Sünden, faulend im Eiter, auf dem fürchterlichen Sün-denlager, wälzt sich wie ein Schwein im Schmutz und gleicht Hunden, die, nachdem sie die Scheusslichkeit der Sünde von sich gegeben haben, sie durch Wiederholung wieder fressen.»43

Die litauische Erweckungsbewegung hat mit ihrer Askese letztlich den Untergang der litauischen Volkskultur in Ostpreußen beschleunigt. In hei-ligem Eifer mussten nämlich die bunten litauischen Nationaltrachten dem strengen dunklen Tuch der puritanischen «Maldeninker» (Brüder im Ge-bet) weichen. Landsleute, die nicht Mitglieder der Gemeinschaftsbewe-gung waren, meinten, dass die gottesfürchtigen Litauer sogar das Singen für eine Sünde hielten. Tatsächlich haben die Maldeninker erreicht, dass das litauische Lied in Preußisch Litauen kaum noch zu hören war.44 Ebenso war der Tanz bei den Frommen verpönt.

Über die Maldeninker im Kirchspiel Russ hat Prediger Rademacher berichtet: «In dem benachbarten Kirnten (sic!) treten zuerst die Maldenin-ker auf und halten ihre Surinkimmen in Privathäusern. Ihre Verkündiger des Wortes (Dewo Zodzio Apsakytojei) halten sich insbesondere vom Hei-ligen Geist erleuchtet... Es ist natürlich, dass ihnen die mystische Richtung nur allein zusagt und dass ihr Gottesdienst nur ein Schwelgen im religiösen Gefühl sein kann, ohne alle verständliche Auffassung. Sie drücken dies auch durch fortwährendes Seufzen, Stöhnen und Weinen aus. Sie enthalten sich alle des Branntweintrinkens und sind, wo der Prediger ihnen zusagt, die besten kirchlich gesinnten Mitglieder.»45

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Nach 1870 erlebte die masurische Entsprechung der evangelischen Gemeinschaftsbewegung eine Blüte. Unter Christoph Kukats Ägide ent-stand in Masuren mit dem Gebetsverein die grösste organisierte Plattform der «Gromadki» (polnisch-masurisch: Häuflein), die sich weiterhin als Teil der evangelischen Landeskirche verstanden, aber im Gegensatz zur Amts-kirche das Laienpriestertum vertraten. Gromadki – ob in Vereinen oder un-organisiert – trafen in Privathäusern, Scheunen oder eigens errichteten Bet-sälen zusammen. Sie kamen ausschliesslich aus dem Polnisch-sprachigen Masurentum. Die Gromadki zeichneten sich ebenfalls durch einen asketi-schen Lebenswandel aus, der Alkohol- und Tabakkonsum ausschloss.

Auffällig ist, dass die Blüte der Bewegung zusammenfiel mit dem Verbot der polnischen Sprache in Schulen und Kirchen. Auf Verfügung des Oberpräsidenten Karl Wilhelm Georg von Horn war am 24. Juli 1873 der folgenschwere Erlass ergangen, die polnische und litauische Sprache aus dem öffentlichen Leben zu verbannen. Horn ordnete die sofortige Ein-führung Deutsch-sprachigen Unterrichts in allen anderssprachigen Ele-mentarschulen an: «In allen Lehrgegenständen ist die Unterrichtssprache die deutsche. Ausgenommen hiervon ist nur der Unterricht in der Religion, einschliesslich des Kirchenliedes, auf der Unterstufe.» 46 In trockener preu-ßischer Amtssprache wurde damit das Ende des multilingualen Ostpreußen verkündet. Ohne Rücksichtnahme wurde flächendeckend eine Unterrichts-sprache durchgesetzt, die vielen Kindern fremd war. Was das bedeutete, ist dem Bericht einer Memelländerin über ihre Schulzeit zu entnehmen: «Vor dem Ersten Weltkrieg wurde in der Schule nur Deutsch gelehrt. Zu Hause wurde nur litauisch gesprochen. Wenn jemand in der Schule litauisch sprach, dann musstest du 10 Minuten in der Ecke stehen und wiederholen

‚Ich soll nur Deutsch sprechen’.»47

Für die dem lutherischen Gedankengut der Reformation verpflichteten Gromadki war die Verkündigung des Evangeliums in der Muttersprache aber ein hohes Gut, das es zu bewahren galt. Sie wollten ihre Kinder zu guten Christen erziehen, und das setzte nach ihrer Auffassung die Verkün-digung des Evangeliums in der Muttersprache voraus. Gerade das war auch ein Hauptanliegen der protestantischen Reformation gewesen, aber die Amtskirche und der Staat, dessen Herrscher Summus episcopus dieser Kir-che war, wollten den Masuren das heilige Recht auf die MutterspraKir-che, das gerade den deutschen Nationalisten der Kaiserzeit über alles ging, nicht zugestehen. Dem stellten sich die Gromadki entgegen, wobei es ihnen nicht

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um eine generelle Ablehnung der Germanisierungspolitik ging, sondern le-diglich um die polnische Sprache als Lingua sacra der Verkündigung.

Der Zulauf, den die Gromadki nach der Amtsverfügung gegen die pol-nische Sprache verzeichneten, ihr profundes theologisches Wissen sowie ihre Kirchenkritik machten sie zum Ärgernis für Amtskirche und Behör-den. Bis 1914 folgte ihnen etwa ein Viertel der masurischen Bevölkerung, weshalb die Laienpriester – mit polizeilicher Unterstützung – auf alle nur denkbare Weise schikaniert wurden: Dorfgendarme wurden angewiesen, Gromadki-Versammlungen aus fadenscheinigen Gründen aufzulösen, und Amtsvorsteher hatten Genehmigungen für das Abhalten von Gebetsstun-den zu verweigern. Von amtlicher Seite wurde gegen die Gromadki agi-tiert, indem man sie als Separatisten und Polenfreunde, wenn nicht gar als Anarchisten oder Sozialdemokraten brandmarkte. Alle diese Vorwürfe entbehrten jeder Grundlage und offenbaren, dass Staat und Kirche sich um

Der Zulauf, den die Gromadki nach der Amtsverfügung gegen die pol-nische Sprache verzeichneten, ihr profundes theologisches Wissen sowie ihre Kirchenkritik machten sie zum Ärgernis für Amtskirche und Behör-den. Bis 1914 folgte ihnen etwa ein Viertel der masurischen Bevölkerung, weshalb die Laienpriester – mit polizeilicher Unterstützung – auf alle nur denkbare Weise schikaniert wurden: Dorfgendarme wurden angewiesen, Gromadki-Versammlungen aus fadenscheinigen Gründen aufzulösen, und Amtsvorsteher hatten Genehmigungen für das Abhalten von Gebetsstun-den zu verweigern. Von amtlicher Seite wurde gegen die Gromadki agi-tiert, indem man sie als Separatisten und Polenfreunde, wenn nicht gar als Anarchisten oder Sozialdemokraten brandmarkte. Alle diese Vorwürfe entbehrten jeder Grundlage und offenbaren, dass Staat und Kirche sich um