• Keine Ergebnisse gefunden

Aufbruch in die Moderne

Preußen hatte mit dem Sieg in den Befreiungskriegen grosses Prestige ge-wonnen, aber das liess sich nicht in bare Münze umwandeln. Was halfen glorreiche Siege auf dem Schlachtfeld, wenn das Land am Boden lag, fi-nanziell und wirtschaftlich vollständig erschöpft? Die königlich preußi-schen Untertanen waren kriegsmüde und hungrig, die Höfe lagen verlas-sen, es mangelte an Vieh, Missernten kamen hinzu, und in deren Folge breiteten sich Epidemien aus. Zu allem Unglück wurde Ostpreußen mit sei-ner agrarischen Monostruktur von der folgenden internationalen Agrar-krise mit ganzer Wucht getroffen. Die Preise auf den Getreidemärkten fie-len ins Bodenlose, so dass die Bauern so gut wie keine Einnahmen erzielten und nicht einmal Saatgut kaufen konnten.

Sollte Ostpreußen sich je wieder erholen, musste die Regulierung der bäuerlich-gutsherrlichen Besitzverhältnisse in Angriff genommen und zum Erfolg geführt werden. Ostpreußen war ein Agrarland, doch die Landwirt-schaft allein konnte die Bevölkerung nicht ernähren. Alternativen gab es

135

nicht, da die Bereiche Handwerk, Industrie und Dienstleistung nur gering ausgebildet waren. Die ungünstige geographische Lage zu Westeuropa schloss eine nennenswerte Industrieansiedlung aber aus, so dass die Men-schen gen Westen zogen, wo es Arbeit gab, und das Land auszubluten drohte. Diesem Trend konnte nur entgegengewirkt werden, indem man die Landwirtschaft intensivierte, die – da waren die ostpreußischen Behörden illusionslos – auf Dauer die wichtigste Einnahmequelle der Provinz bleiben würde.15

Kant und das von ihm in Königsberg geprägte aufgeklärte Menschen-bild sollten unmittelbare Auswirkungen auf die kommenden Entwicklun-gen in Ostpreußen haben und zur Befreiung der Bauern führen. Unter dem Druck der politischen Ereignisse erliess Oberpräsident Schön, ein Schüler Kants, im Oktober 1807 das «Edikt den erleichterten Besitz und den freien Gebrauch des Grund-Eigenthums sowie die persönlichen Verhältnisse der Land-Bewohner betreffend» und wagte damit den Sprung von der über-kommenen Natural- in die Geldwirtschaft.

Das Edikt löste die Bauern aus einer jahrhundertealten mittelalterli-chen Feudalstruktur, die ihnen schwere Bürden auferlegt, aber unter der Obhut des Gutsherrn auch einen gewissen Schutz geboten hatte. Nun mussten sie eigenverantwortlich handeln. Bis dahin hatte der Grundherr – ob Staat oder Adel – dem Bauern Besatzvieh und Bauholz gestellt, steuer-liche Freijahre bei Neubauten gewährt sowie Zinsnachlässe, Vorschüsse an Saat- und Brotgetreide bei Missernten und sonstige Hilfen. Nun war der Bauer auf sich allein gestellt, wenn sein Vieh einer Seuche zum Opfer fiel oder bei Hagelschlag und Brand Gebäudeschäden entstanden. Die Kehr-seiten der Freiheit zeigten sich bereits in der internationalen Agrarkrise, als die sinkenden Getreidepreise zu akuter Geldknappheit führten. Für die be-freiten Bauern, die noch keine Rücklagen gebildet hatten, war das eine Ka-tastrophe. Notwendige Investitionen unterblieben, Folgekosten der Regu-lierung konnten nicht beglichen werden, die Schuldenfalle wurde man-chem Bauern binnen kurzer Zeit zum Verhängnis. Ihnen blieb oft gar nichts anderes übrig, als den gerade erworbenen Hof zu verkaufen.

In dieser Situation erfolgte die Gründung landwirtschaftlicher Ver-eine, etwa 1821 die des «Zentralvereins für Litthauen und Masuren» in In-sterburg. Fortschrittliche Gutsbesitzer unterwiesen die Bauern über diese Vereine in modernen Anbaumethoden. Hier lernten sie etwas über Mehr-

136

felderwirtschaft, Gründüngung, Kunstdünger, Anbau von Zwischenfrüch-ten, neue FruchtarZwischenfrüch-ten, Blatt- und Hülsenfrüchte, Raps, Zuckerrüben, Stall-haltung, veredelte Tierzuchten (Trakehner, Herdbuchvieh, Schafe), über die Entwicklung und Einführung neuer landwirtschaftlicher Geräte und Maschinen sowie betriebswirtschaftliches Bilanzieren.

Der letzte Schritt der preußischen Agrarreformen war die Separation (auch Verkopplung genannt). Mit dieser Massnahme wurde die wirtschaft-liche Autonomie der Bauern unumkehrbar gemacht. Effizientere wirt-schaftliche Einheiten lösten die überkommenen Gemengelagen ab. Jeder Bauer erhielt ein zusammenhängendes Flurstück. Die Aufteilung des Ge-meindebesitzes – der Allmende – brachte ihnen zusätzliche Flächen. Mit der allmählichen Abschaffung der Dreifelderwirtschaft wuchsen die Er-träge, was ganz besonders für die Hackfrüchte galt, und der vermehrte Kleeanbau verbesserte das Stallfutter, wodurch die Viehhaltung gesteigert werden konnte.

Die grossen, zusammenhängenden Flurstücke erleichterten die Feld-bestellung. Die langen Feldgrenzen entfielen, die Aussenschläge fernab der Dörfer konnten besser bestellt und die Anbaufläche insgesamt vergrössert werden. Durch die Separation kam es aber auch zur Auflösung der tradi-tionellen Dorfverbände. Staatliche Prämien lockten Bauern in die Abge-schiedenheit der Feldmark, in die «Abbauten», wo bisher ungenutzte Flä-chen, die vom Dorf nur schlecht zu erreichen waren, unter den Pflug ge-nommen wurden. Zwar mussten die Bauern nun kilometerlange Wege zum Dorf zurücklegen, was insbesondere in den harten, schneereichen Wintern grosse Mühsal verursachte, doch letztlich dürften die Vorteile überwogen haben. Zum einen konnten jüngere Bauernsöhne, die kein Erbe zu erwarten hatten, die freiwerdenden Parzellen des elterlichen Hofes als Eigenkätner übernehmen und Familien gründen, zum anderen gewannen die ausgebau-ten Bauern nicht unerheblich an Prestige. Die zum Teil repräsentativ auf Anhöhen errichteten Ausbauhöfe gaben manchem das Gefühl, ein kleiner Gutsbesitzer zu sein. Einige Höfe erhielten im 19. Jahrhundert «Gutsna-men» wie «Ottilienhof», «Sophiental» und «Wilhelmsruh». Das war Aus-druck des bäuerlichen Strebens nach sozialem Statusgewinn und bekundete den Wunsch nach einem gutsherrlichen Lebensstil.

Die drei Schritte der Bauernbefreiung – Regulierung, Allmendeauftei-lung und Separation – führten schliesslich zum Erfolg. Binnen wenigen Jahrzehnten verdoppelte sich die landwirtschaftliche Nutzfläche. In der

137

Provinz Ostpreußen stieg ihr Anteil von 20,5 Prozent der Gesamtfläche (1815) auf 44,3 Prozent (1849) und schliesslich auf 54 Prozent im Jahr 1913.16

Letztlich muss auch die Abschaffung der Patrimonialgerichtsbarkeit als Glied in der Kette der Reformen zur Bauernbefreiung gesehen werden.

Erst 1851 verloren die Gutsbesitzer oder die von ihnen eingesetzten Juri-sten die Gerichtsbarkeit über die Gutsbezirke, und erst 1872 ging die Poli-zeigewalt durch eine neue Kreisordnung auf den Staat über. Da die aus der Neuordnung hervorgegangenen Gutsbezirke jedoch automatisch den Guts-herrn als Ortsvorsteher auswiesen, blieb de facto bis 1927, also weit in die Weimarer Republik hinein, die niedere Exekutivgewalt bei den Gutsher-ren.17

Bis 1837 zählte die Provinz Ostpreußen zwei Drittel Deutsch-spra-chige sowie ein Drittel Polnisch- und Litauisch-spraDeutsch-spra-chige Einwohner. Der Urbanisierungsgrad war gering: 1849 betrug der Anteil städtischer Bewoh-ner 19,3 Prozent und lag damit 8,7 Prozent unter dem preußischen Durch-schnitt. Von diesen Städtern lebte nochmals die Hälfte in Kommunen mit weniger als dreitausend Einwohnern.18 Einer dieser bescheidenen Markt-flecken war Preußens östlichste Stadt Schirwindt an der Mündung des Schirwindtflusses in die Szeszuppe. Als Friedrich Wilhelm IV, Preußens romantischer Herrscher, 1845 erstmals in diesem Grenz- und Schmuggel-ort weilte, zeigte er sich von der barocken Kirche im nahe gelegenen litaui-schen Naumiestis (Neustadt) derartig beeindruckt, dass er «hier im Osten den Evangelischen einen Dom zu erbauen» versprach, «der ebenso stolz nach Russland hineinragt wie die katholische Kirche von drüben hier».

1846 verlieh er dem Ort ein Wappen, das einen roten Torbogen mit schwar-zem preußischem Adler über einer golden aufgehenden Sonne zeigt, da – wie der König meinte – die «Stadt Schirwindt – in Unserem Staate die öst-lichst gelegene – die aufgehende Sonne zuerst erblickt».19 Das Gotteshaus wurde schliesslich 1856 in seinem Beisein eingeweiht.

Von den Städten war allein Königsberg als Grossstadt zu bezeichnen.

Die Einwohnerzahl von 75’000 (1849) stieg bis 1871 auf 112’000 und ver-zeichnete somit ein Plus von 49 Prozent. An der agrarischen Monostruktur des Landes änderte sich indes nichts: 1861 waren in der Provinz Preußen 40,5 Prozent der Bevölkerung in der Land- und Forstwirtschaft tätig, das war ein Rückgang gegenüber 1849 (59 Prozent), aber noch immer lag man weit über dem gesamtpreußischen Durchschnitt von 28,2 Prozent (1861).

Der Export von Holz und Getreide machte neben der Agrarproduktion den 138

Ostpreußens Städte gingen im 19. Jahrhundert kaum über die Grösse von fünftau-send Einwohnern hinaus. Ein typischer Marktflecken war Darkehmen, dem Fried-rich Wilhelm I. im Jahr 1725 das Stadtrecht verlieh. Charakteristisch ist der grosse viereckige Marktplatz, der an Markttagen leicht die vielen vom Land hereinströmen-den Fuhrwerke fassen konnte. Dann herrschte Trubel in hereinströmen-den sonst eher beschauli-chen Flecken im fernen Osten des Königreiches. Der Jurist Jodacus Hubertus Temme (1797-1881), den es 1833 aus dem südlichen Westfalen als Kreisjustizrat in das siebzig Kilometer von Darkehmen entfernte Ragnit verschlug, hat damals ge-schrieben: «Von Ragnit wussten kein Mensch und keine Landkarte etwas. Das Hübner’sche Staats- und Zeitungs-Lexikon gab Auskunft: ‚Ragnit, ein Städtchen am Memelfluss, mit einem alten Ritterschloss und 1‘800 Einwohnern.’ Es war auch nicht viel. Aber nicht weit von dem Memelfluss war die russische Grenze, und da wollten die Leute in Westfalen, wo sie zwar gutes Bier und guten Wein trinken, sehr bestimmt wissen, dass man an der russischen Grenze Wein und Bier nicht kenne, sondern nur Meth trinke ... Andere Leute riethen geradezu ab, und zwar um meiner kleinen Kinder willen. An der russischen Grenze seien die Bären und Wölfe zu Hause, und die Wölfe kämen des Abends selbst in die Städte und holten die Kinder aus den Betten.» Der aufrechte Demokrat Temme trat später der demokratischen Bewegung bei und wurde für den Kreis Ragnit in die Nationalversammlung ent-sandt. 1852 wurde er zur Emigration in die Schweiz gezwungen.

wichtigsten Handelsfaktor aus. Trotz der hohen Geburtenrate verringerte sich die ostpreußische Bevölkerung infolge der Abwanderung gen Westen zwischen 1850 und 1870 von 1,48 auf 1,28 Millionen Einwohner. Unzwei-felhaft blieb die Infrastruktur Ostpreußens schwach ausgebildet, so dass die Analphabetenquote 1872 noch bei 32,5 Prozent lag, während sie in den preußischen Westprovinzen lediglich fünf bis sieben Prozent betrug.

Die östlichste Grossstadt Preußens behauptete sich als Metropole: als Verwaltungssitz und Universitätsstadt, als Einkaufs- und Vergnügungs-zentrum für ein riesiges Einzugsgebiet, als bedeutender Handelsplatz und Ort der Presse. Seit Kant verband man mit Königsberg geistige und kultu-relle Grösse. Heinrich von Kleist (1777-1811) verfasste hier als Volontär bei der königlichen Domänenkammer seine Werke «Der zerbrochene Krug» und «Amphitryon». Joseph von Eichendorff (1788-1857) lebte von 1824 bis 1831 als Oberpräsidialrat und Mitglied der preußischen Regie-rung zu Königsberg als einer der wichtigsten Mitarbeiter Theodor von Schöns am Pregel.

Metropolencharakter besass die Stadt auch in dem Sinne, dass neben den liberalen Traditionen wichtige literarische und musikalische Impulse von hier aus in alle Welt gingen. Unter dem Eindruck des geistigen Ver-mächtnisses Immanuel Kants entstanden literarische Salons, ähnlich dem der Rahel Varnhagen in Berlin. Die Familie Motherby unterhielt einen Sa-lon, in dem Theodor von Schön und der Freiherr vom Stein verkehrten, für kurze Zeit auch Wilhelm von Humboldt. Die Motherbys waren eine aus Schottland stammende Kaufmannsfamilie, deren Spross William Mother-by Shakespeares «Die lustigen Weiber von Windsor» ins Deutsche über-setzt hat. Der Komponist der gleichnamigen Oper, Otto Nicolai (1810-1849), ebenfalls in der Pregelstadt geboren, wurde von Friedrich Wilhelm IV. als Nachfolger Felix Mendelssohn-Bartholdys 1847 zum Leiter des Domchors und Kapellmeister der Königlichen Oper nach Berlin berufen.

Seiner Heimatstadt widmete Nicolai anlässlich der Grundsteinlegung der Neuen Universität am 31. August 1844 die Ouvertüre «Ein feste Burg ist unser Gott», wobei er selbst im Dom auf dem Kneiphof dirigierte. Noch war der Universitätsbetrieb überschaubar: Im Jahr 1858 gab es 393 Studen-ten, von denen 95 Jura, 100 Medizin, 9 Pharmazie, 68 Philosophie und 121 Theologie studierten.20

Nach 1850 erlebte Ostpreußen einen Wirtschaftsaufschwung, weil England und Frankreich während des Krimkrieges die russischen Ostsee-häfen blockierten und Russland seinen Aussenhandel über das neutrale

140

Preußen, und zwar über den Hafen von Memel, abwickelte. Mit dem Auf-schwung ging der Ausbau der Infrastruktur einher. 1861 wurde der Ober-ländische Kanal fertiggestellt, der die oberOber-ländischen Seen mit dem Fri-schen Haff sowie die Städte Elbing, Liebemühl, Osterode, Deutsch Eylau und Saalfeld miteinander verband.

Am 22. Juni 1865 berichtete der Berliner Korrespondent der Londoner

«Times» über die feierliche Eröffnung der privat finanzierten Eisenbahn Tilsit-Insterburg. Unter der Federführung des europäischen Eisenbahnkö-nigs Bethel Henry Strousberg (1823-1884), der aus dem masurischen Nei-denburg stammte, beteiligten sich erstmals englische Investoren an einem Eisenbahnprojekt in Deutschland.21 Die geladenen Gäste kamen mit der staatlichen «Ostbahn» von Königsberg nach Insterburg, der bis dahin ein-zigen ostpreußischen Bahnstrecke. Diese hatte bereits 1853 zwischen Ma-rienburg und Königsberg den Betrieb aufgenommen und verband nach Fer-tigstellung der Weichselbrücke bei Dirschau 1857 Berlin mit der ostpreu-ßischen Hauptstadt, 1860 erreichte man schliesslich mit ihr Eydtkuhnen an der russischen Grenze. Auf Privatinitiative erfolgte auch der Bau der ost-preußischen Südbahn Pillau-Königsberg-Rastenburg-Lyck, die 1871 bis zum Grenzort Prostken fertiggestellt werden konnte.

Auch im 19. Jahrhundert erlebte das Land den Zuzug von Fremden.

Inmitten der Forsten Krutinnen und Nikolaiken in der Johannisburger Heide liegen Dörfer, deren Kirchen und Friedhöfe orthodoxe Kreuze tra-gen. Es sind Philipponendörfer, die seit 1830 entstanden. Die Philipponen sind orthodoxe Christen, die sich Mitte des 17. Jahrhunderts von der rus-sisch-orthodoxen Kirche trennten, weil sie die Reformen des Patriarchen Nikon als zu weitgehend empfanden. Da sie am Status quo ante festhielten, bezeichneten sie selbst sich als Altgläubige («Starowjerzi» oder «Staroo-brjadzy»), also als diejenigen, die an der ursprünglichen Lehre festhielten, während ihre Gegner sie als «Raskolniki» (Abtrünnige) beschimpften. Die Altgläubigen waren in den nördlichen Gebieten Russlands weit verbreitet.

Sie duldeten keine ordinierten Priester, sondern wählten aus ihren eigenen Reihen einen tugendhaften Mann in dieses Amt, den «Starik» (Alten), den die masurischen Philipponen als «Pope» bezeichneten. Im 18. Jahrhundert waren die Altgläubigen in Russland starken Verfolgungen ausgesetzt.

Viele wanderten damals nach Polen aus. Mit der dritten Teilung Polens ka-

141

men sie auch in den Herrschaftsbereich Preußens. Mit der Restauration der Verhältnisse gelangten ihre Hauptsiedlungsgebiete im Nordosten Polens 1815 wiederum unter russische Oberhoheit. Daraufhin entschloss sich die altgläubige Gemeinde Glębkirów im Bezirk Augustów unter ihrem Staryk Jasim Borissow, Polen zu verlassen, um weitere Konflikte mit dem russi-schen Regime zu vermeiden.

Friedrich Wilhelm III. lud die Philipponen nach Preußen ein, nachdem Russland sich bereit erklärt hatte, die Erlaubnis zur Ausreise zu erteilen.

Man kann davon ausgehen, dass es dem preußischen Monarchen weniger um den Schutz religiöser Lehrmeinungen ging als vielmehr um tüchtige Kolonisten, die in der Lage waren, die letzten unwirtlichen Waldregionen Masurens urbar zu machen. Per Kabinettsordre vom 5. Dezember 1825 ge-stattete er den Philipponen, sich auf unkultiviertem Land niederzulassen, sicherte ihnen Religionsfreiheit zu und in der ersten Generation die Befrei-ung vom Militärdienst. Zusätzlich billigte man ihnen für den Neuanfang sechs steuerfreie Jahre zu. Die Einwanderung begann schliesslich mit Onufri Jakowlew, der sich am 7. Juni 1830m Masuren niederliess, nach-dem die Verhandlungen mit nach-dem preußischen Fiskus unter Leitung des Forstmeisters Eckert abgeschlossen waren. Die Altgläubigen wurden in zehn Dörfern angesiedelt, und zwar in Eckertsdorf, benannt nach dem preu-ßischen Forstmeister, in Schlösschen, Nikolaihorst, Galkowen, Kadzidlo-wen, Schönfeld, Fedorwalde, Peterhain, Piasken und Onufrigowen. Die Urbarmachung der zugewiesenen Waldgebiete gelang recht zügig. Die Philipponen erwiesen sich nicht nur als gute Bauern, sondern waren auch erfolgreiche Fischer im Krutinnafluss und auf dem Beldahnsee, sie gingen zudem dem Stell- und Radmacherhandwerk nach oder verdingten sich als Tischler und Chausseearbeiter.

Nach Ablauf der Freijahre übte die preußische Regierung jedoch Druck auf die Philipponen aus, sich der Gesetzgebung des Landes zu fügen.

Bis 1842 ist durch die Aufnahme illegal eingereister Glaubensgenossen aus Polen die Zahl der Philipponen auf stattliche 1‘277 angestiegen, aber nach Einziehung des ersten Philipponen zum Militärdienst setzten heftige Pro-teste ein, und es kam zur Rückwanderung ganzer Familien nach Polen, so dass sieben Jahre später nur noch 866 Altgläubige gezählt wurden. Das evangelische Konsistorium in Königsberg gestattete diesen den Bau einer Kirche in Eckertsdorf (1834) sowie einer Holzkirche in Schönfeld (1837).

Auf einer Halbinsel des Dusssees entstand 1847 ein Nonnenkloster, in dem bis vor wenigen Jahren noch zwei Nonnen lebten. In insgesamt elf Dörfern

142

haben Philipponen bis 1945 ihre autarke Lebensform bewahrt. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg blieben sie in ihren Dörfern, so dass in der Johan-nisburger Heide bis heute einige altgläubige Familien anzutreffen sind.

Einwanderer haben das Land zwischen Weichsel und Memel in vieler Hinsicht bereichert, auch kulinarisch, wie die Geschichte des Königsberger Marzipans zeigt. Schweizer Konditoren veredelten die mit den Kreuzzügen um 1300 nach Europa gelangte Süssigkeit, wobei die Graubündener Zuk-kerbäcker als Meister ihres Fachs galten. Im Jahr 1735 gelangte der Bünd-ner Konditor Demeng Bina nach Gumbinnen. Anfang des 19. Jahrhunderts folgte Wilhelm Pomatti aus Caslasegna/Bergell nach Königsberg, wo er 1809 die erste Marzipanfabrik mit eigener Konditorei eröffnete, die spätere

«Hofkonditorei». Die Rezepte der Firma Pomatti gingen auf die Firma Sterkau über. Im Jahr 1900 übernahm Otto Petschliess die Hofkonditorei, die sein Schwiegersohn Ewald Liedtke bis 1945 weiterführte. Wie Pomatti waren die bekanntesten Königsberger Konditoren Schweizer, nämlich Buccella, Caccia, Campell, Countz (Kuntz), Josti, Pedotti, Plouda, Siegel, Steiner und Zappa. Die Tradition des Königsberger Marzipans wird wei-terhin sorgsam gepflegt von Konditoren wie Schwermer und Gehlhaar.22

Der Königsberger Alexander Jung erlag bereits 1828 den süssen Köst-lichkeiten seiner Heimatstadt: «Königsberg ist nicht bloss die Hauptstadt Preußens, Königsberg ist auch die Hauptstadt der Conditoren. Wer kennt nicht den Königsberger Marcipan? Königsberg hat gewiss von allen Städ-ten Europa’s und der Welt die meisStäd-ten Atelier’s aufzuweisen, nicht für can-nelirte, wohl aber für candirte Kunstwerke, für jene aus dem zartesten Zuk-keralabaster sich erhebenden Werke der Plastik, die freilich eben so wenig dem Zahne der Zeit als dem des Mundes lang widerstehen, sondern im ei-gentlichen Sinne an dem Schmelz ihrer eigenen Hingebung an den Ge-schmack versterben. Königsberg hat – cum grano salis – ungefähr so viele Conditoreien als Leipzig Buchhändler.»23

Dass Ostpreußens Küche im regen Austausch mit den ostmitteleuro-päischen Nachbarn stand, zeigt die Tradition des «Königsberger Fleck», der über die Hauptstadt hinaus in der Provinz bekannt war. Russen, Polen und Litauer, die jetzigen Bewohner Ostpreußens, kennen ihn etwa als

«Flaki». Das Armeleuteessen bestand aus kleingehacktem Rindermagen (Kuddeln), den man stundenlang in riesigen Kesseln kochte und mit Majo-ran, Essig und Mostrich würzte. Karl Rosenkranzh (1805-1879), der 1833

143

als Liberaler auf den Kantschen Lehrstuhl für Philosophie berufen wurde und im ostpreußischen Geistesleben eine wichtige Rolle spielte, schrieb über das Gericht unter dem Titel «Die Volksküche»:

«Noch sind viele Fensterladen geschlossen. Die eckeihaften Karren-führer, welche den kostbarsten Dünger aus den Häusern holen, denen es durchweg an ordentlichen Abtritten gebricht, fahren noch mit ihren lang-samen Pferden von Haus zu Haus und lassen zuweilen ihren Ruf: Schütt opp, Schütt opp! erschallen. Die Luft ist noch sehr feuchtkalt. Die Dienst-mägde gehen hin und wieder mit Handkörbchen, mit Tellern zum Bäcker.

Lüderliche, welche die Nacht beim Trunk, beim Spiel oder sonst verbracht haben, schleichen mit gläsernen Augen vorüber. Da wehet durch die Luftt ein so kräftiger, appetitlicher Geruch, dass sie stehenbleiben und sich wohl unter den Haufen Arbeiter mischen, welcher sich jetzt um eine stämmige Frau gesammelt hat, die mehrere Tragkörbe auf dem Pflaster neben sich

Lüderliche, welche die Nacht beim Trunk, beim Spiel oder sonst verbracht haben, schleichen mit gläsernen Augen vorüber. Da wehet durch die Luftt ein so kräftiger, appetitlicher Geruch, dass sie stehenbleiben und sich wohl unter den Haufen Arbeiter mischen, welcher sich jetzt um eine stämmige Frau gesammelt hat, die mehrere Tragkörbe auf dem Pflaster neben sich