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Kulturkampf im katholischen Ermland

Ein altes ermländisches Volkslied vermittelt eine klare Unterteilung:

deutsch gleich evangelisch, polnisch gleich katholisch. Auch wenn damit ein wesentliches Argument der wilhelminischen Polenpolitik bestätigt wird, entsprach das nicht den Tatsachen, denn Polnisch-sprachig waren im katholischen Ermland nur die südlichen Kreise Allenstein und Rössel, während man in den nordermländischen Kreisen Heilsberg und Brauns-berg in Richtung Frisches Haff seit altersher Deutsch sprach:

Roz na zawdy ci môzie Luwoz typo swy glozie, Zes ty Mniemniec, jo Polka Tys Luter, jo Rzymnionka.

(Ein für allemal sage ich dir, behalte das stets im Kopf,

du bist ein Deutscher, ich eine Polin, Du bist ein Luther, ich eine Römerin.)60 Was das Lied zur Verteilung der Konfessionen sagt, ist indes zutreffend.

Das Ermland empfanden im wilhelminischen Reich viele ultrakonservative Protestanten als «Stachel im Fleisch» Ostpreußens, da es durch die lange Zugehörigkeit zur polnischen Krone den katholischen Glauben im Herzen des evangelischen Ostpreußen bewahrte und regionale Traditionen länger lebendig hielt. Insbesondere die Bischöfe, die einstmals auch die Landes-herrschaft innegehabt hatten, sorgten dafür, dass das Ermland bis 1945 eine ganz eigene preußische Tradition pflegte.

Nach Bischof Ignacy Krasicki (1734-1801), der von den Polen bis heute als grosser Dichter der Vorromantik verehrt wird, gelangten aus-schliesslich deutsche Amtsträger auf den ermländischen Bischofsstuhl.

Der heftige konfessionelle Antagonismus hielt seit den Tagen der Refor-mation unverändert an. Erst unter Friedrich Wilhelm IV. wurde die antika-tholische preußische Politik vorübergehend zurückgenommen, so dass un-ter Bischof Joseph Ambrosius Geritz (1783 bis 1867) erstmals Seelsorge in der Diaspora Ostpreußens ausserhalb des Hochstifts Ermland möglich wurde. In dieser Zeit entstanden mit Hilfe des 1852 gegründeten Adalber-tus-Vereins fünfzehn katholische Seelsorgestationen in ganz Ostpreußen.

Die preußisch-protestantischen Beamten blickten allerdings weiterhin arg-wöhnisch auf die als propolnisch und ultramontanistisch geltende katholi-sche Seelsorge. Der aus dem Rheinland stammende Bischof Philippus Kre-

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mentz (1819-1899) hat dann das katholische Kirchenwesen Ermlands nach westlichem Muster gründlich modernisiert und es für die politischen und religiösen Herausforderungen der neuen Ära gerüstet.

Die ermländische Variante des Kulturkampfs erwuchs aus dem Braunsberger Schulstreit von 1871. Bischof Krementz hatte auf dem Kon-zil von 1870 zur kleinen Minderheit derjenigen gehört, die das Unfehlbar-keitsdogma des Papstes ablehnten, sich schliesslich aber doch zu dessen Annahme durchrangen. Wesentliche Teile der Braunsberger Professoren-schaft und des Bildungsbürgertums wollten auf den päpstlichen Kurs je-doch nicht einschwenken, so dass Bischof Krementz, um der Rebellion Herr zu werden, den Religionslehrer Paul Wollmann und einige andere Braunsberger exkommunizierte. Das löste einen Konflikt mit der säkularen Staatsmacht aus, deren Vertreter die Folgen für die Betroffenen nicht hin-nehmen wollten. Der staatliche Anspruch auf uneingeschränkte Kirchen-hoheit war jedoch ebenfalls nicht mehr durchzusetzen. So wurde Bischof Krementz wegen Nichtbeachtung der Gesetze vom 11. Mai 1873 zwar mehrmals zu Geldstrafen, jedoch nicht zu Gefängnishaft verurteilt und die angestrebte Amtsenthebung durch Kaiserin Augustas Protektion verhin-dert. Dennoch mischte der Staat sich zunehmend durch einseitige Förde-rung der Altkatholiken in die Interna der katholischen Kirche des Ermlands ein. Konkret sah das so aus, dass etwa in Alt Wartenburg, Kreis Allenstein, 1875 die Pfarrkirche geschlossen und versiegelt wurde. Kirchensiegel so-wie Kirchenbücher wurden vom Landratsamt beschlagnahmt und erst 1883 dem Ortspfarrer wieder ausgehändigt. Auch willkürliche Massnahmen wie die Schliessung des ermländischen Priesterseminars in Braunsberg (1876-1886) erschütterten das kirchliche Leben und führten dazu, dass Ostpreu-ßens Katholiken sich Reich und Staat zunehmend entfremdeten.

Bischof Krementz kehrte 1885 ins rheinische Köln zurück. Zu seinem Nachfolger wählte das Domkapitel zu Frauenburg 1886 den ermländischen Bauernsohn und Professor für Kirchengeschichte und Kirchenrecht An-dreas Thiel. In Reaktion auf den Kulturkampf blühte während seiner Amts-zeit das katholische Vereinsleben auf, das so gut wie alle gesellschaftlichen Bereiche umfasste. Der 1882 gegründete «Ermländische Bauernverein», der bald Ortsvereine in allen Kirchspielen unterhielt, entfaltete seine reli-giöse und wirtschaftspolitische Tätigkeit in Form von Genossenschaften

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und landwirtschaftlichen Schulen. Der Aufschwung des politischen und sozialen Katholizismus schlug sich auch in der vornehmlich für das südli-che Ermland mit seiner Polnisch-sprachigen Bevölkerung bestimmten Presse nieder. Viele der Presseorgane, etwa «Nowiny Warmiriskie» (1890/

91), «Allensteiner Volkszeitung» (1891-1893), «Allensteiner Volksblatt»

(1891-1935) und «Warmiak» (1893-1905), gehörten dem Zentrum oder standen dieser Partei zumindest nahe.

Nachdem der Kulturkampf endlich beigelegt war, führte die allmähli-che Integration der deutsallmähli-chen Katholiken in die nationalstaatliallmähli-che Gesell-schaft zur Entfremdung von den polnischen Glaubensgenossen. Der Pol-nisch-sprachige Anteil der Bevölkerung des südlichen Ermland belief sich nach offiziellen preußischen Statistiken 1886 auf 50 Prozent, 1891 auf 44 und 1901 auf 47 Prozent.61 In den Kreisen Allenstein und Rössel stellten diese Ermländer ein politisches Gewicht dar, das es zu beachten galt, zumal einige von ihnen im nationalen Sinn propolnisch dachten. Infolge der zu-nehmenden Diskriminierung der Polnisch-sprachigen Ermländer und ver-stärkt durch den Kulturkampf entstanden polnische Vereine. Die kleine propolnische Minderheit schuf sich 1886 mit der «Gazeta Olsztynska» ein Sprachrohr, das bis 1939 überdauerte. Bei der Reichstagswahl 1893 erhielt der polnische Kandidat Pfarrer Anton Wolszlegier im ersten Wahlgang im Wahlkreis Allenstein-Rössel die meisten Stimmen. Damit ging der Wahl-kreis – ein schwerer Schlag für die Deutsch-sprachigen Katholiken – dem Zentrum kurzzeitig verloren.

Letztlich blieben die propolnischen Ermländer jedoch stets eine Min-derheit, auch wenn die Muttergotteserscheinungen von Dietrichswalde ih-nen einigen Auftrieb verschafften. Dietrichswalde im Kreis Allenstein ent-wickelte sich 1877 zu einem Wallfahrtsort der Polnisch-sprachigen Bevöl-kerung, nachdem dort zwei Kindern die unbefleckte Jungfrau erschienen war und sich ihnen in polnischer Sprache offenbart hatte. Das trug erheb-lich zur Mystifizierung von Dietrichswalde bei und wies dem Ort eine wichtige Rolle im Kulturkampf zu. Am 8. September 1877 trafen dort fünf-zigtausend Pilger ein, was die preußischen Behörden in höchste Alarmbe-reitschaft versetzte.

Der Polnisch-sprachige Volksdichter Andrzej Samulowski (1840 bis 1928) hat sich zeitlebens dem Wunder von Dietrichswalde gewidmet, dem er eine enge Beziehung zur polnischen Volksseele zuschrieb. So heisst es in «Das erste Lied von der Heiligsten Jungfrau Maria in Dietrichswalde»:

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Neben Heiligelinde ist Dietrichswalde bis heute der bekannteste Wallfahrtsort Ostpreußens. Seit 1967 darf das Gnadenbild von Dietrichswalde die päpstlichen Kronen führen, 1970 erhielt die Wallfahrtskapelle von Papst Paul VI. den Ehrentitel «Basilica mi-nor».

Bald nach Sonnenuntergang Ein wunderbarer Stern erstrahlte, Über Ermlands Erde aufgegangen, Um uns hell zu leuchten.

Diese Nachricht wie ein Wunder Breitet sich schnell aus im Volk, Überall hört man die Kunde:

In Ermland gibt es neue Wunder.

Dietrichwalde, glücklich dieses Dorf, Denn dieser Stern – die Mutter Gottes – Ist auf dem Ahorn dort erschienen Den Gläubigen zum Schutze.62

Die traditionellen Wallfahrten nach Heiligelinde verbanden deutsche, pol-nische und litauische Katholiken, erhielten aber an der Wende zum 20.

Jahrhundert vor allem Bedeutung für die polnische Volkskultur und Iden-tität. Die demonstrative katholische Frömmigkeit nach der Zeit des Kultur-kampfes und die konfessionellen Spannungen, die vor allem nach 1890 im

«Ostmarkenkampf» wieder auflebten, haben im «heiligen Ermland» ein Regionalbewusstsein ausgeprägt, das das Jahr 1945 überdauern sollte und sich bis heute in den ermländischen Vertriebenenvereinen, die stark kirch-lich geprägt sind, niederschlägt. Das Ermlandlied aus der Zeit des Kultur-kampfes, das in mehreren Fassungen überliefert ist, bringt diese regionale Eigenart deutlich zum Ausdruck:

Mein Ermland will ich preisen, wo ich auch immer bin;

mein Leben soll beweisen, dass ich Ermländer bin.

Wir bleiben fromm und gut, bewahren treuen Mut.

Mein Ermland will ich preisen, wo ich auch immer bin.63

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«Als Nation dem Untergang geweiht»: die Kuren

Die geologische Eigenart der Kurischen Nehrung hat zu allen Zeiten Phan-tasien erblühen lassen. In der baltischen Mythenwelt Litauens wird ihre Entstehung auf die Riesin Neringa zurückgeführt: «Vor langer Zeit waren die Ostsee und der Fluss Memel noch nicht durch die schmale Landzunge getrennt, die man heute Nehrung nennt. Wenn der Meeres- und Windkö-nig, ein neunköpfiger Drache, über das Wasser dahinbrauste und der Sturm die Wellen hoch auftürmte, versanken die Fischerkähne im tobenden Was-ser. Tief drang das Meer in das Flussbett der Memel ein, vermischte sich mit ihr und überflutete die Äcker und Wiesen an den Ufern. Die Not der Menschen, ihre Ohnmacht vor den Naturgewalten dauerte die Riesin Neringa. Mutig nahm sie den Kampf auf gegen den Drachen und sein Zer-störungswerk. Aus ihrer Schürze schüttete sie einen Damm aus Sand auf, der fortan die Memel von der Ostsee trennte. Die Kurische Nehrung war entstanden. Die Fischer konnten nun ohne Gefahr für Leib und Leben mit ihren Kähnen hinausfahren in die stille Bucht, über die der Drache seine Gewalt verloren hatte, und unbeschadet heimkehren mit ihrem reichen Fang. Nicht länger vermochten die Meereswellen die Siedlungen der Men-schen zu erreichen, die der Landzunge zwiMen-schen Meer und Memel aus Dankbarkeit den Namen ihrer Retterin, Neringa, gaben.»64

Obwohl die Bewohner der Nehrung unter dem Schutz der Riesin Neringa standen, forderten das Meer, das Wetter und die wandernden Dü-nen immer wieder Opfer. Das harte Leben hat bei den Nehrungsfischern ein Gefühl der schicksalhaften Verbundenheit mit der Natur entstehen las-sen. Die Menschen auf dem schmalen Streifen zwischen Haff und Meer wussten stets um ihre Gefährdung. Ludwig Rhesa, geboren 1776 in Karwaiten auf der Kurischen Nehrung, hat seinem im Sande versunkenen Heimatdorf das Poem «Carwitas Gräber» gewidmet und darin den beson-deren Mikrokosmos der Halbinsel eingefangen:

Hier deckt ein Berg von flügem Sande Der hohen Eichen Wipfel zwang, Der Väter Gruft auf ödem Strande Wo sonst der Ernte Sichel klang – Wo sind die Lieder, die hier klangen?

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Wo ist des Dörfchens Reigentanz?

Wo sind die Hirten, die hier sangen?

Wo ist die Braut im Rosenkranz? – Hier steh ich auf dem öden Hügel Und wein auf meiner Väter Sand, Wann kommt der Stunde Rosenflügel Und trägt mich über Meer und Land?65

Louis Passarge, der die Kurische Nehrung bereiste, beschrieb die Spuren des versandeten Kirchdorfs Kunzen: «Mitten in der Einsenkung der Dünen, welche nach Osten flacher und flacher werden und sich gleichsam in die Ebene verlaufen, trifft der Reisende auf die blossgelegten Trümmer des einstigen Dorfes Kunzen. Die Physiognomie eines solchen verwehten Dor-fes hat nichts gemein mit den grossen Ruinenstätten der Wüsten Mesopo-tamiens, mit Palmyra oder gar mit dem verschütteten Pompeji. Die Bewoh-ner haben vor dem langsam einbrechenden Verderben nicht blos ihre Hab-seligkeiten gerettet, sondern auch ihre bedrohten Hütten, die fast alle nur aus Bohlen erbaut und mit Rohr bedeckt waren, abgebrochen und an einer andern Stelle wieder aufgerichtet. So trifft der Wanderer hier nichts weiter an als die Spuren eines einstigen menschlichen Daseins ... Gleich hinter der Kirchenstelle im Osten liegt das ganze Sandfeld mit Menschenschädeln und gebleichtem Gebein bedeckt und bezeichnet den einstigen Kirchhof Kunzens. Die Sandwoge, welche das Dorf und die Kirche vernichtet, hat auch den Gottesacker begraben. Aber die Düne ist weitergewandert, der Wind hat das Leichenfeld aufgewühlt, und nun liegen die traurigen Reste entblösst und treiben mit dem Sturme und dem beizenden Sande.» 66

In der Abgeschiedenheit der kargen Nehrung konnten die Menschen bis 1945 trotz des zunehmenden Fremdenverkehrs ihre ethnischen Eigen-arten bewahren. In den Kuren meinte man die letzten Vertreter des prussi-schen Volkstums zu erkennen. Auf der Nehrung sprach man Kurisch, einen Dialekt des baltischen Lettisch, um den sich viele Mythen rankten. So be-richtet beispielsweise Christoph Hartknoch 1684: «Das Curische Haff hat den Nahmen von dem Curlande ... Oder es wird auch das Curische Haff genant, weil es Nordenwärts nach Curland zugehet: oder endlich, weil die Leute, die an demselben Haff wohnen, schon der Curischen Sprache sich meistentheils gebrauchen.»67

In Wirklichkeit handelte es sich bei den Einheimischen um eingewan-

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derte Letten, deren kurisches Stammgebiet in Kurland an der Rigaer Bucht lag. Die Kuren selbst waren schon 1422 nach dem Frieden vom Melnosee zum grossen Teil längs der Küste nach Süden gezogen. Sie kamen bis ins Samland, wo sie sich als Fischer niederliessen. Während die Litauer als Bauern in die dünn oder noch gar nicht besiedelten nordöstlichen Wildnis-gebiete vordrangen, waren die Kuren auf der Nehrung und an der Küste keine Bauern, sondern Fischer. Das unterscheidet die kurische Einwande-rung fundamental von der litauischen Migration nach Preußen. Aus Amts-rechnungen des 17. Jahrhunderts weiss man, dass kurische Fischer durch das Memeler Tief in die Haffregion gelangten, in Memel eine Abgabe für die Ausübung der Fischerei leisteten und wieder heimkehrten. Im Jahr 1541 zahlten nicht weniger als 162 Fischer aus Windau, Kandau und ande-ren Orten Kurlands den kurischen Fischerzins. Diejenigen, die blieben und sesshaft wurden, haben sich im Laufe der Jahrhunderte assimiliert, nur auf der einsamen Kurischen Nehrung sowie in Teilen des Memellandes gab es bis 1945 noch einige hundert Menschen kurischer Muttersprache. Das Neh-rungskurische wird sprachwissenschaftlich als selbständige baltische Spra-che betrachtet, die sich unabhängig von ihrem historisSpra-chen Ursprung in en-gem Kontakt mit ihren Nachbarsprachen Deutsch und Litauisch entwickelt hat. Richard Pietsch, Chronist und kurischer Muttersprachler, schätzte, dass 139 Familien in Nidden, 45 in Preil, 30 in Perwelk sowie 43 in Schwarzort bei Kriegsende auf der Nehrung noch kurisch sprachen.68

Das Interesse der Letten an den Bewohnern der Kurischen Nehrung setzte ein mit dem nationalen Erwachen in Lettland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.69 Erstmals konnte man 1878 unter der Überschrift

«Latviesi Prüsijä» in der Zeitung «Baltijas Vestnesis» etwas über die Kuren lesen. Lettische Forscher wie der Literaturwissenschaftler und Volkskund-ler Ludis Berzins, der 1898 einige Zeit auf der Nehrung verbrachte, wid-meten sich dem Nehrungskurisch. Der Wert von Berzins’ erst 1933 publi-zierten Erkenntnissen liegt darin, dass die Nehrungskuren und ihre Sprache aus dem Blickwinkel eines Letten betrachtet wurden. Viele Letten hat über-rascht, dass sie sich problemlos mit den Bewohnern der Nehrung verstän-digen konnten, und die Kuren waren davon überzeugt, dass ihre lettischen Gäste «kurisch» sprachen. Ein Niddener, so Berzins, habe sogar gesagt:

«Ihr seid dort doch alle dieselben Kuren wie wir.»

Aber es gab zweifellos Eigenarten, die die Menschen auf der Nehrung von ihren Nachbarn unterschieden. So fing man auf der Nehrung seit alters-

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her Krähen, da die sandigen Dünen kaum Möglichkeiten zur Tierhaltung boten und sonst kaum Fleisch auf den Tisch kam. Besonders eigentümlich und fremd mutete die Tötungsart durch einen Biss in den Kopf an. Gebis-sene Krähen schmeckten angeblich besser als geschosGebis-sene, da die Hirn-schale beim Biss nur leicht eingedrückt wurde. Der weltbekannte Ornitho-loge Johannes Thienemann, der die Vogelwarte Rossitten begründete, schrieb dazu in seinen Erinnerungen: «Nun gebe ich ohne Weiteres zu, dass es ästhetischere Anblicke gibt als einen Krähen beissenden Nehrungsmen-schen, aber diese eigenartige Sitte der Eingeborenen ist doch ein Stückchen Urwüchsigkeit, die der modernen Zeit leider immer mehr verlorengeht und die so recht zu unserer rauhen Kurischen Nehrung passt.»70

Auch die Kurenwimpel auf den Fischerkähnen waren eine Besonder-heit und gelangten zu einiger BekanntBesonder-heit. Um bereits aus grösserer Ent-fernung erkennen zu können, wer unrechtmässig fischte, verordnete die kö-nigliche Regierung zu Königsberg die Kennzeichnung der Fischereikähne durch Farbtafeln am Mast. Die Verordnung vom 26. Juni 1844 teilte die Farben nach Ortschaften auf. Die Orte an der Ostküste des Haffs führten in ihren Wimpeln die Farben Weiss und Rot, die an der Südküste Blau und Gelb und die Dörfer auf der Kurischen Nehrung die Farben Schwarz und Weiss. Im Laufe der Zeit entwickelte sich mit den Tafeln zur Kennzeich-nung ein reger künstlerischer Wettbewerb.

Nach und nach entdeckten immer mehr Menschen die einzigartige Schönheit der Kurischen Nehrung. In der wilhelminischen Zeit kamen re-gelmässig Sommergäste, die insbesondere in Nidden und Schwarzort Ur-laub machten. Seit den 1890er Jahren zogen Maler der Königsberger Aka-demie, aus Berlin und Dresden nach Nidden und bildeten beim Gastwirt Biode eine Künstlerkolonie. Zu nennen sind Karl Schmidt-Rottluff (1884-1976, «Sommer»), Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938), Lovis Corinth (1858-1915, «Friedhof in Nidden»), Oskar Moll (1875-1947), Ernst Bi-schoff-Culm (1870-1917) und Ernst Mollenhauer (1892-1963), der Blödes Schwiegersohn wurde. Seit dem Sommer 1909 zählte auch Max Pechstein (1881 bis 1955) zu den Besuchern Niddens, wo während der Sommerur-laube seine Bilder «Sommer in den Dünen», «Frauen am Strand» sowie

«Fischerboote» entstanden. Zu den Malern gesellten sich schliesslich die Schriftsteller Thomas Mann und Carl Zuckmayer. Sie alle konnten über die Kurische Nehrung wandern und der Natur ganz nah sein.

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Krähen dienten auf der kargen Nehrung als willkommene Ergän-zung des Speisezettels. Der Krähenfang mit Netzen und die Tötung der Vögel durch einen Biss war bei den Kuren noch bis 1945 ver-breitet. Johannes Thienemann, der weltbekannte Ornithologe der Vogelwarte Rossitten, hat davon berichtet. Der Forscher zeichnete sich dabei durch kulinarische Aufgeschlossenheit aus: «Von den Leuten hier werden die Krähen fast ausschliesslich gekocht: ‚mit Kumst gekocht*, und dann sitzen Vater und Mutter am Tisch und freuen sich über die Abwechslung im Küchenzettel, der sonst meist Fische und Kartoffeln aufweist, und die Kleinen drum herum jedes einen Krähenschinken nagend – ein echtes Nehrungsbild! Was nicht gleich zur Verwertung gelangt, wird für den Winter eingepö-kelt, und die Federn wandern in die Betten ... Wie schmecken Krä-hen? Gut! Man muss nur die Bürzeldrüse abschneiden, während Abziehen der Haut nicht anzuraten ist, da jeder abgezogene Vogel viel von seinem Werte einbüsst. Gepökelte Krähen schmecken mir nicht. Früher assen wir selbst mehr der Wissenschaft halber Krä-hen, aber jetzt nach dem Kriege finden sie sich in jeder Zugzeit mehrmals auf unserer Tafel ein, besonders wenn wir im Ulmen-horst wohnen.»

Die Kurenwimpel an den Fischerbooten, den «Kurenkähnen» oder

«Keitelkähnen», waren kunstvoll geschnitzte Holzwimpel, die far-benfroh den Heimathafen des Bootes von Ferne anzeigten. Einige dieser Kähne, die so typisch für das Kurische Haff waren, liegen hier vor der Hohen Düne bei Nidden. Die gewaltige Sanddüne reicht direkt an das Ufer des Kurischen Haffs heran. Wilhelm von Hum-boldt schrieb von einer Reise nach Memel an seine Frau Karoline über die Hohe Düne: «Die Kurische Nehrung ist so merkwürdig, dass man sie eigentlich ebensogut als Spanien und Italien gesehen haben muss, wenn einem nicht ein wunderbares Bild in der Seele fehlen soll. Ein schmaler Strich toten Sandes, an dem das Meer un-aufhörlich auf einer Seite anwütet, und den an der andern eine ru-hige grosse Wasserfläche, das Haff, bespült. Die ödesten Sandhü-gel, die schrecklichsten traurigsten Kiefern, die ganze Stunden lang, so weit man sehen kann, bloss aus dem Sande, ohne einen einzigen Grashalm emporwachsen, und nur oben durch die Luft zu leben scheinen, eine Stille und Leere selbst von Vögeln auf dem Lande.»