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Die Grosse Pest 1709 bis 1711

Ostpreußens Bevölkerung erlebte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhun-derts grosses Leid. Neben den schweren Lasten des Krieges von 1656/57 setzte den Bauern die Unterdrückung zu, die so weit ging, dass man sie

«wie Zugvieh» vermietete.13 Doch kaum hatte sich das Land zu Beginn des 18. Jahrhunderts von den verheerenden Verwüstungen des «Tatarenein-falls» erholt, da brach über Ostpreußen die Grosse Pest der Jahre 1709 bis 1711 herein und entvölkerte ganze Landstriche.

Die Pest hatte leichte Beute, denn die körperliche Verfassung der bäu-erlichen Bevölkerung war erbärmlich. Missernten und drückende Abgaben lasteten auf den Schultern der einfachen Leute, während der Adel von allen Abgaben befreit war. Da die Steuern auch in der Krisenzeit nach dem Krieg in unverminderter Höhe eingefordert wurden, gerieten die Bauern durch schlechte Ernten und Epidemien derart in Bedrängnis, dass viele schliess-lich in das nahe gelegene Polen flohen. Ende des 17. Jahrhunderts erbrach-ten die Einwohner Ostpreußens, die 38,4 Prozent der Gesamtvölkerung Brandenburg-Preußens stellten, nur noch 16,4 Prozent der gesamtstaatli-chen Steuerleistung. Der stetige Rückgang führte dazu, dass dem Einzel-nen noch höhere Steuerlasten aufgebürdet wurden und die bäuerlichen Le-bensbedingungen sich noch mehr verschlechterten.14 Die Amtshauptleute gingen mit unnachgiebiger Härte vor und erhöhten die Steuerforderungen zwischen 1700 und 1708 um 65 Prozent.

Im Jahr 1707 starben im Amt Tilsit 808 Menschen, im Herbst des fol-genden Jahres erreichte die Pest das Amt, und es waren bereits 6‘640 Tote zu beklagen. 1710, als sie ihren Höhepunkt erreichte, erlagen 17‘226 Men-schen der Epidemie. Der harte Winter 1708/09 hatte die Saat völlig ver-nichtet, so dass bereits Anfang 1709 Hungertyphus und Ruhr auftraten. In Ostpreußen starben zwischen 1709 und 1711 etwa 200’000 bis 245’000 Menschen, davon allein 128’000 in den vier litauischen Ämtern Insterburg, Tilsit, Memel und Ragnit. Bei einer Gesamtzahl von etwa 600’000 Ein-

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wohnern bedeutete das einen Bevölkerungsverlust von dreissig bis vierzig Prozent, der höchste in der Geschichte Ostpreußens.15

Die Verluste wiesen in den einzelnen Ämtern grosse Unterschiede auf.

Im masurischen Hauptamt Rhein starben 6‘789 Menschen an der Pest, während das Hauptamt Seehesten nur 677 Tote zu beklagen hatte. In der Stadt Lyck raffte die Seuche 1‘300 Bewohner hin, in Angerburg 1‘111. Die Kirchspiele Angerburg, Benkheim und Kutten beklagten 3‘229, 2‘115 und 1‘372 Opfer. In Lötzen gab es nur 119 Überlebende und 800 Pesttote. Der aus Masuren stammende Königsberger Gelehrte Pisanski berichtet 1748 in seiner «Collectanea zu einer Beschreibung der Stadt Johannisburg in Preu-ßen», dass die Pest in Johannisburg durch einen Geisteskranken verbreitet worden sei, zunächst eingedämmt werden konnte, doch dann 1710 erneut wütete:

«Aber im folgenden 1710ten Jahr brach sie abermals mit Heftigkeit aus und brachte der ueberbliebenen Bevölkerung, darunter beide Prediger, beide Lehrer der Schule und die meisten Mitglieder des Magistrats in das Grab. Die Stadt war von Menschen so entleeret worden, dass der Markt ganz mit Gras bewachsen war, und überhaupt nur vierzehn Bürger am Le-ben blieLe-ben.»16

Nach amtlichen Listen starben in den vier Ämtern Natangens von 1709 bis 1711 mehr als neuntausend Menschen an der Pest.

Pesttote in den vier Ämtern Natangens17

1709 1710 1711 gesamt

Dass die Pest in Ostpreußen auf soviel Armut stiess, hat sie zu dieser Ka-tastrophe werden lassen. Es war der Preis, den das Volk für den Traum der preußischen Kurfürsten und Könige vom absolutistischen Staat in Glanz und Glorie zahlte. Fernab von Königsberg, Berlin und Potsdam legten die Steuerbehörden den ohnehin arg gebeutelten Ostpreußen die Daumen-schrauben an, damit die absolutistischen Residenzstädte sowie die grossen Paläste des ostpreußischen Adels wie Schlobitten, Schlodien, Friedrich-stein und Steinort ihre Pracht entfalten konnten. Durch Missernten und Schicksalsschläge liessen sich die staatlichen und adligen Steuereintreiber

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Im 17. und 18. Jahrhundert nahm die Verarmung der Bauern in dem Masse zu, wie der Reichtum des ostpreußischen Adels wuchs. Über-all ragten bald prächtige Schlösser und Gutshäuser empor, die ein neues Standesbewusstsein zum Ausdruck brachten. Man wetteiferte geradezu um den prächtigsten Bau und engagierte die besten Archi-tekten der Zeit. Das Schloss Friedrichstein, Kreis Königsberg-Land, liess Otto Magnus Dönhoff 1709 bis 1714 von dem Baumeister John de Collas nach Plänen von Jean de Bodt errichten. Es befand sich bis 1945 im Besitz der Grafen Dönhoff und war eines der grossar-tigsten Schlösser Ostpreußens. Marion Gräfin Dönhoff hat in ihren Erinnerungen vom Leben auf diesem ostpreußischen Adelssitz er-zählt. Im Krieg wurde das Gut ein Raub der Flammen, die Ruine trug man später ab. Von der einstigen Pracht blieb nur die kopflose Neptunfigur, die heute vor der Königsberger Universität steht.

nicht erweichen: Wer nicht zahlte, verlor seinen Hof durch Pfändung oder landete im Kerker. Einflussreiche Freibauern gerieten in die völlige Ab-hängigkeit ihrer Grundherren, gleichgültig ob Landesherr oder Adliger.

Und nicht nur der Bauer, auch seine Frau und seine Kinder wurden zur Fronarbeit herangezogen. Wer konnte, der floh. Krieg, Pest und Landflucht bluteten die ostpreußischen Ämter derart aus, dass schliesslich ganze Dör-fer wüst lagen.

Friedrich Wilhelm I., der 1713 auf den Thron gelangte, gebot dieser fatalen Entwicklung durch einschneidende Reformen Einhalt. Um Amts-missbrauch und adlige Vetternwirtschaft zu unterbinden, schuf der König ein Generalfinanzdirektorium in Berlin, dem fortan der gesamte Staatsbe-sitz einschliesslich der Domänen und Schatulldörfer unterstand. Mit dieser Zentralbehörde konnte die Effizienz der preußischen Verwaltung erheblich gesteigert werden. Der König widmete sich mit grossem Elan der Wieder-besiedlung der durch Krieg und Pest entvölkerten Landschaften Ostpreu-ßens.

Dazu war zunächst eine Steuerreform nötig. Bisher zahlte jeder Grund-besitzer eine pauschale Steuer für eine Hufe (etwa 67 Morgen). Die adligen Grossgrundbesitzer konnten dabei dem Fiskus viele Hufen unterschlagen, weil die staatlichen Kontrollinstanzen mit adligen Standesgenossen besetzt waren, die aus ständischer Gefälligkeit bei der Steuererhebung willig einige Hufen übersahen. Bei den Kleinbauern hingegen trieben dieselben Vertre-ter des Fiskus mit kompromissloser Härte Abgaben für jede Hufe ein. Zu-sätzliche Kopf- und Viehsteuern ruinierten die armen Bauern vollends.

Für sein ehrgeiziges Reformprojekt gewann Friedrich Wilhelm I. mit Karl Heinrich Truchsess von Waldburg einen führenden Vertreter des ost-preußischen Adels, den er 1715 zum Präsidenten der Königsberger Kriegs-kammer berief, der obersten Steuerbehörde der Provinz. Waldburg konzen-trierte sich auf die Reformierung des Steuersystems, wobei die kleinen Bauern eine gerechtere Behandlung erfahren sollten. Wie Waldburg er-kannte auch der König, dass bäuerlicher Bankrott und Landflucht dem Staat langfristig weniger Steuereinnahmen einbrachten als gesunde Höfe, denen der Fiskus in Notlagen entgegenkam. Man musste also nach einer für beide Seiten zufriedenstellenden Lösung suchen.

Als Vorsitzender der Steuerreform-Kommission plädierte Waldburg dafür, die Bodengüte zur Bemessungsgrundlage der Steuererhebung zu ma-chen. Dieses bauernfreundliche Ansinnen rief den Widerstand seiner adli-

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Der Masurische Kanal sollte einmal die grossen masurischen Seen über den Pregel mit der Ostsee verbinden. Dieses ehrgeizige Was-serbauprojekt im Herzen Ostpreußens haben die Landesherren seit dem späten 17. Jahrhundert immer wieder aufgegriffen, doch es wurde nie vollendet. Das Bild zeigt ein Teilstück bei Georgenfelde im heute russischen Teil Ostpreußens.

gen Standesgenossen hervor, die Waldburg fortan abgrundtief verachteten.

Dieser liess sich jedoch nicht beirren, sondern erreichte schon im ersten Jahr seiner Amtszeit die Einsetzung einer staatlichen Hufenschosskommis-sion, die das Land neu vermass, womit der Unterschlagung steuerpflichti-ger Hufen durch den Adel ein für allemal ein Riegel vorgeschoben wurde.

Für die ostpreußische Gesamtprovinz kam man zu einem erstaunlichen Re-sultat: 35’000 Hufen – das entspricht 5‘878 Quadratkilometern – konnten nun zusätzlich steuerlich veranlagt werden. Und auch in Bezug auf die Steuererhebung nach Bodengüte setzte Waldburg sich durch. Von 1722 an stellten die Domänenkommissionen die lokalen Bodenklassen fest. Nach Abschluss der Bewertungs- und Vermessungsarbeiten führte Waldburg eine einheitliche Generalhufensteuer – das Generalhufenschoss – ein, die sich allein nach der Bodengüte bemass.

Insgesamt zeigten Waldburgs Agrar- und Steuerreformen greifbare Er-folge. Die landwirtschaftliche Produktion stieg deutlich. Auch der Wild-wuchs im Pachtwesen wurde unterbunden durch eine Generalpacht für staatliche Domänen mit nachvollziehbaren Regularien. Üblicherweise kam es nun zum Abschluss von Sechsjahresverträgen, wobei die Pächter fortan auch vermögende Bürger sein konnten. Der Fiskus verlangte von ihnen als Sicherheit eine hohe Kaution, wodurch vorsätzlicher Missbrauch verhin-dert werden sollte. Unter verlässlichen Bedingungen bot die neue Ordnung Raum für eigenverantwortliches Wirtschaften und ein hohes Mass an Ge-staltungsmöglichkeiten. Von diesem effizienteren Pachtwesen gingen we-sentliche Impulse für die Modernisierung der Landwirtschaft aus, und es entstand durch Domänenpächter bürgerlicher Herkunft die neue gesell-schaftliche Schicht der nichtadligen Gutsherren.

Der Fiskus stellte den Neusiedlern kostenlos Land zur Verfügung. In Erbverschreibungen – den Assecurationes – garantierte man ihnen zahlrei-che Privilegien. Fortan tauchten diese Siedler als Assekuranten in den staatlichen Steuerlisten auf. Viele waren sogenannte Hochzinser, denen das Land zwar nicht gehörte, die aber ein erbliches Nutzungsrecht vorweisen und von der Möglichkeit Gebrauch machen konnten, sich von Scharwerks-diensten gegen ein höheres steuerliches Entgelt (Hochzins) freizukaufen.

Neben Kölmern, Assekuranten und Hochzinsern – der bäuerlichen Ober-schicht – gab es Kossäten und Eigenkätner auf kleinen Landparzellen, die aus dem Übermass bei der Neuvermessung der Dorfgemarkungen entstan-den. So gelangten bis dahin Besitzlose zu eigenen, wenn auch kleinen

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Grundstücken. Im Kammerbezirk Königsberg waren 51,3 Prozent des Bo-dens in landesherrlichem, 42,2 Prozent in adligem und 6,5 Prozent in städ-tischem Besitz, im Kammeramt Litauen 75 Prozent landesherrlicher, 22 Prozent adliger und 3 Prozent städtischer Grund.

Obwohl die Hufenschosskommission bei der Landneuvermessung er-kannte, dass die althergebrachte Dreifelderwirtschaft unrentabel war, hielt man hartnäckig an der traditionellen Feldbestellung fest. Dieser lag ein ein-faches System zugrunde: Jede Gemarkung gliederte sich in die Flurstücke Wintersaat, Sommersaat und Brache, die turnusmässig wechselten. Der Flurzwang liess den Bauern keinerlei Spielraum für eigene Initiativen, wo-durch jeder Fortschritt unterbunden wurde. Die Vermessungskommission stellte Anfang des 18. Jahrhunderts fest, dass durchschnittlich neunzig Pro-zent (!) der Gemarkungen aus Wald, Ödland und Bruch bestanden, also nicht bestellt wurden.

Wenn sich bei den Anbau- und Bearbeitungsmethoden auch wenig än-derte, erlebte das 18. Jahrhundert dennoch eine agrarische Revolution: die Einführung der Kartoffel. Um 1780 trat die goldene Erdfrucht ihren Sie-geszug in Ostpreußen an. Bereits um die Jahrhundertmitte wurde in den Dorfordnungen auf ihren Anbau gedrungen, denn sie stellte eine Bereiche-rung für den kargen Speisezettel der ostpreußischen Familien dar. Ohne sie bestand der Wintervorrat aus braunem Kohl (Grünkohl), trockenen Möh-ren, Feldrüben, Pastinak sowie gesäuertem weissen Kohl (Sauerkraut) und roten Rüben.

Die mühsam errungenen Erfolge in der Landwirtschaft wurden aber stets durch dramatisch ansteigende Abgaben wieder zunichte gemacht. So nötigte Friedrich II. den Ämtern nach 1776 hohe Steuern für den Grauden-zer Festungsbau ab. Als noch Missernten hinzukamen, musste Getreide aus Polen importiert werden. Selbst in Friedenszeiten zerstörte das Militär bäu-erliche Existenzen, da die in den Städten stationierten Einheiten von der umliegenden bäuerlichen Bevölkerung verpflegt werden mussten. Auf re-gionale Besonderheiten nahm der Fiskus wie gewöhnlich keine Rücksicht.

Die Bauern hatten zu festgelegten Niedrigpreisen den Garnisonen Hafer, Heu und Stroh zu liefern und waren zudem während der Sommermonate verpflichtet, Kavalleriepferde in Grasung zu nehmen.18

Die zahlreichen Dörfer im Umkreis der wenigen ostpreußischen Städte waren arm und blieben es. Das lähmte den Urbanisierungsprozess, denn die arme Landbevölkerung konnte das Gewerbe und den Handel der Städte nicht zum Blühen bringen. Ostpreußen blieb ein ausschliesslich

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Die Gemarkungskarte von Skaisgirren entstand im Jahre 1790 als Grundlage zur Beilegung eines Streits, der wegen der Viehtrift über die Pfarrhufen ausgebrochen war. Man sieht sehr gut die Aufteilung der Felder und die dazugehörigen Gehöfte.

Ohne Rücksicht auf örtliche Gegebenheiten haben die Lokatoren die Siedlungsgren-zen abgesteckt und die Felder aufgeteilt. Die Dreifelderwirtschaft war bei derartig langen Feldgrenzen besonders unrentabel.

ländlich geprägter Raum. Seine Städte waren im Vergleich zu denen im westlichen Europa grössere Dörfer. Lange Zeit lebten sie vom Handel an den internationalen Verkehrswegen, die Preußen mit Russland, Litauen und Polen verbanden. Über den Grenzhandel kamen die einzigen Impulse von aussen. Friedrich Wilhelm I. versuchte diesen Handel zu fördern, in-dem er einige masurische Marktflecken – Arys, Bialla, Willenberg und Ni-kolaiken – zu Städten erhob. In Preußisch Litauen waren es 1722 Ragnit und Stallupönen, 1724 Pillkallen und Gumbinnen sowie 1725 Schirwindt und Darkehmen.

Preußische Toleranz,