• Keine Ergebnisse gefunden

Ostpreußens geistesgeschichtliches Vermächtnis

Im heutigen Königsberg, in dem beinahe alle historischen Bezüge zur deut-schen Vorkriegszeit getilgt sind, hat eine Institution selbst die kommuni-stische Zeit unangetastet überdauert: Immanuel Kant. Der Repräsentant ostpreußischer Geistesgeschichte schlechthin hat seine Geburtsstadt fast

112

nie verlassen und sie als «schicklichen Platz zu Erweiterung sowohl der Menschenkenntnis als auch der Weltkenntnis» bezeichnet.

Das Königsberg des 18. Jahrhunderts wirkt bis heute als geistesge-schichtliches Vermächtnis Europas nach. In seinem philosophischen Ent-wurf «Zum ewigen Frieden» skizzierte Kant die Idee eines Weltbürger-rechts, das kein phantastisches Recht ist, sondern eine notwendige Ergän-zung der Menschenrechte sowohl im Staats- als auch im Völkerrecht und damit ein Beitrag zum ewigen Frieden. Ihm ging es nicht um eine philanth-ropische Geste, sondern um die «allgemeine Hospitalität», um «das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden. Dieser kann ihn abweisen, wenn es ohne seinen Untergang geschehen kann; so lange er aber auf sei-nem Platz sich friedlich verhält, ihm nicht feindlich begegnen. Es ist kein Gastrecht, worauf dieser Anspruch machen kann..., sondern ein Besuchs-recht, welches allen Menschen zusteht, sich zur Gesellschaft anzubieten, vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde, auf der, als Kugelfläche, sie sich nicht ins Unendliche zerstreuen kön-nen, sondern endlich sich doch nebeneinander dulden zu müssen, ursprüng-lich aber niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht hat als der andere.»27

Mit Kant entstanden die geistigen Grundlagen eines Preußentums, das seine Wurzeln in dieser Königsberger Gelehrtenwelt hatte und tolerant war aus Vernunft. Toleranz aus Vernunft, das heisst: Ideologien spielen keine Rolle. Dass nach Krieg und Pest der Grosse Kurfürst die Tore seines ent-völkerten Landes weit öffnete und viele aufnahm, die andernorts bedrängt wurden – Mennoniten aus den Niederlanden, Hugenotten aus Frankreich – , war Pragmatismus, und es war mehr als das.28 Marion Gräfin Dönhoff meinte zu Recht, dass die religiöse und nationale Unduldsamkeit, die da-mals in den anderen europäischen Ländern herrschte, unterstreicht, wie sehr die preußische Toleranz ein Wert an sich war. In England war die so Glorreiche Revolution des Jahres 1688 ausgelöst worden durch die Rebel-lion der Etablierten gegen das Toleranzedikt Jakobs II., und mit dem Edikt von Nantes verbindet sich die Verfolgung der Hugenotten in Frankreich.29 Dagegen trat von Königsberg aus die Toleranz als preußischer Wert ihren Siegeszug an und liess Preußen lange Zeit als vorbildliches Staatsgebilde erscheinen.

Kants Anteil an der deutschen und europäischen Geistesgeschichte ist gar nicht hoch genug anzusetzen. Goethe meinte, «Kant ist der vorzüglich-

113

Immanuel Kant wird für immer der bedeutendste Ostpreuße bleiben.

Das Gemälde eines russischen Künstlers zeigt ihn bei einer Vorle-sung vor russischen Gelehrten während des Siebenjährigen Krieges, als Königsberg unter russischer Hoheit stand. Der grosse Philosoph hat mit seinem Aufsatz «Was ist Aufklärung?» 1784 das Denken weltweit revolutioniert: «Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursa-che derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Ent-schliessung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines an-deren zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen ist also der Wahlspruch der Aufklärung.»

ste [der neueren Philosophen], ohne allen Zweifel. Er ist auch derjenige, dessen Lehre sich fortwirkend erwiesen hat und die in unsere deutsche Kul-tur am tiefsten eingedrungen ist.»30 Bis nach Russland drang der Ruf des Königsberger Philosophen schon zu seinen Lebzeiten. Auf einer Europa-reise gelangte Nikolai Karamsin (1766-1826) am 18. Juni 1789 nach Kö-nigsberg, wo er Kant – ein «kleiner hagerer Greis, von einer ausserordent-lichen Zartheit und Blässe» – einen Besuch abstattete und mit ihm über die sittliche Natur des Menschen diskutierte.31

In Kants Königsberger Vorlesungen sass ein Ostpreuße, der ebenfalls zu einer Geistesgrösse von Rang wurde: Johann Gottfried Herder (1744-1803), Theologe, Geschichtsphilosoph und Kritiker, geboren in Mohrun-gen und gestorben in Weimar, wo er in der Stadtkirche Peter und Paul seine letzte Ruhestätte fand, die bis heute «Herderkirche» genannt wird. Herder war der Aufklärung verbunden, die er als unerlässlichen Bestandteil der Humanität betrachtete. In «Wort und Begriff der Humanität» führte er aus:

«Humanität ist der Charakter unseres Geschlechts; er ist uns aber nur in Anlagen angeboren und muss uns eigentlich angebildet werden. Wir brin-gen ihn nicht fertig auf die Welt mit; auf der Welt aber soll er das Ziel unsres Bestrebens, die Summe unsrer Übungen, unser Wert sein: denn eine Angelität im Menschen kennen wir nicht, und wenn der Dämon, der uns regiert, kein humaner Dämon ist, werden wir Plagegeister der Menschen.

Das Göttliche in unserm Geschlecht ist also Bildung zur Humanität.»52 Im vierten Kapitel seiner «Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit» schreibt Herder über das kulturelle Erbe der Völker und Na-tionen, wobei er auch die slawischen Völker beurteilt, worauf sich die sla-wischen Intellektuellen später im Zuge der kulturellen und nationalen Wie-dergeburt ihrer Völker berufen haben. In seinem «Slawenkapitel» schrieb Herder: «Sie waren mildtätig, bis zur Verschwendung gastfrei, Liebhaber der ländlichen Freiheit, aber unterwürfig und gehorsam, des Raubens und Plünderns Feinde. Alles das half ihnen nicht gegen die Unterdrückung, ja es trug zu derselben bei. Denn da sie sich nie um die Oberherrschaft der Welt bewarben, keine kriegssüchtige erbliche Fürsten unter sich hatten und lieber steuerpflichtig wurden, wenn sie ihr Land nur mit Ruhe bewohnen konnten: so haben sich mehrere Nationen, am meisten aber die vom Deut-schen Stamme, an ihnen versündigt.»33

«Licht, Liebe, Leben» umreissen das Vermächtnis Herders auf seinem

115

Grabstein in der Stadtkirche zu Weimar: Wahrhaftigkeit, Vernunft und To-leranz, Humanität und Achtung vor allem Leben und vor allen Dingen. Aus dieser Schule der Toleranz gingen zahlreiche Persönlichkeiten hervor, die Politik und Kultur Preußens mitbestimmten. Fast könnte man meinen, in Preußen, das durch Masshalten und geistige Konzentration charakterisiert ist, sei es in erster Linie um die Verwirklichung einer Idee gegangen. Die Reformer idealisierten den Staat, sie sahen in ihm eine Art geistiges Ge-fäss, in dem der Mensch sich zu Höherem entwickeln konnte. Dabei über-sahen sie die Anfechtungen der Macht und legten damit den Grundstein zur Pervertierung dessen, was doch ihr eigentliches Ziel war: das Indivi-duum vor den unersättlichen Ansprüchen des Staates zu schützen.34

Ein Weggefährte Herders aus Königsberger Tagen war Johann Georg Hamann (1730-1788), der wegen seiner schwer zugänglichen Werke als

«Magus des Nordens» bekannt wurde. Nach dem Studium an der Albertina – unter anderem bei Kant – war er seit 1777 bei der königlichen Zollver-waltung seiner Heimatstadt als Verwalter des Packhofs tätig. Seine Schrif-ten zur Philosophie, Theologie und Rechtswissenschaft zeigen Hamann nicht als Mann der Ratio, sondern als einen wesentlich von Gefühl, Lei-denschaft und Ahnung bestimmten Menschen. Als Wegbereiter des Sturm und Drang und Überwinder von Rationalismus und Aufklärung geriet er in krassen Gegensatz zu Kant. Er starb in armen Verhältnissen, aber er hat der deutschen Geistesgeschichte ein grosses Erbe hinterlassen.

Im Gegensatz zur Schule Kants stand auch Zacharias Werner (1768-1823), der Begründer der romantischen Schicksalstragödie. Der gebürtige Königsberger entwickelte sich zum auffälligsten Vertreter der literarischen Romantik. Er war innerlich zerrissen, sein Leben geprägt von Triebhaftig-keit und Mystizismus, wobei er zur Theatralik neigte. Zu nennen ist ferner Ernst Wilhelm Theodor Hoffmann (1776-1822) aus Königsberg, der dem alten polnischen Adelsgeschlecht der Bagiensky entstammte. Nach einem Besuch des Dorfes Rossitten in Begleitung seines Grossonkels hat er die unheimliche Erzählung «Das Majorat» geschrieben, die in der rauhen Ein-samkeit der Kurischen Nehrung spielt.

Als «Literaturpapst» ist Johann Christoph Gottsched (1700 bis 1766), geboren in einem ostpreußischen Pfarrhaus in Juditten bei Königsberg, in die deutsche Geistesgeschichte eingegangen. Nach dem Studium an der Albertina floh Gottsched vor der Zwangsrekrutierung nach Leipzig, wo er 1730 einen Ruf an die dortige Universität im Fach Poesie annahm. Er hat

116

als einer der ersten systematische Lehrbücher zur deutschen Sprache und Dichtung verfasst. Der Russe Michail Lomonossow sah in ihm ein Vorbild und übernahm Gottscheds Konzept für die russische Sprache. Zeit seines Lebens blieb Gottsched seiner Heimat Ostpreußen eng verbunden:

Mich hat kein Schlesien, kein Meissnerland gezeugt:

Das ferne Preußenland Hat meinen Mund gesäugt;

Den Geist mit Unterricht Und Wissenschaft verpfleget, Und mir zugleich die Lust Zum Dichten eingepräget.

Das Königsberg des 18. Jahrhunderts hat – so unterschiedlich die Beiträge im Einzelnen auch waren – die nationalen Grenzen geöffnet. Die Eigenheit anderer Völker nicht nur als interessantes Äusseres zu erkennen, sondern den Fremden mit Liebe und Toleranz zu begegnen war das Anliegen, das von der Stadt am Pregel aus in alle Welt verbreitet wurde.