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I. Theoretischer Teil

4. Ursachen des Affiliationsmotivs

4.2 Nachteile der Bildung sozialer Systeme

Eine differenzierte Analyse der Struktur und Dynamik sozialer Systeme offenbart die Unzulänglichkeit einer einseitigen Akzentuierung der Vorteile des Gruppenlebens. Of-fenkundig sind die sozialen Gefüge höherer Primatenarten durch eine enorme Komple-xität gekennzeichnet, welcher die bloße Auflistung adaptiver Vorteile in extenso nicht gerecht werden kann. So geht das Gruppenleben auch mit zahlreichen Nachteilen für ein Individuum einher. Solche Kosten, die durch sozialen Anschluss entstehen, sind partiell genuin biologischer Natur. Beispielsweise wird eine Gruppe durch ihre Größe eher von

Beutejägern entdeckt (Dunbar, 1988; Vine, 1973). Bei einer sich eventuell anschlie-ßenden Fluchtreaktion kommt es häufig zu konfusem Verhalten – beispielsweise schneiden sich flüchtende Individuen einer Gruppe gegenseitig den Weg ab (Ruxton, 1993). Zudem ist ein Individuum in einer Gruppe stärkerem Konkurrenzdruck ausge-setzt (Krause & Ruxton, 2002) – dies betrifft alle Formen von Ressourcen, wie z. B.

Nahrung, Paarungspartner und Plätze. Nicht zuletzt steigt in sozialen Systemen auch das Risiko einer Infektion durch Parasitenübertragung erheblich an (Brown & Brown, 1986). Krause und Ruxton (2002) stellen heraus, dass allein schon die Möglichkeit der Entstehung von Kosten durch einen Gruppenkontakt mit einem zusätzlichen metaboli-schen Aufwand für ein Individuum einhergeht.

Vor diesem Hintergrund werden auch folgende Beobachtungen verständlich, die an frei lebenden Schimpansen gemacht wurden: Schimpansen meiden Artgenossen bzw.

schließen Artgenossen aus ihrer Gruppe aus, sobald deren Verhalten abnormal erscheint bzw. eine Behinderung erkennbar wird (Goodall, 1986). Kurzban und Leary (2001) ge-hen von der Möglichkeit einer Übertragung dieser Befunde auf den Humanbereich aus:

„Human beings … avoid contact with those who are differentially likely to carry com-municable pathogens“ (S. 187). Die Initiierung bzw. Aufrechterhaltung sozialer Bezie-hungen zu Organismen mit bestimmten überdauernden Krankheiten ist demnach keine adaptive Strategie.

Auch Individuen im Humanbereich, die sich in einem sozialen Verband bewegen, unterliegen massivem Konkurrenzdruck, auch sie sind genötigt, permanent Kompromis-se einzugehen. Menschen müsKompromis-sen sich geKompromis-sellschaftlichen Normen und Zwängen unter-werfen. Dies kann gegebenenfalls in groteske und kostspielige Formen konformen Ver-haltens einmünden (vgl. Asch, 1951). Soziale Kontakte können in erheblichem Maße die Zeit eines Individuums absorbieren (oder zumindest monopolisieren) und dessen kognitive und materielle Ressourcen massiv in Anspruch nehmen. Durch das Zusam-menleben mit anderen Menschen können sozialer Leistungsdruck, Bewertungsängste und übersteigerte Erwartungen an die Träger sozialer Rollen entstehen. Personen kön-nen darüber hinaus Opfer binkön-nengruppaler Gewalt und Ausbeutung werden (vgl. dazu auch Krause & Ruxton, 2002).

Die klassische Sozialpsychologie hat bislang sogar in erster Linie Nachteile des Gruppenlebens, der Gruppeninteraktion bzw. der Gruppenarbeit zutage gefördert. Einen Überblick über entsprechende Effekte (z. B. bystander effect, pluralistic ignorance, so-cial loafing, shared-view-effect, choice-shift-effect, groupthink effect, blocking effect)

gibt z. B. Witte (in Druck). Allerdings ist einschränkend hinzuzufügen, dass diese Effekte häufig nur dann einen Nachteil des Gruppenlebens bzw. der Gruppenarbeit wi-derspiegeln, wenn sie nach dem Maximalkriterium der Gruppenleistung beurteilt wer-den (Witte, in Druck). Die maximale potentielle Gruppenleistung ist jedoch unter ulti-matem Blickwinkel zumeist ein irrelevantes Kriterium. Stattdessen ist hier eine Kombi-nation von individuellem Einsatz in der Gruppe und individuellem Ergebnisoutput aus-schlaggebend (Witte, in Druck).

Insgesamt kann es jedoch nicht erstaunen, dass das Anschlussmotiv i. d. R. einer schnellen „Sättigung“ zugänglich ist (Baumeister & Leary, 1995, 2000). Die Bildung interpersonaler Beziehungen bringt für Individuen neben zahlreichen Vorteilen offen-kundig auch erhebliche Kosten mit sich.

Schon die Analyse des gesellschaftlichen Naturzustands von Hobbes (1651/1966) lässt sich auf die Formel homo homini lupus oder auch auf die Formel bellum omnium contra omnes bringen (1651/1966, Kap. 13), wobei unter dem Begriff Naturzustand derjenige Zustand zu verstehen ist, der bei Abwesenheit eines Rechtssystems eintreten würde. Auch Sartres Werk „Huis clos“ (1944/2003b) gipfelt in dem berühmten Aus-spruch „L’ enfer, c’ est les autres“ (S. 59). Mit Scharfsinn formulierte auch Nietzsche (1882/1999): „Die Kunst, mit Menschen umzugehen, beruht wesentlich auf der Ge-schicklichkeit (die eine lange Uebung voraussetzt), eine Mahlzeit anzunehmen, einzu-nehmen, zu deren Küche man kein Vertrauen hat“ (S. 612). Zimmermann (1784/1982) wies überdies auf den Freiheit einschränkenden Charakter der Gesellschaft hin. Insge-samt scheint sich das Gruppenleben durchaus in einer von Schopenhauer (1851/1996) beschriebenen Metapher abbilden zu lassen:

Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich an einem kalten Wintertage recht nahe zusammen, um durch die gegenseitige Wärme sich vor dem Er-frieren zu schützen. Jedoch bald empfanden sie die gegenseitigen Stacheln;

welches sie dann wieder von einander entfernte. Wann nun das Bedürfnis der Erwärmung sie wieder zusammenbrachte, wiederholte sich jenes zweite Übel; so daß sie zwischen beiden Leiden hin und hergeworfen wurden, bis sie eine mäßige Entfernung von einander herausgefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konnten. (S. 765)

Schopenhauer (1851/1996) beschreibt in dieser Passage zwar gleich zwei Übel, zwi-schen denen Organismen hin und her geworfen sind, woraus sich auch die gesamte Ne-gativität des Glücks (Schopenhauer, 1819/1998) ableiten ließe, die Struktur dieses

taphorischen Szenarios ist jedoch eindeutig als Appetenz-Aversions-Konflikt zu klassi-fizieren.

Die Bildung von sozialen Systemen könnte für die Spezies Homo sapiens immer mit einem Appetenz-Aversions-Konflikt verbunden sein. Dieser Gedanke liegt auch der im nachfolgenden Kapitel darzustellenden Theorie der interpersonalen Balance als ihr Kern zugrunde.

Gesetzt den Fall, soziale Systeme werden aus evolutionsbiologischen Gründen ge-bildet, so muss ein Individuum einer bestimmten Art in einer bestimmten Umwelt je-doch einen Nettogewinn an Reproduktionsmöglichkeiten durch das Gruppenleben da-vontragen können. Der Gewinn an Reproduktionsmöglichkeiten ist letztlich das Kriteri-um, welches durch das Gruppenleben im Allgemeinen und durch bestimmte Gruppen-charakteristika im Speziellen optimiert wird. Die Vorteile des Gruppenlebens müssen im Falle der Spezies Homo sapiens dessen Nachteile in status quo ante folglich deutlich aufgewogen haben. Wäre dies nicht der Fall, hätte sich die Disposition zur Bildung so-zialer Systeme in der Evolutionsgeschichte des Menschen nicht durchsetzten können – es gäbe kein Affiliationsmotiv. Wenn sich das Motivgeschehen in sozialen Situationen adäquat als Appetenz-Aversions-Konflikt beschreiben lässt, so muss der Konflikt letzt-lich i. d. R. zugunsten der Appetenz-Komponente entschieden worden sein. Die gesamte in dieser Arbeit zusammengetragene Evidenz wäre ansonsten zu negieren.

Es ist daher auch wenig erstaunlich, dass sich die moderne amerikanische Affiliati-onsforschung (z. B. Baumeister & Leary, 1995, 2000; Gardner et al., 2000; Leary, 2001) bislang implizit lediglich der Analyse dieser Appetenz-Komponente des Motivs gewidmet hat. Auch die vorliegende Arbeit schließt sich in weiten Teilen diesem Blickwinkel an. Dem dritten Experiment der vorliegenden Arbeit liegt jedoch eine diffe-renziertere Perspektive zugrunde. Das dritte Experiment fußt auf der Theorie der inter-personalen Balance, die in den folgenden Kapiteln ausführlich dargestellt wird.

4.3 Fazit

Eine differenzierte Betrachtung der ultimaten Ursachen des menschlichen Affiliations-motivs fördert nicht nur die potentiellen adaptiven Vorteile zutage, die zur Ausbildung dieses abstrakten Organs geführt haben könnten, sondern deckt zugleich erhebliche Kosten auf, die einem Individuum bei der Bildung sozialer Systeme erwachsen können.