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I. Theoretischer Teil

5. Die Theorie der interpersonalen Balance

5.1 Annahmen der Theorie der interpersonalen Balance

Der Verfasser der vorliegenden Arbeit geht im Rahmen seiner Theorie der interpersona-len Balance von den nachfolgend dargelegten Annahmen aus. Die zentrainterpersona-len Annahmen der genannten Theorie werden in Abbildung 1 schematisch dargestellt.

1.) Ob eine bestimmte Spezies überhaupt über eine Disposition zur Bildung sozialer Systeme verfügt, hängt von bestimmten Umweltbedingungen ab, die in der Evolutions-geschichte dieser Spezies wiederkehrend gegeben waren (z. B. Predatationsdichte, Ver-fügbarkeit von Nahrungsressourcen, VerVer-fügbarkeit von Paarungspartnern, klimatische Bedingungen). Zahlreiche Spezies verfügen nicht über das genetische Potential zur Bildung sozialer Systeme – sie leben solitär. Für Organismen, deren Spezies über lange Phasen ihrer Phylogenese hinweg von der Bildung sozialer Systeme einen Nettogewinn an Reproduktionsmöglichkeiten davontragen konnte, besteht jedoch zumindest das Potential, Gruppen mit bestimmten Charakteristika zu bilden. Es wird angenommen, dass Repräsentanten der Spezies Homo sapiens i. d. R. über diese genetisch fixierte Fähigkeit verfügen. Die Partizipation an sozialen Systemen stellte unter den ökologi-schen Bedingungen der Evolutionsgeschichte des Menökologi-schen – die zeitweise vermutlich durch hohe Predatationsdichten, extreme klimatische Bedingungen, einen Mangel an Nahrungsressourcen etc. gekennzeichnet war – einen Nettogewinn an Reproduktions-möglichkeiten in Aussicht. Es wird daher von der Annahme ausgegangen, dass Reprä-sentanten der Spezies Homo sapiens i. d. R. über genetische Programme verfügen, die zur Ausbildung neuronaler Strukturen führen können, welche Personen dazu befähigen

5 Ein Konflikt kann dabei als das Vorhandensein mindestens zweier nicht gleichzeitig durchführbarer Handlungstendenzen definiert werden (vgl. z. B. Feger & Sorembe, 1983).

und motivieren, soziale Systeme mit bestimmten Eigenschaften zu bilden. Lediglich statistisch selten auftretende Fälle von Mutationen, genetischen oder neuronalen Defek-ten stellen hier eine Ausnahme dar (vgl. z. B. Autismusstörung).

Die Prinzipien der natürlichen Selektion stellen in Verbindung mit den genannten wiederkehrend auftretenden ökologischen Bedingungen somit die Kausalursache für die erste Unterscheidung affiliatonsrelevanter Verhaltensweisen dar: zum einen die solitär lebende Existenz, ohne das Bedürfnis nach Gesellung (oder die dafür erforderli-chen Fähigkeiten) entwickeln zu können, zum anderen das vorhandene Potential, das Motiv nach der Gesellschaft anderer entfalten zu können (vgl. erste Ebene in

Schematische Darstellung der Theorie der interpersonalen Balance

2.) Doch auch wenn eine solche speziestypische Disposition zur Gruppenbildung tat-sächlich vorliegt, bedarf sie auslösender Faktoren, um aus der Latenz in einen aktivier-ten Zustand überzugehen. Das heißt, im weiteren Verlauf ist die Bildung sozialer Sys-teme von bestimmten Inputfaktoren abhängig, die eine – eventuell speziestypisch be-stehende – Disposition zur Gruppenbildung überhaupt erst triggern können. Bei

senheit solcher Inputfaktoren sind auch Individuen einer potentiell Gruppen bildenden Spezies nicht aktiv auf der Suche nach sozialen Kontakten. Liegen solche aktivieren-den Inputfaktoren jedoch vor, so beginnen Individuen damit, räumlich engen und zeit-lich überdauernden Kontakt mit einer Gruppe von Artgenossen aufzusuchen, bzw. sie verbleiben in einer solchen Gruppe.

Für den Fall der Spezies Homo sapiens können sich Bedingungen wie z. B. akute oder antizipierte Gefahren, ein akuter oder antizipierter Ressourcenmangel oder akut obwaltende extreme klimatische Bedingungen als Inputfaktoren der beschriebenen Art erweisen. Es ist unschwer vorstellbar, dass auch moderne Gefahren und moderne For-men des Ressourcenmangels als Inputfaktoren fungieren können. Zudem sind auch Inputfaktoren für wachstumsorientierte Ziele eines Organismus denkbar.

Inputfaktoren stellen noch keine Anreize i. e. S. für das Affiliationsmotiv dar, da sie nicht zu konkreten Motivzielen werden können. Selbst wenn durch die Anwesenheit von Inputfaktoren das globale Ziel ausgebildet würde, eben diese Inputfaktoren zu vermeiden, so ist die dadurch aktivierte Disposition zur Bildung sozialer Systeme ihrerseits doch auf die Suche nach Artgenossen gerichtet. Auch wenn die ultimate Ur-sache des resultierenden Verhaltens letztlich in der Tat die Vermeidung oder Bewälti-gung der erwähnten Inputfaktoren ist, so stellen Personen und Personengruppen den-noch das konkrete Ziel des Lösungsmechanismus Affiliationsmotivs dar.6 Inputfaktoren modulieren lediglich die Wirkung von Personen und Personengruppen als Anreize. Es ist demnach denkbar, dass bestimmte Umweltbedingungen (z. B. ein dauerhaft gesichertes Ressourcenangebot oder die permanente Abwesenheit physischer Gefah-ren) einen hemmenden Einfluss auf die Anregung des Affiliationsmotivs durch Perso-nen oder PersoPerso-nengruppen haben.

Grade der An- oder Abwesenheit solcher Inputfaktoren stellen somit die zweite Va-riablengruppe dar, die zur Unterscheidung affiliationsrelevanter Verhaltensweisen füh-ren: von der sich in einem deaktivierten, latenten Zustand befindlichen Disposition zur

6 Solche ultimaten Ziele eines Organismus könnten u. U. auch mit Vertretern anderer Spezies erreicht werden – es ist zu bedenken, dass lediglich bestimmte Eigenschaften anderer Organismen für die

„Zwecke“ der egoistischen Gene des betreffenden Organismus instrumentalisiert werden müssen (vgl.

auch Symbiosenbildungen). So kann es nicht erstaunen, dass Hunde, Katzen etc. offenbar durchaus ei-nen Beitrag zur Befriedigung des menschlichen Affiliationsmotivs leisten könei-nen. Dennoch ist zu vermuten, dass die natürliche Selektion Artgenossen zum Anreiz für das menschliche Affiliationsmo-tiv gemacht hat. Dies ist plausibel, da mit Artgenossen sicherlich ein Maximum an Zielkongruenz zu erreichen war und das Affiliationsmotiv nur auf diese Weise einen adäquaten Lösungsmechanismus für adaptive Pro-bleme der beschriebenen Art darstellen konnte. „Fehlanwendungen“ der Lösungsheu-ristik sind offenbar jedoch nicht auszuschließen.

Bildung sozialer Systeme bis hin zur vollständig aktivierten Disposition zur Gruppen-bildung (vgl. zweite Ebene in AbGruppen-bildung 1).

Im Falle der Spezies Homo sapiens ist die Schwelle zur Gruppenbildung vermutlich außerordentlich gering. Der Grund dafür könnte darin liegen, dass für Mitglieder der Spezies Homo sapiens über lange Phasen ihrer Evolutionsgeschichte hinweg eine per-manente latente Bedrohung durch extreme klimatische Bedingungen, Nahrungsmangel, Beutejäger etc. bestand. Die natürliche Selektion wird daher im Humanbereich einen enormen Druck auf die Herausbildung einer Disposition ausgeübt haben, die nur über eine geringe Aktivierungsschwelle verfügt.

Solche Erwägungen liegen implizit denn auch einigen psychologischen Affiliati-onstheorien zugrunde. So postulieren beispielsweise Baumeister und Leary (1995, 2000), dass Menschen bestrebt sind, interpersonale Kontakte zu initiieren, aufrechtzu-erhalten, auszuweiten und deren Auseinanderfallen zu verhindern.

3.) Dieser Sachverhalt stellt sich jedoch komplexer dar, als es nach diesen Theorien den Anschein hat. Auch eine aktivierte Disposition zur Gruppenbildung ist nicht blind – es gibt diverse Auswahlmechanismen. Nicht in jeder Situation und unter allen Um-ständen wird der Kontakt mit anderen Personen gesucht (s. o.) und nicht jede Person oder Personengruppe kann zu einem begehrten Anreiz für das Affiliationsmotiv wer-den. Ob nämlich ein Individuum eine bestimmte Gruppe aufsucht bzw. in ihr verbleibt, hängt von der Kosten-Nutzen-Relation ab, die sich für das Individuum im Falle eines konkreten Gruppenkontakts ergeben würden.

Die Partizipation an einem sozialen System ist für Mitglieder der Spezies Homo sapiens mit einem Appetenz-Aversions-Konflikt verbunden. Der Eintritt in eine Grup-pe kann für ein Individuum insofern einen potentiellen Nutzen darstellen, als dessen aktuelles (durch einen Inputfaktor ausgelöstes) Problem durch die Gruppe auf effizien-te Weise gelöst wird. Poeffizien-tentielle Voreffizien-teile, die sich durch die Bildung sozialer Syseffizien-teme ergeben, wurden in Kapitel 4.1 ausführlich erörtert. Der Eintritt in eine Gruppe bringt für ein Individuum jedoch auch potentielle Kosten mit sich (z. B. Infektionsrisiken, Konkurrenz, Investitionsrisiken, Kompromisszwänge). Potentielle Nachteile, die sich durch die Bildung sozialer Systeme ergeben, wurden in Kapitel 4.2 ausführlich erörtert.

Eine speziestypische Disposition zur Gruppenbildung hätte sich zwar nicht heraus-präparieren können, wenn der beschriebene Konflikt in der Evolutionsgeschichte der entsprechenden Spezies nicht i. d. R. zugunsten der Appetenz-Komponente entschieden worden wäre, bei der situativen Auswahl einer konkreten Gruppe können die Kosten,

die generell mit der Bildung sozialer Systeme einhergehen, jedoch höher sein, als der Nutzen, der aus dem Kontakt mit der konkreten Gruppe resultieren würde. In einem solchen Fall wäre es funktional, den Kontakt mit der entsprechenden Gruppe zu ver-meiden. Das heißt, erst Mechanismen, die eine funktionale Auswahl konkreter Gruppen gewährleistet haben, haben die erfolgreiche Phylogenese des Affiliationsmotivs ermöglicht.

Auch Lernerfahrungen können an dieser Stelle relevant werden und die entspre-chenden Auswahlentscheidungen moderieren.

Kosten, die durch einen konkreten Gruppenkontakt entstehen (könnten), werden dem Anschluss suchenden Individuum als aversive Elemente mental repräsentiert. Sie müssen dem Individuum zwar mental zugänglich sein, sie müssen für das Individuum jedoch nicht notwendigerweise auch phänomenal penetrabel sein. Es werden somit psychologische Regulationsmechanismen angenommen, die diese erwähnten „objekti-ven“ Kosten registrieren, dem Subjekt als aversive Elemente repräsentieren, deren rela-tive situarela-tive Stärke bewerten können und in Abhängigkeit dieser relarela-tiven situarela-tiven Stärke entsprechendes Verhalten – z. B. Gruppen meidendes Verhalten – vorbereiten können, gleichgültig, ob diese Prozesse nun ins Bewusstsein gespiegelt werden oder nicht.

Die relative situative Stärke solcher aversiven Elemente entscheidet darüber, ob ein Anschluss suchendes Individuum eine bestimmte Gruppe aufsucht oder vermeidet bzw.

in ihr verbleibt oder aber flieht. Die Stärke dieser aversiven Elemente kann aber auch – in weniger kategorialer Weise – bestimmen, wie sich die zeitlichen Charakteristika etc. des Anschlussverhaltens einer konkreten Gruppe gegenüber für ein Individuum darstellen.

Variablen, die für die Funktionalität einer Gruppe gegenüber den Ansprüchen eines Anschluss suchenden Individuums entscheidend sind, werden somit an dieser Stellte für Gruppen aufsuchendes oder aber Gruppen meidendes Verhalten des Individuums relevant: zum einen ein Anschluss aufsuchendes Verhalten, zum anderen ein Vermei-dungsverhalten einer konkreten Gruppe gegenüber, bei gleichzeitigem Suchen nach besser geeigneten Alternativen (vgl. dritte Ebene in Abbildung 1).7

7Durch die blind operierenden Prinzipien der natürlichen Selektion „verhalten“ sich Gene derart, dass sie ihr eigenes Fortbestehen sicherzustellen „beabsichtigen“, und zwar u. a. indem sie das Verhalten ihres Vehikels (den individuellen Organismus bzw. das biologische System) daraufhin programmie-ren, die räumliche Nähe zu Artgenossen herzustellen, insofern deren Merkmale, Ressourcen etc. dem individuellen Organismus in bestimmten Situation einen adaptiven Vorteil zu verschaffen vermögen.

Für die dafür erforderliche Fähigkeit, adäquat einschätzen zu können, ob Artgenossen in der Tat einen

4.) Sollte eine gegebene Gruppe nun tatsächlich einen begehrten Anreiz für das Affiliationsmotiv eines Individuums darstellen, so wird das Individuum danach trach-ten, die entsprechende Gruppe aufzusuchen. Allerdings wird das Individuum dies nur dann realisieren, wenn auch soziale Akzeptanz vonseiten der Gruppenmitglieder erwar-tet wird.

Das Individuum muss an dieser Stelle einen Perspektivenwechsel vollziehen. In diesem Stadium werden die (antizipierten) Ansprüche der Gruppe gegenüber dem An-schluss suchenden Individuum relevant. Sollte ein AnAn-schluss suchendes Individuum die Erwartung ausbilden, von der Gruppe akzeptiert zu werden, so wird dieses nicht zögern, die begehrte Gruppe auch aufzusuchen (bzw. in ihr zu verbleiben). Sollte das Individuum allerdings zu der Einschätzung kommen, dass es von den Mitgliedern der begehrten Gruppe nicht akzeptiert wird, weil es den Ansprüchen der Gruppe nicht ge-recht werden kann, so wird das Individuum den Kontakt mit der begehrten Gruppe vor-läufig nicht initiieren (bzw. sich distanzieren).

Mehrere Verhaltensoptionen stehen einer Anschluss suchenden Person im letzteren Fall zur Verfügung: Beispielsweise kann sie zunächst eine andere Gruppe aufsuchen, so dass die Person ihre Kompetenzen noch verbessern kann, oder aber der Kontakt wird zunächst auf die Kompetenzbereiche der Person beschränkt. Die Beschränkung des Kontakts mit der Gruppe kann sich auch auf bestimmte Orte, Zeiten oder auch auf bestimmte Personen der Gruppe beziehen. In jedem Fall bleibt die Gruppe ein begehr-tes anschlussthematisches Ziel für die Person. Ist jedoch keine Vermeidung bzw. Be-schränkung des Kontakts möglich, weil das Individuum aus bestimmten Gründen

Vorteil für das System zu bieten vermögen, ist vermutlich das Vorhandensein eines Selbstmodells von außerordentlichem Nutzen gewesen (zum Selbstmodell: vgl. Metzinger, 2003a). Gene könnten dem-nach zugleich derart auf die Gestaltung neuronaler Strukturen gewirkt haben, dass dem System be-stimmte – sozial relevante – Eigenschaften des Systems per se mental repräsentiert werden. Mit der Entstehung eines solchen Selbstmodells könnte die Fähigkeit maximiert worden sein, lediglich beson-ders funktionale – z. B. einen eigenen Mangel kompensierende – Sozialkontakte auszuwählen. Die na-türliche Selektion ließ infolge dessen Gene bestehen, die „neuronale“ bzw. „psychologische Program-me“ der beschriebenen – diskriminierenden – Art erstellen konnten. Das Selbstmodell könnte seiner-seits also auch durch „soziale Selektionsdrücke“ der beschriebenen Art geformt worden sein. Dem biologischen System werden demnach Systemeigenschaften mental repräsentiert, die relativ zum sozi-alen System sind (evtl. völlig verzerrte transparente Selbst-Repräsentata der entsprechenden System-Repräsentanda). Das Selbstmodell könnte zudem von Bedeutung werden, wenn der Organismus genö-tigt ist einzuschätzen, ob er mit seinen Eigenschaften von anderen Individuen gebraucht wird und da-mit die Wahrscheinlichkeit von sozialer Akzeptanz seitens einer Gruppe hoch ist. Durch das Selbst-modell kam es überhaupt erst zu einer Zentrierung des WeltSelbst-modells um ein erlebendes Subjekt herum, womit die Erste-Person-Perspektive entstand und die mentale Trennung zwischen „Ich“ und „Ande-ren“ möglich wurde.

tigt ist, die Gruppe aufzusuchen, so entsteht der so genannte prevention focus (Hig-gins, 1997).

Hinter dem erwähnten Anspruchskonzept verbirgt sich möglicherweise primär die Einschätzung eines Individuums, ob seine Fähigkeiten und Ressourcen von der Gruppe gebraucht werden, d. h. ob die Gruppe das Individuum nötig hat – so sehr nötig hat, wie umgekehrt das Individuum die Gruppe. Das Anschluss suchende Individuum muss einschätzen, ob die Gruppenmitglieder das Individuum als nutzbringend ansehen.

Wenn das Individuum zu der Einschätzung gelangt, dass die Gruppe es nicht so sehr braucht, wie umgekehrt das Individuum die Gruppe, so resultiert Furcht vor Zurück-weisung. Braucht die Gruppe das Individuum mehr oder ebenso sehr wie das Indivi-duum die Gruppe, so entsteht Hoffnung auf Anschluss. Die Emotionen Furcht und Hoffnung signalisieren dem Individuum letztlich den Grad der Gefahr, von Mitgliedern der Gruppe nicht unterstützt oder sogar ausgenutzt zu werden. Es sind somit ressour-cenbezogene Erwägungen dieser Art, die primär zu der Erwartung von sozialer Akzep-tanz, sozialer Unterstützung oder aber zu der Erwartung von sozialer Ablehnung füh-ren.

Die Erwartungen von sozialer Akzeptanz oder sozialer Ablehnung stehen demnach in enger Verbindung zu den Termini Hoffnung auf Anschluss und Furcht vor Zurück-weisung, die in der differentiellpsychologisch orientierten Affiliationsforschung häufig verwendet werden (vgl. Kapitel 5.2.1). Im Unterschied zur differentiellpsychologischen Affiliationsforschung sind diese beiden Konstrukte im Rahmen der Theorie der inter-personalen Balance jedoch nicht unabhängig voneinander und stehen auch nicht im Konflikt zueinander (vgl. dazu insbesondere Kapitel 5.2.1).

Dieser Sachverhalt lässt sich zunächst wie folgt begründen: Ein bestimmtes antizi-piertes Verhalten, z. B. das Aufsuchen einer begehrten Gruppe, führt mit einer be-stimmten subjektiven Wahrscheinlichkeit zu einem bebe-stimmten Ereignis – nämlich entweder zu sozialer Ablehnung oder aber zu sozialer Akzeptanz. Diese Ereignisse wiederum werden – im Fall von sozialer Ablehnung – als unangenehm antizipiert;

d. h., sie lösen gegebenenfalls Furcht aus, oder aber – im Fall von sozialer Akzeptanz – als angenehm antizipiert; d. h., sie lösen gegebenenfalls Hoffnung aus. Die Verrech-nung der subjektiven Eintretenswahrscheinlichkeit (Erwartung) mit der Valenz des antizipierten Ereignisses soziale Akzeptanz (Wert) determiniert in diesem Stadium Gruppen aufsuchendes bzw. Gruppen meidendes Verhalten. Die Valenzen der Ereig-nisse soziale Akzeptanz und soziale Ablehnung sind jedoch nicht unabhängig

der. Es ist zu bedenken, dass eine Person an dieser Stelle die infrage stehende Gruppe bereits begehrt! Soziale Akzeptanz seitens der Gruppe stellt folglich – aus Gründen der Bedürftigkeit – einen Wert für eine Anschluss suchende Person dar, den sie zu errei-chen hofft. Sollte die Person nun aber mit sozialer Ablehnung seitens der Gruppe kon-frontiert werden, so entgeht ihr zumindest der antizipierte Nutzen (Wert) des Gruppen-kontakts. Dies stellt aber, abgesehen von hypothetisch konstruierbaren Ausnahmefäl-len, keinen neutralen Sachverhalt für die Person dar. Dies stellt vielmehr i d. R. einen zu vermeidenden Sachverhalt dar, dessen Eintreten gefürchtet wird.

Selbstverständlich ist es möglich, dass eine Person soziale Akzeptanz erwartet, gleichzeitig aber den (subjektiv unwahrscheinlichen, nicht erwarteten) Eintritt von so-zialer Ablehnung fürchtet, da es sich eben nur um Erwartungen, d. h. um subjektive Wahrscheinlichkeiten und nicht um Gewissheiten handelt, die keine alternativen Mög-lichkeiten mehr zulassen würden. Das Ausmaß der Erwartung von sozialer Akzeptanz ist jedoch auch in diesem Fall nicht unabhängig von dem Ausmaß der Furcht vor Zu-rückweisung. Wenn die subjektive Wahrscheinlichkeit des Ereignisses soziale Zurück-weisung steigt, dann steigt auch die Furcht vor diesem Ereignis und gleichzeitig sinkt die Hoffnung auf Akzeptanz im gleichen Grad. Andernfalls würde den Emotionen Hoffnung und Furcht auch keine verhaltenslenkende Funktion zukommen können.

Gründe, die Erwartungen unabhängig voneinander konstituieren können, stellen noch keinen Anlass für die Furcht vor Zurückweisung oder die Hoffnung auf An-schluss dar. Erst die Möglichkeit des Eintretens dieser Gründe und die Einschätzung der subjektiven Wahrscheinlichkeit dieses Eintretens bringen Furcht oder Hoffnung und deren Ausmaß hervor.

Aus diesen Ausführungen folgt, dass die Ereignisse soziale Akzeptanz und soziale Ablehnung nicht unabhängig voneinander sind, dass die subjektiven Wahrscheinlich-keiten des Eintretens dieser Ereignisse nicht unabhängig voneinander sein können und dass auch die Furcht vor Zurückweisung nicht unabhängig von der Hoffnung auf An-schluss variieren kann (vgl. dazu insbesondere Kapitel 5.2.1).

Die Einschätzung eines Anschluss suchenden Individuums, ob bei dem Versuch der Initiierung interpersonalen Kontakts soziale Akzeptanz oder aber soziale Ablehnung eintreten wird, könnte auch systematischen Verzerrungen unterliegen. Solche Fehlein-schätzungen können durchaus funktional sein, wenn nämlich der Fehler, einen Kontakt zu einer Gruppe zu initiieren, der von der Gruppe abgelehnt werden würde, nicht äqui-valent zu dem Fehler ist, einen Kontakt zu einer Gruppe nicht zu initiieren, obwohl der

Kontakt von der Gruppe akzeptiert werden würde. Darüber hinaus können einschlägi-ge Lernerfahruneinschlägi-gen Fehleinschätzuneinschlägi-gen der beschriebenen Art noch überlaeinschlägi-gern.

Die Erwartungen von sozialer Akzeptanz bzw. von sozialer Ablehnung stellen so-mit die vierte affiliationsrelevante Unterscheidung dar: Zum einen wird der Anschluss mit der begehrten Gruppe sofort aufgesucht, zum anderen kommt es zu einem Morato-rium der Kontaktaufnahme mit der begehrten Gruppe (vgl. vierte Ebene in Abbil-dung 1).

Ergänzend ist zu erwähnen, dass Abbildung 1 irrtümlicherweise nahe legt, dass die dargestellten Ebenen in streng chronologischer Reihenfolge durchlaufen werden müs-sen und dass auf den einzelnen Ebenen strenge Dichotomien vorliegen. Die vorange-gangenen Erläuterungen haben jedoch deutlich gemacht, dass komplexe Interaktions-prozesse zwischen den einzelnen Ebenen anzunehmen sind (z. B. bestimmt erst ein Inputfaktor, ob ein bestimmtes Gruppenmerkmal einen Nutzen für ein Individuum dar-stellt und Gruppenmerkmale können auch schon inspiziert werden, noch bevor ein In-putfaktor vorliegt). Es wurde ebenfalls klargestellt, dass die einzelnen Ebenen des Mo-dells eher Kontinua darstellen.

Das von Baumeister und Leary (1995, 2000) erwähnte Sättigungsphänomen (vgl.

Kapitel 3.2) lässt sich in dem in Abbildung 1 dargestellten Modell als Feedbackschleife konzipieren: Sobald eine Person eine gewisse Anzahl interpersonaler Kontakte kumu-liert hat, würde die Suche nach weiteren Kontakten die Kosten interpersonaler Bezie-hungen in stärkerem Ausmaß steigern als den Nutzen, der über bestehende Kontakte hinaus noch entstehen könnte. Ein ungehemmtes Streben nach interpersonalen Kontak-ten ist somit dysfunktional. Überdies ist denkbar, dass im Falle der erfolgreichen Eta-blierung interpersonalen Kontakts anders geartete Ziele verfolgt werden müssen (z. B.

nachdem ein Problem durch den Gruppenkontakt tatsächlich gelöst wurde). Das Affili-ationsmotiv würde unter diesen Umständen von anderen Motivsystemen durch laterale Hemmung aus dem Arbeitsgedächtnis verdrängt und deaktiviert werden.

Auf insgesamt vier Prozessebenen, die bis zur erfolgreichen Etablierung interper-sonaler Kontakte durchlaufen werden müssten, stellt die Theorie der interpersonalen Balance somit mögliche Ursachen heraus, die Anlass zur Vermeidung interpersonalen Kontakts geben können. Es werden regulative Mechanismen angenommen, die Orga-nismen eine biologisch geprägte Entscheidung darüber treffen lassen, ob der Kontakt mit anderen Individuen aufzusuchen ist oder eben nicht. Die jeweilige Entscheidung hat in der Evolutionsgeschichte im Durchschnitt eine optimale interpersonale

cenausbeute erbracht. Die Theorie der interpersonalen Balance postuliert damit

cenausbeute erbracht. Die Theorie der interpersonalen Balance postuliert damit