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2 Nachlasserschließung – Geschichte und Status quo

2.1 Nachlässe in Archiven und Bibliotheken – Eine Kontroverse

Die in der Folgezeit einsetzende fachwissenschaftliche Beschäftigung zunächst mit Fragen der Nachlasssammlung und in der Folge auch mit der Nachlasserschließung ist zu Beginn auch als Reaktion auf die von Ivo Striedinger bereits 1926 formulierte

„Zwecktheorie“ zur Trennung des Bibliotheksguts vom Archivgut zu lesen. Striedinger versuchte, Nachlässe als Schnittmenge des Bibliotheks- und Archivguts begründet aufzuteilen. Der „Endzweck“ des Materials sollte nach Striedinger die zuständige Stelle definieren. Archivalien mit geschäftlich-verwaltungsmäßig-rechtlichem Endzweck sollten von Archiven, Unterlagen mit literarischem Endzweck von Bibliotheken verwaltet werden.73 Nachlässe von Diplomaten, Staatsmännern, Politikern und Militärs lagen nach Striedinger aufgrund ihres überwiegend rechtlichen Endzwecks in der Zuständigkeit der Archive, für Nachlässe von Dichtern, Musikern und Gelehrten waren die Bibliotheken zuständig.

Die Infragestellung dieser Zuständigkeitszuweisung wurde Ausgangspunkt für die in Kapitel 1.2 bereits erwähnte intensive Kontroverse zwischen Bibliothekaren und

71 Eine Darstellung der Entwicklung findet sich z.B. bei Stolzenberg (1987), S. 67ff..

72 Harnack (1947), S. 262.

73 Striedinger (1926), S. 151-163.

Archivaren aus beiden Teilen Deutschlands um die Definition von Archiv- und Bibliotheksgut und die Frage der Zuständigkeit, besonders für literarische Nachlässe.74 Die Definitionen von Archiv, Bibliothek, deren Sammlungsgütern im Allgemeinen und von Nachlässen im Besonderen sind aus archivarischer und bibliothekarischer Sicht in der Konkurrenz um die Zuständigkeit für Nachlässe unterschiedlich gefasst worden. Die einzelnen Facetten der differierenden Positionen dieses Kompetenzkonflikts, die von der Beibehaltung der Striedingerschen Aufteilung über die Definition aller Nachlässe als registraturfähiges Schriftgut und damit ausschließlich archivischen Methoden unter-liegend75 bis zu der Erkenntnis, dass es keine reinliche Trennung zwischen Bibliotheks- und Archivnachlässen gibt und „nicht der Ort der Aufbewahrung, sondern die Zugänglichkeit des Materials für die wissenschaftliche Auswertung wichtig ist und als unerläßliche Voraussetzung dafür die Anwendung richtiger Methoden“76 erfolgen muss, sollen hier nicht im Detail nachgezeichnet werden, da sie hinlänglich dokumentiert sind.77 Die Grundzüge der Diskussion, die hauptsächlich um die Zuständigkeit für literarische Nachlässe geführt wurde, werden jedoch kurz skizziert, weil die unter-schiedlichen Begriffsbestimmungen und Zuständigkeitsansprüche auch die Methoden der Nachlasserschließung prägten und das bis heute nicht völlig aufgehobene Nebeneinander der archivischen und der bibliothekarischen Nachlasserschließung sich auch daher erklärt.

Spielball dieser berufsständischen Auseinandersetzung war besonders das Literaturarchiv als spezielle Einrichtung für die Verwaltung und Erschließung literarischer Nachlässe.

Beide Seiten beanspruchten mit unterschiedlichen Argumenten die Anbindung der Literaturarchive an die eigene Fachrichtung. Von archivarischer Seite wurden die Literaturarchive als Spezialeinrichtungen archivischen Zuschnitts, die „Archivgut von besonderer Beschaffenheit und besonderem Rang, nämlich Literaturarchivgut […] nach archivarischen, nicht nach bibliothekarischen Gesichtspunkten“78 erschließen, gesehen.

Aus bibliothekarischer Sicht wurden sie als Teile bzw. als Kooperationspartner von Bibliotheken reklamiert, die auf die bibliothekarischen Sammlungen an Primär- und Sekundärliteratur angewiesen seien.79 Als „etwas Drittes zwischen den Bibliotheken und Archiven“80, als „die einzigen Archive ohne Zuständigkeit“81, als „spezialisierte Institution

74 S. hierzu z.B. folgende Beiträge: Wenig (1954); Flach (1955); Meisner (1955); Mommsen (1955); Holz

(1956); Hoffmann (1957a); Kolankowski (1957); Kownatzki (1960); Richter (1961); Brather (1962); Lülfing

(1962); Mommsen (1963); Dachs (1965); Hahn (1965); Hahn (1969); Teitge (1972); Schmid (1973); Dachs

(1982).

75 Flach (1955), S. 7.

76 Kolankowski (1957), S. 125.

77 S. dazu: Stolzenberg (1987), S. 74 ff. sowie Stanek (2005).

78 Flach (1955), S. 8.

79 Teitge (1972), S. 149f..

80 Meisner (1955), S. 181.

sui generis […], die sich die Betreuung von Schriftstellernachlässen außerhalb von Bibliothek und Staatsarchiv zur Aufgabe“82 gemacht haben, wurden und werden Literaturarchive von den angrenzenden Institutionen Archiv und Bibliothek abgegrenzt.

Nachlässe als Registraturen und als „Vorstufen der gedruckten Literatur“83 Archive, Bibliotheken und deren Sammlungsgüter84

In der Kontroverse zwischen Bibliotheken und Archiven um die Zuständigkeit für Nach-lässe variierten die Definitionen von Archiv und Archivgut, die Positionen spitzten sich zeitweise zu. Die noch an die Position Striedingers anknüpfende Differenzierung zwischen archivischer und bibliothekarischer Zuständigkeit für Nachlässe aufgrund der Zweckbestimmung des Materials85 wurde zeitweise aufgegeben zugunsten einer Aus-weitung der Archivgutdefinition. Ausdrücklich wurden auch Nachlassunterlagen, die aus

„literarischer Tätigkeit“ erwachsen waren, unter dem Archivgutbegriff gefasst.86 Nachlässe wurden als „ehemalige Registraturen […] gleichgültig, welchen Beruf der Nachlasser ausgeübt hat, ob in Literatur, Kunst und Wissenschaft, in Politik, Regierung, Verwaltung, Kirche oder Rechtspflege, Diplomatie oder Heerwesen, Wirtschaft oder Technik“87, definiert. Indem die Zuständigkeit nicht mehr von der Zweckbestimmung, sondern von der Entstehung der Unterlagen hergeleitet wurde, und das Archivgut als

„ehemaliges Registraturgut […], das als schriftlicher Niederschlag aus einer geschäftlichen Tätigkeit im weitesten Sinne, einer Tätigkeit schlechthin, hervorgegangen ist“88 definiert wurde, wurden Nachlässe unabhängig von ihrer disziplinären Zugehörig-keit von extremen Positionen in die – nicht immer nur methodische – ZuständigZugehörig-keit der Archive verwiesen.

Unabhängig von der Diskussion um die Spartenzugehörigkeit der Literaturarchive wurde die archivische Zuständigkeit für Nachlässe von dem Selbstverständnis der kommunalen und staatlichen Archive hergeleitet, das im Zuge der Kontroverse vereinzelt auch überspitzt formuliert wurde. Der Archivar sollte für die „Gesamtgeschichte“ zuständig sein, Archivgut wurde zu „Geschichtsgut“, auch die Dokumentation der „literarischen

81 Teitge 1972, S. 149.

82 Ott (2003), S. 85.

83 Teitge (1972), S. 133.

84 Zu den Definitionen s. auch Nimz (2001).

85 Vgl. z.B. Brennecke (1953), S. 32ff..

86 Meisner/Leesch (1960), S. 142.

87 Meisner (1959), S. 119.

88 Flach (1955), S. 7.

Seite menschlichen Wirkens“ sollte einbezogen werden.89 Durchgesetzt hat sich als Selbstverständnis, dass Archive ihre Zuständigkeit nicht nur in der rechtlichen Beweissicherung und der „Dokumentation [des jeweiligen] administrativen Trägers“90 sehen, sondern sich als Institutionen mit geschichtswissenschaftlicher Funktion91 und einer Ausrichtung auf historische Fragestellungen begreifen. Aus diesem Selbst-verständnis heraus wurde dem „zuständigkeitsgebundenen Archivgut“, das „[...] kraft Herkommens, Gesetzes- oder Verwaltungsvorschrift vom Archiv übernommen wird“, auch im Hinblick auf die Sammlung von persönlichen Nachlässen das „archivische Sammlungsgut“92 als sammelwürdiges Quellenmaterial gegenübergestellt. Heinz Boberach formulierte in seinem Aufsatz Dokumentation im Archiv 1963:

„Schon längst haben aber Archivare erkannt, daß das so gewonnene [gemeint ist das zuständigkeitsgebundene Archivgut, Anm. der Verf.] Archivgut als Quelle nicht ausreicht und ergänzt werden muß; sie begannen, Dokumente zu sammeln und damit Dokumentation zu betreiben […]. Zu denjenigen Quellen, die am längsten von Archiven gesammelt werden, gehören die Nachlässe.“93

Dass sich dieser erweiterte Archivgutbegriff durchgesetzt hat, zeigt sich z.B. in aktuellen deutschen Archivgesetzen. Vielfach finden sich dort Begriffsbestimmungen, die diesen erweiterten Archivgutbegriff zu Grunde legen und auch Nachlässe umfassen.94 Als wesentliche Merkmale des Archivguts wurden über die Jahrzehnte hinweg – auch als Abgrenzung zum Bibliotheksgut – „Vertikalbindung, Horizontalbindung und [der]

Funktionswandel“95 hin zur historischen Quelle sowie die „Archivwürdigkeit“96, die

„Einmaligkeit“97 der Unterlagen und das „Merkmal der Provenienz“98 angesehen.

Von bibliothekarischer Seite wurden nicht alle archivarischen Definitionen ohne Ein-schränkung anerkannt. Mit dem Ziel, zumindest literarische und wissenschaftliche sowie künstlerische Nachlässe in die Zuständigkeit der Bibliotheken zu verweisen bzw. dort zu belassen wurde auf die Ausweitung eines Archivgutbegriffs, der auch alle Arten von Nachlässen umfassen sollte, reagiert. Als Unterscheidungsmerkmal von Registraturgut und Nachlässen wurde auf die „amtliche Natur“ des Registraturguts, die

89 Holz (1956), Sp. 353f..

90 Bernd (1978), S. 11.

91 S. hierzu: Rogalla von Bieberstein (1975), S. 22.

92 Bernd (1978), S. 9. Der Begriff umfasst in dieser Definition auch zuständigkeitsfreies Archivgut.

93 Boberach (1963), Sp. 210.

94 Ein ausführlicher Vergleich der Archivgutdefinitionen in deutschen Archivgesetzen findet sich bei

Schreckenbach (2000).

95 Schmid (1981), S. 65.

96 Meisner /Leesch (1960), S. 142.

97 Nimz (2001), S. 77.

98 Ebenda, S. 77.

pflicht“ und die „Aufnahmepflicht“99 der Archive sowie das Prinzip der „gesetzlichen Automatik“100 verwiesen. Otto Wenig formulierte,

„es [sei] nicht einzusehen, warum so wenig zweckgebundene, widersprüchige, nicht der Verpflichtung, sondern dem Zufall unterworfene, bezüglich der Herkunft lediglich an den Namen gebundene Sammlungen wie die Nachlässe physischer Personen Registratur sein sollen und warum sie, wenn sie es wären, damit eo ipso Archivgut wären.“101

Auch die Eigentumsverhältnisse wurden als Argument angeführt, Nachlässe als Bibliotheksgut zu definieren. Während Nachlässe Eigentum von Einzelpersonen oder deren Erben seien und aufgrund der Verfügungsberechtigung dieser Personen nicht ohne weiteres in öffentliches Eigentum überführt werden könnten, gehöre ein Aktenstück nicht dem Verfasser desselben, sondern dem Amt.102 Das Aktenstück unterliege damit der Zuständigkeit eines Archivs, ein persönlicher Brief z.B. als Bestandteil eines Nachlasses hingegen nicht.

Wie das Archiv und seine Sammlungsgüter war auch die Begriffsbestimmung von Bibliothek und Bibliotheksgut Gegenstand der Kontroverse. Von bibliothekarischer Seite wurde die gesellschaftliche Funktion der Bibliotheken herausgestellt, sie wurden definiert als „zur Benutzung geordnet aufgestellte Sammlung literarischer Dokumente, deren Aus-wertung bestimmten gesellschaftlichen Zwecken dient“.103 Scheint die Sammlung literarischer Nachlässe durch Bibliotheken bereits durch diese Definition legitimiert zu sein, wird die bibliothekarische Zuständigkeit durch die Definition der literarischen und wissenschaftlichen Nachlässe sowie Autografen als „unmittelbare Ergänzung des Bücherbestandes“104 noch weiter verstärkt. Nachlasser wurden als Autoren verstanden, ihre Werke als „unmittelbare Vorstufe[n] der gedruckten Literatur, als Quelle der Biographie und der Bibliographie“105 beschrieben. Dass sich daraus für den Benutzer eine günstige Forschungsumgebung durch das Vorhandensein von Primär- und Sekundär-literatur zu einem Nachlasser ergibt, wird vergleichsweise selten als Argument angeführt,106 wenn auch eine Empfehlung der Kultusministerkonferenz 1979 darauf hinwies, dass zur „wissenschaftlichen Auswertung eines Nachlasses […] die notwendige gedruckte Literatur (Werkausgaben, Übersetzungen, Sekundärliteratur) von den sammelnden Bibliotheken und Literaturarchiven möglichst weitgehend bereitzuhalten“107 ist. Der archivalische Charakter der Nachlässe und die Notwendigkeit, diese Bestände

99 Teitge (1972), S. 136f..

100 Hoffmann (1957a), S. 24.

101 Wenig (1959), S. 6.

102 Hoffmann (1957a), S. 25f.; vgl. auch die Darstellung bei Teitge (1972), S. 137.

103 Kunze (1956), S. 10.

104 Hoffmann (1957a), S. 25.

105 Teitge (1972), S. 133.

106 Zeller (1974), S. 19; hier mit Bezug auf den Vorteil größerer Institutionen.

107 KMK (1980), S. 68.

nach archivischen Grundsätzen zu behandeln, fand auch in den bibliothekarischen Beiträgen Zustimmung,108 ohne davon allerdings eine Zuständigkeit der Archive auch für literarische und wissenschaftliche Nachlässe abzuleiten. Die Kontroverse zwischen Bibliotheken und Archiven zeigt sich einmal mehr in der Sicht der Archive auf die Bibliotheken. Betonen die archivarischen Definitionen beim Archivgut die durch die Aufnahme in ein Archiv sich vollziehende Funktionsänderung vom Geschäftsschriftgut zur historischen Quelle, wird in Bezug auf Bibliotheksgut festgestellt, dass beim Bibliotheksgut generell keine Zweckänderung mit der Aufnahme in eine Bibliothek verbunden sei. Nachlässe, die durch die Aufnahme in eine Institution zu historischen Quellen werden, passten daher nicht zum Konzept des bibliothekarischen Sammlungs-guts, sie wurden als „dokumentarische Fremdkörper“109 in den bibliothekarischen Sammlungen bezeichnet. Auch dem Argument der Bibliothekare, literarische Nachlässe gehörten als Vorstufen der Literatur in bibliothekarische Zuständigkeit sowie dem seltener vorgebrachten Hinweis auf eine günstigere Umgebung für Benutzer, wussten die Archivare zu begegnen:

„Diese Behauptung müßte für jeden Nachlaß gelten, denn auch Politiker, Staatsmänner, Militärs usw. pflegen nicht selten homines literati zu sein […]. Wer in Archiven arbeiten will, muß zunächst sein ‚Literatursoll‘ erfüllt, d.h. das erforderliche Bücherstudium hinter sich gebracht haben […].“110

Unter dem Titel Kulturelle und wissenschaftliche Sonderaktivitäten von Bibliotheken111 wies Wilhelm Totok u.a. auf den Bereich der Nachlassbearbeitung in Bibliotheken hin.

Totok zählt dort die Sammlung von literarischen und wissenschaftlichen Nachlässen zu den Bereichen, die zwar „prinzipiell unter die allgemeinen bibliothekarischen Kategorien des Sammelns und Erschließens“ fallen, aber durch die allgemeinen Definitionen nicht abgedeckt sind.112 Als Aufgabe von Bibliotheken ist die Sammlung von Nachlässen in den bibliothekarischen Positionspapieren verankert. Sowohl im Bibliotheksplan 1973113 als auch in Bibliotheken '93114 ist die Sammlung von Nachlässen und Autografen den Bibliotheken der Funktionsstufen 3 und 4 zugewiesen. Explizit erwähnt werden die Autografen und Nachlässe der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz115

108 Z.B. Hoffmann (1957a), S. 27; Lülfing (1962), S. 81; Schmidt (1965), S. 71ff..

109 Meisner (1959), S. 120.

110 Ebenda, S. 127.

111 Totok (1986).

112 Ebenda, S. 31.

113 Bibliotheksplan 1973, S. 17ff..

114 Bibliotheken ´93, S. 35; hier: “kulturelle und wissenschaftliche Überlieferung unabhängig von der

Medienform” sowie S. 50ff..

115 Ebenda, S. 51.

sowie der Bayerischen Staatsbibliothek.116 Das Deutsche Exilarchiv 1933-1945 wird allgemein als Sondersammlung genannt.117

Grundprinzipien der Nachlasserschließung in der Diskussion

Der Disput zwischen Archivaren und Bibliothekaren beschränkte sich aber nicht nur auf die Frage der Zuständigkeit im Sinne der verwahrenden Institution, sondern auch die Prinzipien der Nachlasserschließung wurden thematisiert (zu den Methoden s. Kapitel 2.2).

Die Archivare sahen als adäquate Methode zur Nachlassbearbeitung die archivische Erschließung mit den Elementen Provenienzprinzip, Faszikelbildung sowie die Ordnung und Verzeichnung nach sich aus dem Material ergebenden Gesichtspunkten an.118 Der archivalische Charakter119 aller Nachlässe und in der Folge die Erschließung nach archivischen Prinzipien wurde nicht nur von extremen Positionen, sondern auch von denjenigen betont, die weiterhin an einer Aufteilung des Nachlassguts zwischen Bibliotheken und Archiven festhielten.120 Von den an der Diskussion beteiligten Archivaren wurde die bibliothekarische Herangehensweise kritisiert, die „in dem alten System verhaftet geblieben“ sei und „bis vor kurzem noch dazu [neigte], Nachlässe aufzulösen“.121 Selten aber wurde diese Kritik über den Vorwurf der mangelnden Berücksichtigung des Provenienzprinzips hinaus konkretisiert.

Die bibliothekarischen Beiträge bilden in Bezug auf die Grundpraxis der Nachlassordnung kaum Gegenpositionen, das Provenienzprinzip als Basis der Nachlassbearbeitung und die Erschließung nach archivischen Grundsätzen werden in vielen Beiträgen anerkannt.122 Von bibliothekarischer Seite wird jedoch zusätzlich die Forderung erhoben, bibliothekarische und archivische Verzeichnungs- bzw. Katalogisierungsmethoden zu verbinden. Dabei werden auch die Anforderungen der Benutzer als Argument angeführt:

„Jedoch sollte der Gedanke einer vollständigen Verzeichnung aller Briefschreiber in einer Autographen- und Nachlaßsammlung in der eingeschränkten Form eines durchlaufenden alphabetischen Registers für alle Sammlungskomplexe nicht aufgegeben werden, zumal die Benutzer in sehr vielen Fällen nach dem von bestimmten Briefschreibern insgesamt vorhandenen Material fragen.“123

116 Ebenda, S. 53.

117 Bibliotheksplan 1973, S. 19; Bibliotheken ´93, S. 51.

118 Vgl. Flach (1955), S. 6ff..

119 Vgl. Kolankowski (1957), S. 123.

120 So z.B. bei Kolankowski (1957), S. 125.

121 Mommsen (1963), S. 60.

122 Vgl. z.B. Hoffmann (1957a), S. 27ff.; Lülfing (1962), S. 84; Dachs (1965), S. 82; Teitge (1972), S. 152.

123 Lülfing (1962), S. 84.

Ein Grundprinzip der bibliothekarischen Erschließung (literarischer) Nachlässe, nämlich den Zugang zum Material über die Person in unterschiedlichen Funktionen (z.B.

Verfasser, Adressat) herzustellen, wird hier bereits deutlich.

Die auf Bücher und mittelalterliche Handschriften ausgerichtete bibliothekarische Erschließungspraxis wurde weder von den Archivaren noch von den Bibliothekaren als adäquate Methode zur Nachlasserschließung darstellt, wenn auch Kernelemente der bibliothekarischen Formalerschließung auf die Katalogisierung von Nachlässen übertragen wurden (vgl. dazu Kapitel 2.2.1).

Aus heutiger Sicht auf die Diskussion scheint es, dass die Grundprinzipien der Nachlass-erschließung weniger kontrovers diskutiert wurden als die Frage der Zuständigkeit.

Bereits in frühen Beiträgen besteht Konsens zumindest darüber, dass Nachlässe nach dem Provenienzprinzip zu behandeln sind.

Die dennoch vorhandenen Unterschiede zwischen der bibliothekarischen und der archivischen Nachlasserschließung - im Bereich der Bestandsordnung und der Verzeichnung – werden in Kapitel 2.3 dargestellt.

Ergebnisse der Kontroverse und die Abgrenzung aus heutiger Sicht

In aktuellen Darstellungen finden sich Definitionen von Archiv und Bibliothek, die Nachlässe als Schnittmenge des Sammlungsguts von Bibliotheken und Archiven benennen, bzw. sich in der Beschreibung der Einrichtungen und deren Sammlungsgütern von dem früheren Ausschließlichkeitsanspruch entfernt haben.124 In der Frage der Nachlassdefinition fanden schon früh Annäherungen statt. So schloss sich Karl Dachs aus bibliothekarischer Sicht der Nachlassdefinition des Archivars Wolfgang Mommsen an:

„Nachlaß ist dasjenige Schriftgut, das sich bei einem Nachlasser im Laufe seines Lebens organisch gebildet hat.“125 Auf dieser offenen Nachlassdefinition basieren viele nachfolgende. Auch in den Regelwerken zur Nachlasserschließung wird Nachlass bzw.

persönliches Schriftgut in Anlehnung an diese Formulierung definiert.126

Ein Blick in die Definitionen aktueller fachwissenschaftlicher Publikationen zeigt dennoch, dass die Kontroverse um die Zuständigkeit und die Auseinandersetzung um die Erschließungsmethoden noch nicht ganz abgeschlossen zu sein scheint. In Lexikon Buch, Bibliothek, Neue Medien heißt es:

„Schriftliche Nachlässe können je nach der Person ihres ehemaligen Eigentümers Verschiedenartiges enthalten: veröffentlichte und unveröffentlichte Manuskripte nebst Entwürfen, an ihn gerichtete Briefe, eventuell auch Abschriften eigener

124 Nimz (2001), S. 74f.; Die moderne Bibliothek (2004), S. 12f.; Strauch (2007), S. 19.

125 Dachs (1965), S. 82.

126 Vgl. hierzu Bestandserschließung (1996), S. 21; Treffeisen (2007), S. 311; RNA (2009), S. 9.

Briefe, Tagebücher, Notizbücher, persönliche Urkunden u.a.m.. […] Die Zuständigkeit für die Nachlässe zwischen den Bibliotheken und den Archiven ist strittig.“127

Der Disput um die Zuständigkeit für Nachlässe wirkt im Rückblick unergiebig, die zuge-spitzten Positionen, die etwa die ausschließliche Zuständigkeit der Archive für alle Arten von Nachlässen propagierten, sind aus heutiger Sicht nicht haltbar und können als hin-fällig gelten. Ebenso wenig hat sich aber eine strikte Aufteilung nach Nachlassarten durchgesetzt. Tendenziell, nicht aber generell, werden literarische, wissenschaftliche und künstlerische Nachlässe von Bibliotheken und Literaturarchiven, Nachlässe von Politikern u.a. von Archiven verwaltet. Eine generelle Aufteilung nach Nachlassarten ist aus unterschiedlichen Gründen nicht durchhaltbar. Mangelnde Kapazitäten sammelnder Institutionen oder auch die Unmöglichkeit einer eindeutigen Zuständigkeitszuweisung z.B. bei literarisch tätigen Politikern128 sind dafür Beispiele. Die Absicht, archivische bzw.

bibliothekarische Kompetenz für diese Art von Material zu beweisen, hat in der Schärfe des Disputs zu einer Verhärtung beigetragen und eine Annäherung von Bibliotheken und Archiven in Fragen der Nachlasserschließung im Sinne einer Zusammenarbeit auf Regel-werks- und Katalogebene verzögert. Ein Versäumnis, das bis heute spürbar ist und vor dem Hintergrund der Vielzahl unerschlossener Bestände umso unverständlicher wirkt.

Die Auseinandersetzung um die Zuständigkeiten für Nachlässe hatte aber den positiven Effekt, Nachlässe ins Blickfeld zu rücken und die Methoden ihrer Erschließung kritisch zu hinterfragen.

Heute kann die Frage nach einer Abgrenzung von Archiv und Bibliothek (und Museum) - besonders im Hinblick auf Überschneidungsbereiche wie die Zuständigkeit für Nachlässe – neu gestellt werden. In Zeiten des Internets und der von Zeit und Raum losgelösten Verfügbarkeit von Erschließungsergebnissen und zunehmend auch von Digitalisaten oder zumindest Surrogaten wie Inhaltsverzeichnissen verschwimmen die Grenzen vor allem aus Benutzersicht. Auf diese Entwicklung wird im weiteren Verlauf der Arbeit noch Bezug genommen.