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Humanismus und Utilitarismus: Newman und Arnold vs. Bentham und Mill

4. Bildungsideale und Grundpositionen in Nordamerika: Universitätsromane als Aus- druck der gesellschaftlichen Bildungsdiskussion

4.2. Humanismus und Utilitarismus: Newman und Arnold vs. Bentham und Mill

4.2. Humanismus und Utilitarismus: Newman und Arnold vs. Bentham und Mill

Wie in der englischen Bildungsdebatte wird auch in Nordamerika eine grundsätzliche Opposi-tion von Inhalts- und FunkOpposi-tionsbestimmung innerhalb der Bildungskonzepte sichtbar, die als Dichotomie von Humanismus und Utilitarismus das Verhältnis zwischen Hochschule und Gesellschaft bestimmt. Dabei erhebt die utilitaristische Bildungstheorie den Anspruch einer direkten Funktionalisierung der universitären Bildung und Erziehung, wohingegen der huma-nistische Ansatz Erkenntnis, Bewahrung und Vertiefung von Wissen als eigenständigen Wert und Wertungskriterium anerkennt.71 Beide Positionen sind im 19. Jahrhundert in Europa und Nordamerika bildungstheoretisch von Bedeutung und nehmen Einfluss auf die Diskussion um Funktion und Sinn universitärer Bildung im 20. Jahrhundert.

Das humanistische Menschenbild hat seinen Ursprung bei Platon, dessen Konzept von Carlo Schmid in Das humanistische Bildungsideal (1956) als eine “Menschenbildung von der Idee des Menschen aus und auf die Idee des Menschen hin“ charakterisiert wird (Schmid 1956: 8). Er gibt der Bildung ein direkt auf den Menschen, den Staat und die Gesellschaft, auf die Polis hin orientiertes Wesen. Eine von den vom Volk geprägten Formen und Entwicklun-gen losgelöste Bildung ist für ihn nur Wisserei, keine Bildung. Platon legte damit laut James Jarret den Grundstein noch heute gültiger humanistischer Prinzipien: “But [...] in order to know what man should do, we must inquire what man is, for surely duty and ideal must be based upon capacity and potentiality. Everything has its aretê, its peculiar excellence or power or virtue, and until we discover the aretê of man, which we must assume to be different from that of a horse or a god or a knife, we are stumbling blindly in our pursuit of the life.“ (Jarrett 1973: 7). Die aretê, ein unübersetzbares Wort aus dem Altgriechischen, das alles einschließt, was menschliche Größe und Würde bedeutet, ist das Ziel humanistischer Bildung und Erzie-hung. Der moderne Nützlichkeitsgedanke in heutiger Form war und ist diesem Bildungsideal dabei fremd: “There is such a thing as a subject in which we must educate our sons, not be-cause it is necessary, but bebe-cause it is fine and worthy of free men. [...] To seek utility every-where is by no means the way of free men with a sense of their own dignity.“ (Aristoteles zitiert nach Jarrett 1973: 10).

Dieses im humanistischen Konzept zentrale griechische Menschenbild, in dem der Mensch durch alles, was die Würde und Größe des Menschen ausmacht, und durch eine direkte Ver-bindung von Leib und Seele erst zum Menschen an sich wird,72 wurde von den Römern als

71 Vgl. dazu auch Borchardt 1997: 38ff.

72 Vgl. dazu Schmid 1956: 7ff.

Kapitel 4: Bildungsideale und Grundpositionen in Nordamerika 86

beispielgebend empfunden und im Sinne eines Kulturkonzepts weiterentwickelt: “Der Huma-nismus als Kulturform ist römisch“, weiß Ernst Howald zu berichten (Howald 1957: 7). So geht auch die Richtung, die das Denken für Jahrhunderte nehmen sollte, auf das römische Adjektiv humanus zurück, das sowohl die deutsche Bedeutung “menschlich“ als auch “gebil-det“ umfasst. Bei den römischen Autoren steht das Nomen humanitas folglich nicht allein für das Menschentum als solches, sondern vor allem für eine durch Wissenschaft und Bildung verfeinerte Menschlichkeit, die Gleichgesinnte und Gebildete untereinander verbindet (Boh-len 1957: 9f.). Dieses Verständnis und diese Begrifflichkeit liegen dem zugrunde, was seit der Renaissance als humanistisch galt und sich in sehr unterschiedlichen Ausprägungen von die-ser Zeit an und besonders um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert weiterentwickelt hat.

Die Bedeutung humanistischer Bildung an den Universitäten blieb dabei unbestritten und konnte sich gegenüber zunehmenden naturwissenschaftlichen, technischen und mathema-tischen Errungenschaften zunächst problemlos behaupten, erste kritische Stimmen blieben jedoch auch nicht aus: “If the humanities retained a central place in the curriculum of the schools and universities as it did (in both Britain and the United States, the sciences were rela-tively unimportant parts of the curriculum until after the middle of the nineteenth century) the reason was more because of a kind of snob value attributed to their study than through a bet-ter-grounded defense of their importance.“ (Jarrett 1973: 36). Durch die nachhaltige Rückbe-sinnung auf die Antike und die Wiederbelebung humanistischer Prinzipien verteidigte dieses Konzept seinen Platz an der Seite der immer stärker werdenden Natur- und Wirtschaftswis-senschaften, blieb bis in die Gegenwart prägend und hat in der Haltung Heideggers noch heu-te seine Gültigkeit: „Das ist Humanismus: Sinnen und Sorgen, dass der Mensch menschlich sei und nicht unmenschlich.“ (Heidegger 1947: 7).

Im nordamerikanischen Kulturraum sind wesentliche Aspekte des humanistischen Ge-samtkonzepts, des Menschenbilds und insbesondere der Bildungstheorie bis heute in zahlrei-chen Definitionen präsent. Der sichtbarste begriffliche Rückbezug zum römiszahlrei-chen Begriff der humanitas ist heute noch in der universitären Fächerbezeichnung, den humanities, zu erken-nen. Diese werden auch ganz im Sinne griechischer und römischer Prägung von Battista Guarino herangezogen: “For learning and training in virtue are peculiar to man; therefore our forefathers called them humanities, the pursuits and activities proper to mankind.“ (zitiert nach Shore 1992: 197). Die humanistischen Fächer, die literatur- und sprachwissenschaftli-che, philosophissprachwissenschaftli-che, psychologische und historische Studiengebiete umfassen, bildeten seit der Antike die Basis jeglicher Erziehung und Bildung, sehen sich in der Neuzeit jedoch zu-nehmend Angriffen und Legitimierungsforderungen gegenüber Fächern ausgesetzt, deren

direkte gesellschaftliche Verwertbarkeit in deutlicherem Maße erkennbar ist und deren kon-krete Berufsbezogenheit einen derartigen Rechtfertigungszwang häufig überflüssig macht.

Dennoch oder auch gerade deswegen nehmen auch heute die humanities in der realen und der fiktionalen Bildungsdiskussion ihren festen Platz ein und machen eine genaue Definition und Abgrenzung für eine spätere Zuordnung der Konzepte und Positionen in den Universitätsro-manen notwendig: “The humanities are those branches of knowledge (and activity) that have a special capacity, if rightly interpreted by humane learning, to mature the intellectual and moral powers and to quicken the sensibilities of the individual“, schreibt Howard Mumford Jones gleich zu Beginn seines Werks One Great Society. (1959: 8). Jon Roush schließt sich dieser Bildungsfunktion der humanistischen Fächer an, wenn er schreibt: “The humanities [...]

share at least the task of connecting the past and present as they are manifested in the works and acts of men. [...] The objective of a humanistic education is competence in the judgement of human creations, with that judgement informed by an awareness of pertinent historical con-texts.“ (Roush 1969: 641). W.J. Ong dehnt seine Definition einer humanistischen Erziehung noch weiter aus und fordert eine klare Unterscheidung der humanities und der Naturwissen-schaften hinsichtlich des Studiengegenstands und der Zielsetzung:

Thus, there would be a division between those sciences which have as their central concern, nature; and those sciences – or perhaps better say, kinds of knowledge, focused on man. The anthropological fold would then encompass literature, education, psychology, philosophy, history, all the social sciences, and linguistics of all sort.

Their common thread is their concern, their basic and not incidental concern, with man as distinctively man. (zitiert nach Jarrett 1973: 48f.).

Im Mittelpunkt der Überlegungen zu humanistischen Merkmalen, Ausprägungen und Ent-wicklungen des Konzepts stehen John Henry Newman mit seiner Schrift On University Edu-cation (1852) und The Idea of a University (1854) und Matthew Arnold mit seinem Essay Culture and Anarchy (1869). Alle drei Abhandlungen des humanistischen Bildungskonzepts verkörpern Positionen, die in den großen Bildungsdebatten des 19. Jahrhunderts in Großbri-tannien entwickelt wurden und bis heute die reale und fiktionale Bildungsdiskussionen dort und im nordamerikanischen Raum prägen. Cordelia Borchardt schreibt dem humanistischen Bildungskonzept im 20. Jahrhundert „aufgrund der bildungstheoretischen Entwicklung und der allgemeinen kulturellen Orientierungslosigkeit“ (Borchardt 1997: 56) eine ganz neue Ak-tualität und Aufwertung zu. Die Abhandlungen und Bildungsentwürfe von John Henry

New-Kapitel 4: Bildungsideale und Grundpositionen in Nordamerika 88

man und Matthew Arnold sind dabei bis heute von zentraler Bedeutung und besonders in den Vereinigten Staaten immer wieder Bezugspunkt für die Vertreter der sog. Liberal Culture,73 die als eine speziell amerikanisch geprägte Variante des humanistischen Bildungskonzepts gilt.

John Henry Newmans On University Education (1852) stellt eine umfassende Bildung und Kultivierung des Menschen in den Mittelpunkt des Konzepts und weist der Universität die Aufgabe zu, diese “intellectual culture“ zu fördern (Newman [1852] 1933: 126f.). Im Gegen-satz zu reinen “instruction“, einer bloßen Vermittlung von Fertigkeiten, plädiert Newman für geistige Selbständigkeit und für eine gesamtgesellschaftliche Bildungswirkung. Die Universi-täten als Träger und Vermittler dieses Ideals sind ein Ort individueller und gesamtkultureller Entfaltung und daher laut Newman gegenüber dem von Vertretern des Utilitarismus formu-lierten Führungsanspruchs der Naturwissenschaften in ihrer Bedeutung unantastbar.

In seiner Schrift The Idea of a University (1854) formuliert Newman die Aufgaben der Uni-versität innerhalb dieser umfassenden Bildung noch konkreter:

but, whatever name we bestow on it, it is, I believe, as a matter of history, the

business of a University to make this intellectual culture its direct scope, or to employ itself in the education of the intellect; [...] it contemplates neither moral impression nor mechanical production; it professes to exercise the mind neither in art nor in duty; its function is intellectual culture; here it may leave its scholars, and it has done its work when it has done as much as this. It educates the intellect to reason well in matters, to reach outwards truth and to grasp it. (Newman [1854] 1907: 125).

Mit dieser Aufgabenzuweisung spricht sich Newman nicht gegen die Vermittlung von Wissen und Fertigkeiten aus, wie sie in seinen Augen meist auch von der Gesellschaft erwartet und gefordert wird, sondern weist der Universität eine weitaus umfassendere Funktion zu. Seiner Meinung nach ist Wissen nicht nur die unerlässliche Bedingung zu jeder Weitung und Öff-nung des Intellekts, sondern gleichzeitig auch ein Werkzeug, um Bildung an sich zu erlangen.

Zweck und Ziel einer Universität kann also nicht eine bloße Wissensvermittlung im Sinne einer großen Wissensmenge sein. Das rein passive Aufnehmen von Ideen, Fakten und Begrif-fen entspreche nicht einer inneren geistigen und intellektuellen Weitung, sondern erst eine eigene Beschäftigung mit den auf ihn einströmenden Ideen und Objekten könne eine

umfas-73 Siehe dazu Kapitel 4.4.

sende Bildung und Kultivierung des Menschen in Verbindung mit einer allgemeinen inneren Zufriedenheit bewirken:

There are men who embrace in their minds a vast multitude of ideas, but with little sensibility about their real relations towards each other. These may be antiquarians, annalists, naturalists; they may be learned in the law; they may be versed in statistics;

they are most useful in their own place; I should shrink from speaking disrespectfully of them; still, there is nothing in such attainments to guarantee the absence of

narrowness of mind. (Newman [1854] 1907: 135).

Trotz dieser eindeutig humanistischen Position wehrt sich Newman entschieden gegen den Vorwurf der Missachtung von fachlichen Kenntnissen und Fertigkeiten, betont den großen Wert, den fachliches Wissen für den Menschen habe, sieht aber zugleich aber auch die Gefahr der Abstumpfung des Geistes, “to load the memory of the student with a mass of undigested knowledge, [...] to force upon him so much that he has rejected all.“ (Newman [1854] 1907:

142).

Konsequent zieht Kardinal Newman in seinem Kapitel “Knowledge Viewed in Relation to Professional Skills” eine klare Grenze zwischen einer berufsbezogenen Ausbildung und einer umfassenden intellektuellen Bildung und kommt zu folgender Definition humanistischer Bildung: “This process of training, by which the intellect, instead of being formed or sacri-ficed to some particular or accidental purpose, some specific trade or profession, or study or science, is disciplined for its own sake, for the perception of its own proper object, and for its own highest culture, is called Liberal Education.“ (Newman [1854] 1907: 152). Er stellt sich auch klar hinter die Forderung nach Nützlichkeit im weiteren Sinne als Ziel von Bildung, wie sie vor allem von Kritikern des humanistischen Bildungskonzepts immer wieder in den Raum gestellt wird, und sieht den Nutzen dieser intellektuellen Bildung und Erziehung auf der Hand liegen: “he [the educated man] will be placed in that state of intellect in which he can take up any one of the sciences or callings I have referred to, or any other for which he has a taste or special talent, with an ease, a grace, a versatility, and a success, to which another is a stranger.

In this sense then, and as yet I have said but a very few words on a large subject, mental cul-ture is emphatically useful.“ (Newman [1854] 1907: 166). Eine „freie“ Erziehung steht damit auf der Skala der Nützlichkeit sogar auf einem noch höheren Rang als das, was gewöhnlich eine nützliche Erziehung genannt wird.

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In seiner Eigenschaft als Glied der Gesellschaft werde der umfassend gebildete Mensch auch seiner Verpflichtung gegenüber der Allgemeinheit gerecht - “that training of the intellect, which is best for the individual itself, best enables him to discharge his duties to society“, so Newman (Newman [1854] 1907: 177). Die Universität steht seiner Meinung nach ebenfalls ganz im Dienste der Gesellschaft und erfüllt durch eine umfassende humanistische Bildung und Erziehung deren Forderungen:

It [the University] does not promise a generation of Aristotles or Newtons, of Napoleons or Washingtons, of Raphaels or Shakespeares, though such miracles of nature it has before now contained within its precincts. [...] But a University training is the great ordinary means to a great but ordinary end; it aims at raising the intellectual tone of society, at cultivating the public mind [...] at facilitating the exercise of political power and refining the intercourse of private life. It is the education which gives a man a clear conscious view of his own opinions and judgements, a truth in developing them, an eloquence in expressing them, and a force in urging them.

(Newman [1854] 1907: 177f.).

Matthew Arnolds Culture and Anarchy (1869) ist neben Newmans The Idea of a University die bedeutendste Verteidigungsschrift des humanistischen Bildungskonzepts und orientiert sich ebenfalls an Oxford als kulturellem und universitärem Idealtypus. Beide Schriften wer-den von der nordamerikanischen Bildungsdiskussion Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgegriffen und gehen mit ihren Standpunkten und humanistischen Prinzipien in die Fiktionalisierung der Universität in der Gattung des Romans ein.74

Matthew Arnold entwickelt Newmans idealisiertes und kulturbildendes Erziehungs-ideal, das dieser in seinem direkten Entwurf von Oxford und Cambridge zeichnet, weiter und definiert Kultur zunächst als ‘study of perfection‘, als ein Streben nach Vollkommenheit. Dies beinhalte nicht die Suche nach reinem Wissen, sondern in erster Linie eine “moral and social passion for doing good“, so Arnold in Culture and Anarchy (Arnold [1869] 1963: 45).

Mit dieser theoretischen Grundlage kommt er dann zu seiner berühmt gewordenen These, was Ziel und Aufgabe jeglicher Bildung und Erziehung sei: “to make the best that has been thought and known in the world current everywhere.“ (Arnold [1869] 1963: 70). Wie New-man forderte er eine umfassende Kultivierung und Bildung des Individuums und ein

Umden-74 Siehe dazu vor allem Kapitel 5.1.- 5.4. zur Einarbeitung von Bildungskonzepten in den amerikanischen Uni-versitätsroman und zur gesamten Gattungsentwicklung von 1920 – 2000.

ken weg vom materialistischen und hin zu einem neuen kultiviert-intellektuellen Selbstver-ständnis. Der Begriff der self-culture wird zu einem der wichtigsten Leitbegriffe der bildungs-theoretischen Diskussion dieser Zeit und von Arnold im Gegensatz zu Newman nicht mehr als reines akademisches Bildungsideal interpretiert, sondern vor allem als Leitmotiv gegen-über einer immer materialistischer werdenden Gesellschaft geprägt (Weiß 1988: 72).75 Der universitären Bildung kommt analog dazu die Aufgabe der Befreiung aus der gesellschaftli-chen und sozialen Krise zu und die Hochschule steht als bildungsvermittelnde Institution für die Vermittlung von Kultur schlechthin, da sie den notwendigen Freiraum für intellektuelle und kulturelle Entwicklungen bietet. Den Naturwissenschaften spricht er jeglichen Führungs-anspruch gegenüber den humanities ab, da der Mensch in sich den Drang verspüre, “to relate these pieces of knowledge to our sense for conduct, to our sense for beauty“, so Arnold in seiner Rede “Literature and Science“ (1882), die als Gegenrede zu T.H. Huxleys “Science and Culture“ (1882) konzipiert ist und vor allem in den Vereinigten Staaten häufig für eine umfas-sende Bildungsdiskussion herangezogen wird (zitiert nach Allott 1986: 463). Diese Rede wurde in einer Fassung bekannt, die Arnold als eine von drei Vorlesungen auf seiner Reise in die Vereinigten Staaten mitnahm und vor Akademikern, vermutlich ausschließlich männli-chen, und Universitätsangehörigen vortrug.

In der universitären Lehre wird laut Matthew Arnolds Culture and Anarchy in den naturwis-senschaftlichen Fächern nur additives Wissen vermittelt, eine umfassende Bildung und das Bedürfnis, über das reine Faktenwissen hinaus moralische Wertvorstellungen zu formulieren, ist nicht gegeben. Er versucht mit geschickten rhetorischen Mittel den Lesern eine gesell-schaftliche Krisensituation vor Augen zu führen, deren einziges Heilmittel die Vermittlung von Kultur und in deren Konsequenz humanistische Bildung ist. Er warnt eindringlich vor automatisiertem und schematischem Denken, das seiner Meinung nach durch die sciences gefördert werde und einer harmonischen und gleichmäßigen Ausprägung aller menschlichen Anlagen, dem Ziel der Kultur im allgemeinen, zuwiderlaufe. Er geht gegenüber den New-manschen Prinzipien allerdings noch einen Schritt weiter, fordert eine Öffnung der Universi-tätsbildung für einen höheren Bevölkerungsanteil und spricht sich damit gegen eine elitäre und exklusive universitäre Bildung aus. Dabei wird durchaus die für ihn typische Mischung aus konservativem und progressivem Denken deutlich: Auf der einen Seite bezeichnet er die sozial schwächeren Bevölkerungsschichten als “raw and unkindled masses“, auf der anderen Seite fordert er die bereits zuvor erwähnte Öffnung des elitären Universitätssystems für diese Bevölkerungsschichten und leistet damit bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

75 Vgl. dazu auch Borchardt 1997: 58f.

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einen wichtigen Beitrag zur Bildungsdiskussion des 20. Jahrhunderts in Großbritannien und Nordamerika:

He who works for machinery, he who works for hatred, works only for confusion.

Culture looks beyond machinery, culture hates hatred; culture has one great passion, the passion for sweetness and light. [...] it knows that the sweetness and light of the few must be imperfect until the raw and unkindled masses of humanity are touched with sweetness and light. If I have not shrunk from saying that we must work for sweetness and light, so neither have I shrunk from saying that we must have a broad basis, must have sweetness and light for as many as possible. (Arnold [1869] 1963:

69).

Das höhere Bildungswesen in den Vereinigten Staaten veranlasst Arnold zu besonderer Kritik und zur Feststellung eines kulturfeindlichen Utilitarismus: “to enable and to stir up people to read their Bible and the newspapers, and to get a practical knowledge of their business, does not serve to the higher spiritual life of a nation as much as culture, truly conceived, serves;

and a true conception of culture is [...] just what America fails in.“ (Arnold [1869] 1963: 22).

Um Kultur und die daraus resultierende menschliche Vollkommenheit zu charakterisieren, greift Matthew Arnold auf die in Jonathan Swifts The Battle of the Books (1697/1704) ver-wendete Formel von “sweetness and light“ zurück, die später zum „Schlagwort in der damali-gen Kulturdebatte“ (Weiß 1988: 71) werden sollte. “Sweetness and light“ stehen dabei für die Kritik an direktem Nützlichkeitsdenken und für die Rückbesinnung auf klassische Bildungs-inhalte. Insbesondere die klassische griechische Literatur prägte dabei Swifts Verständnis von Kultur und Bildung.76

Ähnlich wie Newman kann auch Arnold der Kultur und damit der humanistischen Bil-dung einen gesellschaftlichen Nutzeffekt zuweisen, da Kultur sich nicht allein auf das

Ähnlich wie Newman kann auch Arnold der Kultur und damit der humanistischen Bil-dung einen gesellschaftlichen Nutzeffekt zuweisen, da Kultur sich nicht allein auf das