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Akademische Institutionen in Fiktion und Realität: Zur Problematik der

Spiegelfunktion und des dokumentarischen Charakters von Universitätsromanen

Das Verhältnis zwischen realer Institution und fiktionaler Darstellung einer Universität wirft eine der dominierenden Fragen zu Beginn dieser Untersuchung und vor einer detaillierten Textanalyse auf. Cordelia Borchardt sieht in der für die Universitätsromane „typischen Domi-nanz der universitären Welt eine direkte Referentialisierbarkeit auf die Realität“ als nahelie-gend an und kann dafür durchaus plausible Gründe anführen: So nehmen die in den literari-schen Texten präsentierten Universitäten und Colleges häufig Namen traditionsreicher und in der Realität existierender Universitäten wie z. B. Harvard, Yale, Princeton, etc. an. Auch sind Anspielungen auf reale Universitäten teilweise schon in den Namen der fiktiven Hochschulen enthalten und für die Leser offensichtlich. Dies trifft z.B. auf das Sanford College im Roman von Percy Marks zu, dessen sprachlicher Bezug leicht zu erkennen ist, und auf Randall Jarells Roman Pictures from an Institution (1954) zu, in dem die Universität den Namen Benton Col-lege trägt und so eine direkte Referenz zum realen Bennington ColCol-lege nahe legt. Geographi-sche und architektoniGeographi-sche Beschreibungen, Straßen- und Landschaftsnamen und andere typi-sche Kennzeichen des universitären Milieus finden sich häufig in so detailgetreuer Beschrei-bung in den literarischen Texten wieder, dass ein gewisser Realitätsbezug nur schwer abzu-streiten ist (Borchardt 1997: 17f.).

Vor allem die ältere Forschung geht daher von einer allgemeinen Spiegelfunktion der Univer-sitätsromane aus. Richard Boys erwartet zum Beispiel in seiner frühen Studie zum amerikani-schen Universitätsroman eine Darstellung „which deals fairly and honestly with the subject, one which will capture the intricacies of college life“ (Boys 1946: 387) und damit eine direkte Zustandsbeschreibung einer realen Institution. Mortimer Proctor, der mehr als zehn Jahre nach Boys seine Studien zum amerikanischen Universitätsroman veröffentlicht, geht ebenfalls vom Kriterium des Realismus in den literarischen Texten aus und beurteilt deren Qualität nach dieser Meßlatte: “Thus the university novels have always had to a large extent the

quali-ty of the documentary about them. […] They have recorded, with surprising accuracy, the issues of reform, […] perhaps as accurately and certainly more vividly than could my memoir or official account.” (Proctor 1957: 187). Er sieht die Gattung in sehr engem Zusammenhang mit der Entwicklung der Institution selbst und kann als Leistung dieser Gattung ihren Beitrag zur Dokumentation der amerikanischen Universitätsgeschichte festmachen.14 Die Erörterung von Bildungsfragen und der Beitrag zur allgemeinen Bildungsdiskussion wird von ihm zwar durchaus honoriert, jedoch in direkter Anbindung an die Darstellung realer Universitäten ge-sehen und entsprechend beurteilt (Borchardt 1997: 19).

Eine zweite Gruppe von Studien zum Universitätsroman geht von einer partiellen Spiegelfunktion aus und sieht laut Cordelia Borchardt den Universitätsroman als „historisch-soziologisches Belegmaterial, um Charakteristika der realen Institution zu erforschen.“ (Bor-chardt 1997: 19). Philip Hobsbaum gehört mit seiner Studie "University Life in English Ficti-on" (1964) zu den Vertretern dieses Ansatzes und sieht die Leistung der Universitätsromane in der Erschließung emotionaler Elemente des Universitätsmilieus, die auf rein rationalem Wege nicht deutlich gemacht werden können. Daher unterstützt er in seinem Artikel die Funktion der Universitätsromane als partiellen Spiegel des realen Universitätslebens: “A whi-te Paper can give us the general patwhi-tern , but it may not whi-tell us how it feels to be an undergra-duate.“ (Hobsbaum 1964: 139). Die einzelnen literarischen Texte werden dabei durchaus sys-temkritisch betrachtet, inhaltliche Ausprägungen finden weniger Beachtung. Der dokumenta-rische Wert der einzelnen Texte für die Leser ist dabei vor allem in der Erschließung nichtra-tionaler Aspekte zu sehen, verbunden mit der Möglichkeit, von diesen auf wesentliche Merk-male der realen Institution schließen zu können.

Ulrike Dubber stellt in ihrer Studie Der englische Universitätsroman (1991) einen neuen An-satz zur Problematik der Spiegelfunktion des Universitätsromans vor. Der Informationsgehalt der einzelnen Romane in Bezug auf das jeweilige nationale Universitätssystem wird anhand von 20 Universitätsromanen der Nachkriegszeit untersucht und eine Kategorisierung mit Hilfe eines „Maßstabs, an dem sich der Realitätsgehalt der literarischen Darstellung universitärer Organisations- und Machtstrukturen überprüfen lässt“ (Dubber 1991: 160) vorgenommen.

Sollte dieses Kriterium nicht ausreichend von den Einzeltexten erfüllt sein, so deutet sie dies keineswegs als mangelnde Textqualität, sondern sieht darin eine Option, institutionelle oder gesellschaftliche Kritik mittels fiktionaler Bearbeitung zum Ausdruck zu bringen. Die Uni-versität als „sozialer Mikrokosmos“ wird bei ihr zum „metonymischen Abbild der

14 Zu Proctor vgl. auch Weiß 1988: 7ff.

Kapitel 1: Einleitung 19

sellschaft, so dass die meisten Universitätsromane als “fiktionalisierte Soziologie“ charakteri-siert werden können (Dubber 1991: 223).15

Eine weitere Gruppe von Untersuchungen dieser Literaturgattung verweist unter ande-rem mit Frederic Carpenter und seinem Aufsatz “Fiction and the American College“ (1960) auf die durchweg negative und defizitäre Wahrnehmung der gespiegelten Universität hin.

Wenn Carpenter von einer fehlenden “modern creative imagination“ (Carpenter 1960: 443) spricht, so zeugt dies nicht nur von einer seiner Meinung nach existierenden Verunglimpfung der universitären Institutionen, sondern in erster Linie auch von einer defizitären Wahrneh-mung seitens der AutorInnen, die er für die gesamte Inferiorität der Gattung des Universitäts-romans verantwortlich macht: “And yet the criticisms of the American college suggested by these novels may suggest as much fault in the novelists as in their subjects. For each criticism suggested may also be seen as the reverse of the virtue not seen; and the failure of the novel-ists to recognize the potential virtue suggest a reason for their failure to produce first-rate novels.” (Carpenter 1960: 455f.).

Einen ganz anderen Gedanken bezüglich der allgemeinen Spiegelproblematik greift Cordelia Borchardt auf, die kein Defizit auf Seiten der AutorInnen suchen möchte, sondern von einer grundsätzlich verschiedenen Informiertheit der RezipientInnen ausgeht: Die Leser, die dem universitären Milieu nicht selbst angehören, werden eher allgemeine Kennzeichen als reali-tätsgetreue Darstellungen erkennen, während bei Universitätsangehörigen, die sowohl als Li-teraturwissenschaftlerInnen als auch als SchriftstellerInnen in diesem Bereich tätig sein kön-nen, eine stärkere Polarisierung in ihrer Rezeptionshaltung eintritt, da ihr Berufsfeld ihnen sehr viel detailliertere und in ihrer direkten Umgebung überprüfbare Informationen an die Hand gibt (Borchardt 1997: 18). Wolfgang Weiß hat diesen Unterschied in der Rezipienten-haltung auf den Punkt gebracht und auf diese zweite Gruppe zugespitzt formuliert: „De te fabula narratur.“ (Weiß 1988: 11). Er betont dabei die Schwierigkeit, die es offensichtlich LiteraturwissenschaftlerInnen bereitet, ihr eigenes berufliches Umfeld zu fiktionalisieren. In seiner Definition der Gattung verweist er in diesem Zusammenhang auch auf die Möglichkeit

„realistischer Mimesis“, die sich bis in den Bereich exakter realistischer Universitätsbeschrei-bungen erstrecken kann (Weiß 1988: 11), sich aber im heutigen Universitätsroman nicht durchsetzen konnte.

Ansgar Nünning hat in seinem Beitrag „Narrative Formen und fiktionale Wirklichkeitskon-struktionen aus der Sicht des New Historicism und der Narrativik“ (1992) den englischen Roman im 18. Jahrhundert auf das Verhältnis zwischen gesellschaftlicher Realität und

15 Vgl. zu Dubber auch Borchardt 1997: 20f.

naler Wirklichkeitskonstruktion untersucht. Dieses Modell scheint in Teilen auf die Gattung des Universitätsromans übertragbar. Die Unterscheidung zwischen literarischer Mimesis und dem ästhetischen Begriff der Poesis ist dabei ausschlaggebend: Der Mimesis kommt dabei eine nachahmende und wirklichkeitsnahe Rolle zu, während die Poesis in klarer Abgrenzung dazu den literarischen Texten zugesteht, „mit ihren erzählerischen Gestaltungsmitteln eigen-ständige fiktionale Wirklichkeitsmodelle zu erzeugen.“ (Nünning 1992: 199f.). So steht bei letzterer Annahme, die auch in die Überlegungen der vorliegenden Arbeit einfließen soll, die Frage im Mittelpunkt, welche Idee des Menschen, der Wirklichkeit, der Institution durch die fiktionale Form von Romanen erzeugt, bekräftigt oder auch kritisiert werden kann. Die ein-zelnen Texte werden dabei als „historischer Faktor sui generis“ (Nünning 1992: 199) verstan-den, die in einer komplexen (Wechsel-) Wirkung zur gesellschaftlichen und kulturellen Ent-wicklung stehen.

Eine neuere Forschungslinie innerhalb der Studien zum Universitätsroman, die einen theoreti-schen Kerngedanken der vorliegenden Arbeit darstellt, geht von einem komplexen Diskurs-charakter der Gattung aus, ein Diskurs über „Aufgabe und Funktion der Universität“ inner-halb der „spannungsreichen Beziehung zwischen der relativ abgeschlossenen Institution Uni-versität und der Gesellschaft“ (Borchardt 1997: 24 und Weiß 1988: 22). Dabei liegt die Kon-zentration der einzelnen Romane mit je nach Roman unterschiedlichem Schwerpunkt sowohl auf dem Verhältnis zwischen Hochschule und Gesellschaft als auch auf der Literarizität der Texte selbst (Borchardt 1997: 24). John Lyons ist innerhalb der Studien zum amerikanischen Universitätsroman einer der ersten, der die Gattung als Forum der bildungspolitischen Thema-tik ansieht und eine Korrelation zwischen fiktionalen und nichtfiktionalen Bildungsdebatten in den Vereinigten Staaten beobachtet. Er versucht, die Universitätsromane und den jeweili-gen gesellschaftlichen Hintergrund als Diskurs über Sinn und Ziel von Bildung miteinander in Beziehung zu setzen, den dokumentarischen Wert nicht allzu sehr hervorzuheben, sondern ganz auf eine Diskursfunktion zu beschränken. Auf diese Annahme baut Wolfgang Weiß sei-ne Gattungsdefinition auf16 (Weiß 1988: 22) und es gelingt ihm so, eine Verbindungslinie zwischen der traditionell angenommenen Spiegelfunktion des Universitätsromans und nicht-fiktionalen Bildungstendenzen zu ziehen. Dem Text kommt dabei eine Vermittelungsebene zu, die es ermöglicht „wesentliche Züge dieser Institution […] in den fiktionalen Gesamtent-wurf der Handlungswelt“ (Weiß 1988: 20) aufzunehmen und die Diskursfunktion zu bestäti-gen. Dabei sind die bildungsthematischen Veränderungen innerhalb der Gattung in direktem Zusammenhang mit den institutionellen Reformen und Entwicklungen zu sehen. Es fehlt

16 Siehe dazu Kapitel 1.1. zur Gattungsdefinition.

Kapitel 1: Einleitung 21

bei nicht an selbstkritischer Perspektive und dem Hinweis, dass eine derartige „historische Skizze“ durchaus problematisch sein kann. Dieser Ansatz von Wolfgang Weiß kann bezüg-lich der Spiegelfunktion des Universitätsromans grundsätzbezüg-lich als neuester und aktuell gülti-ger Forschungs- und Erkenntnisstand angesehen werden, der allenfalls durch die auf Weiß’

Untersuchung zum amerikanischen Universitätsroman nachfolgende Studie zum englischen Universitätsroman von Heinz Antor (1994/1995) ergänzt wird.

Heinz Antor stellt heraus, dass eine „Gegenüberstellung unterschiedlicher Positionen und ein-ander widersprechende Wirklichkeitsentwürfe auf den verschiedenen Ebenen, und zwar so-wohl innerhalb einzelner Universitätsromane als auch zwischen verschiedenen Universitäts-romanen sowie zwischen Romanen und außerliterarischen Texten oder auch zwischen nicht-fiktionalen bildungstheoretischen Texten“ (Antor 1994/1995: 9) vorzufinden ist. Er geht da-her von einer Vielfalt von Positionen und Standpunkten aus, die eine „heterogene Praxis sinn-stiftender und Wirklichkeit konstituierender ideologischer Akte bilden“ (Antor 1994/1995: 8) und schließt sich einer poststrukturalistisch geprägten Problematisierung der Grenze zwischen Fiktion und nicht-fiktionaler Realität an. Er sieht die Gattung als ein mit der „Kultur eng ver-wobenes Diskursfeld und die einzelnen Werke des Genres als historisch spezifisch ausgepräg-te Teile desselben“ (Antor 1994/1995: 11). Damit liegt er ganz auf der Linie des New Histori-cisms und dessen kontextbezogener Textanalyse, die auch in dieser Arbeit zur Anwendung kommen soll.17 Der von Antor betonte kontinuierliche Dialog zwischen den unterschiedlichen Positionen innerhalb der Fiktion und die essentielle Bedeutung der Bildungsthematik für die Gattungsentwicklung des Universitätsromans ist eine der wesentlichen Annahmen für die vorliegende Textanalyse.

In Hubert Zapfs Kurze Geschichte der anglo-amerikanischen Literaturtheorie (1991) wird für diese perspektivischen Neuerungen die theoretische Grundlage formuliert. Er verweist bei seiner Charakterisierung des New Historicism auf diese Textualisierung des Wirklichkeits-begriffs (Zapf 1991: 230), der in Kapitel 3.1. als Methode zur Textanalyse in der vorliegenden Untersuchung näher erläutert und verwendet werden soll. Das Potential dieser literaturwissen-schaftlichen Methode liegt laut Carolyn Porter dabei vor allem auf der Dialogfähigkeit und der Möglichkeit, Texte sozusagen als aktive Partner in eine Analyse einzubeziehen: “to ap-proach literary texts as agents as well as effects of cultural change, as participating in a cultu-ral conversation rather than merely re-presenting the conclusion reached in that conversation, as if it could have reached no other.“ (Porter 1988: 782f.).

17 Siehe dazu Kapitel 3.1. in dieser Arbeit.

Der Begriff des bildungsthematischen Diskurses, der die frühere Annahme einer allgemeinen bzw. partiellen Spiegelfunktion in den Untersuchungen des Universitätsromans auf einen be-deutend größeren Analyserahmen ausdehnt, ermöglicht es, die literarischen Texte in einer äquivalenten Position mit gesellschaftlichen und kulturellen Diskursen zu sehen und ihr nicht rein literarisches Potential zu berücksichtigen. Das Bild der Lehrenden, der Studierenden, das Bild der Universität selbst und die spannungsreiche Beziehung zwischen Universität und Ge-sellschaft können so kultur- und literaturwissenschaftlich untersucht werden, ohne dass dabei die Fiktionalität, die Intertextualität und Vernetzung innerhalb der Gattung vernachlässigt werden müssten.