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Die Etablierung der amerikanischen Universität

4. Bildungsideale und Grundpositionen in Nordamerika: Universitätsromane als Aus- druck der gesellschaftlichen Bildungsdiskussion

4.1. Die Etablierung der amerikanischen Universität

wicklung der Bildungspolitik beigetragen, auf die sich das fortdauernde Interesse an der Gat-tung des Universitätsromans inhaltlich stützen kann.

4.1. Die Etablierung der amerikanischen Universität

Die Anfänge der amerikanischen Universitätsgeschichte liegen im 17. Jahrhundert und weisen hinsichtlich Funktion und Struktur eine sehr enge Bindung an englische Vorbilder auf: “Har-vard College, established by the Massachusetts Bay Colony in 1636, was modeled after Em-manuel College, Cambridge, where some leading members of the Colony had been edu-cated”62 (Shore 1992: 6f.). Im ersten Beschluss dieser neugegründeten Bildungsinstitution werden die englischen Vorbilder insgesamt als maßgebende Orientierung bekräftigt: ”pro modo Academiarum in Anglia (according to the manners of universities in England)“ (Mori-son 1935: 5). Hatte in Europa die katholische Kirche maßgeblichen Einfluss auf die Universi-tätsgeschichte, so stand laut Georg Willers in Neuengland die protestantische Kirche zunächst Pate bei der Gründung der ersten Hochschulen (Willers 1965: 160). Die religiöse Verwurze-lung ist zu dieser Zeit sowohl hinsichtlich der personellen Zusammensetzung der Fakultät als auch hinsichtlich universitärer Strukturen sowie der disziplinären Ausrichtung deutlich zu erkennen: “the clergy were the leading force in the founding of the original colleges and in the formulation of the original purposes of these institutions. The vast majority of the faculty members were clergymen, and they represented, on the whole, the leading intellectual class of their time throughout the colonies.” (Brubacher und Rudy 1968: 8).

Wie Frederick Rudolph in seinem historischen Überblick des amerikanischen Universitätssys-tems beobachtet, stand hinter der Gründung der ersten colleges eine ganz konkrete Absicht, auf keinen Fall basierten die neuen Institutionen auf zufälligen Entwicklungen und unbeab-sichtigten Umständen: ”At the beginning, higher education in America would be governed less by accident than by certain purpose, less by impulse than by design.“ (Rudolph 1965: 3).

In dieser bewussten und gesteuerten Entwicklung folgten vor dem Jahr 1770 nach Harvard College, dessen Name auf einen zu damaliger Zeit sehr einflussreichen Geistlichen zurück-geht, die Gründungen der colleges William and Mary in Williamsburg (Virginia), Yale in New Haven (Connecticut), das seinen Name einem englischen Wohltäter verdankt, New Jer-sey, King’s College, Philadelphia, Rhode Island, Queen’s und Darmouth.63 Insbesondere die Gründung Harvards war mit einer ersten Zielsetzung und Aufgabenzuweisung an die bil-dungsvermittelnde Institution verbunden: “Puritan Massachusetts could not have done

62 Die Geschichte der Gründung des Harvard College wurde erstmalig in einem anonym verfassten Pamphlet mit dem Titel New England’s First Fruits (1643) schriftlich erwähnt. Einen historischen Überblick zur Gründung und Entwicklung dieser Universität gibt Samuel Elliot Morrison in The Founding of Harvard College. Cam-bridge: Harvard University Press 1935. Vgl. dazu auch Shore 1992: 20.

63 Vgl. dazu auch Rudolph 1965: 3ff. und Willers 1965: 160f.

without it. […] they acknowledged a responsibility to the future. They could not afford to leave its [Massachusetts’] shaping to whim, fate, accident, indecision, incompetence, or care-lessness. In the future the state would need competent rulers, the church would require a lear-ned clergy, and society itself would need the adornment of cultured men.” (Rudolph 1965:

5f.). Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt der amerikanischen Universitätsgeschichte wird die enge Anbindung an gesellschaftliche Erwartungen deutlich und die soziale Verantwortlichkeit der Institution Universität als Grundstein ihrer eigentlichen Existenz betrachtet. Aus diesem Gedanken resultiert die erste Formulierung erzieherischer Ziele und bildungsthematischer Ideale in Neuengland: “two cardinal principles of English Puritanism which most profoundly affected the social development of New England and the United States were not religious ten-ets, but educational ideals: a learned clergy, and a lettered people.“ (Morison 1935: 45). Ähn-liche Aussagen, die in ihrer Konkretheit hinsichtlich universitärer Verantwortung innerhalb der Gesellschaft noch deutlicher Einblick in diese ureigne Eigenschaft des amerikanischen Bildungssystems gegeben, lassen sich in der Geschichte einer anderen Universität finden, nämlich in den Aufzeichnungen des Rhode Island College von 1764, dessen Gründung mehr als hundert Jahre nach Harvard dokumentiert ist:

“Institutions for liberal Education are highly beneficial to Society, by forming the rising Gen-eration to Virtue [,]Knowledge & useful Literature & thus preserving in the Community a Succession of Men duly qualify’d for discharching the Offices of Life with usefulness &

reputation…“ (Bronson 1914: 1). Bis zum Unabhängigkeitskrieg standen die wenigen ameri-kanischen colleges, neun an der Zahl mit insgesamt 750 Studierenden aus einer Bevölke-rungszahl von 2 Millionen Weißen, unter starkem religiösen Druck und vermittelten in erster Linie geisteswissenschaftliche Disziplinen (Willers 1965: 161). Die einseitig religiösen Aus-richtungen der colleges unterlagen ab dem Ende des Unabhängigkeitskrieges einer durchgrei-fenden Wandlung, was die Zusammensetzung des Lehrkörpers bzw. die Gesamtheit der Stu-dierenden betraf. So war es laut Satzung des King’s College verboten “to exclude any Person of any religious Denomination whatever, from equal Liberty and Advantage of Education.“

(Bronson 1914: 1f.). Ebenso war eine fachliche Vermittlung und Diskussion unterschiedlicher religiöser Richtungen im Gegensatz zu früheren Satzungen teilweise durchaus erwünscht:

“sectarian differences of opinions shall not make any part of the public and classical instruc-tion: although all religious controversies may be studied freely, examined, and explained.”

(Van Hoesen 1938: 32f.).

Die terminologische Unterscheidung zwischen college und university war zu Beginn der ame-rikanischen Universitätsgeschichte sehr viel klarer als dies heute der Fall ist. “For the next century and a half [namely the 18th century] all institutions of higher learning established in British North America were designated colleges, not universities. This important distinction persisted because in both size and function these early schools resembled most closely the

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colleges of English universities rather than the larger universities themselves,” so Paul Shore in seiner Monographie The Myth of the University. Ideal and Reality in Higher Education (1992) (Shore 1992: 7). Keines der in Neuengland gegründeten colleges erhob den Anspruch, der etymologisch zugrundeliegenden universitas der Institutionen in Großbritannien und auf dem europäischen Kontinent, also einer alle Wissenschaften lehrenden Hochschule, gleich-zukommen.64 Sowohl politisch als auch wirtschaftlich waren die Universitäten in Europa gänzlich autonom konzipiert und standen damit in der Tradition ihrer mittelalterlichen Vor-läufer, die in Form klostereigener Schulen als erste Bildungsinstitutionen geistige Fähigkeiten vermittelten. Die europäischen Universitäten waren die ersten Stätten “where learning might be carried out at the most advanced level possible, and where the development of what we today would call theory and research could occur” und waren seit ihrer Gründung ”places of intense intellectual ferment”, so Paul Shore in seinem historischen Überblick zur ameri-kanischen Universitätsgeschichte (Shore 1992: 7). Eine ähnliche Beschreibung wäre für die amerikanischen colleges zum damaligen Zeitpunkt nicht zutreffend gewesen. Im 17. und 18.

Jahrhundert lag der Schwerpunkt kontinental-europäischer Universitäten vornehmlich auf den Fachbereichen Theologie, Jura und Medizin, wohingegen sich die amerikanischen colleges aus oben genannten Gründen in diesen Bereichen nicht etablieren konnten.65 “Finally, as its name universitas implies, the European university was a collection of scholars drawn together from many lands, bound by a common thirst for learning and a common language (Latin),”

schließt Paul Shore seinen Vergleich der unterschiedlichen Universitätssysteme in Europa und in Neuengland ab (Shore 1992: 7; Hervorhebung im Original). Dennoch schmückten sich ei-nige der ehemals kolonialen colleges ab 1870 mit der Bezeichnung university und verliehen ihren Absolventen weiterführende Abschlüsse. Die Vergabe sog. “master’s degrees“, die zu Kolonialzeiten und im frühen 19. Jahrhundert an die Absolventen eines B.A. nach einer zu-sätzlichen Anzahl von Jahren an der Hochschule und der Bezahlung einer festgelegten Ge-bühr ohne zusätzliche studientechnische Anforderungen erfolgt war, und die Verleihung des auf deutschen Vorgaben basierenden Ph.D. wurde Mitte des 19. Jahrhunderts von etlichen der ehemals kolonialen colleges institutionalisiert, jedoch bis auf eine einzige Ausnahme, nämlich eines entsprechenden Abschlusses in Harvard, von den europäischen Universitäten nicht anerkannt. Eine inhaltliche und funktionelle Abgrenzung der universities von den col-leges ist daher bis Ende des 19. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten nicht zu erkennen.66 Erst später wurden Rufe laut nach einem “program of advanced study, modeled somewhat on the German university, that would lead to an advanced degree legitimately earned.“ (Shore

64 Eine genaue Aufschlüsselung der in den Vereinigten Staaten verwendeten Begriffe zur Bezeichnung der Hochschulen findet sich bei Georg Willers, Das Bildungswesen der USA. Eine Gesamtdarstellung der Entwick-lung bis zur Gegenwart. München: Ehrenwirth Verlag 1965.

65 Vgl. dazu Shore 1992: 6f.

66 Vgl. dazu auch Shore 1992: 8ff.

1992: 9). Thomas Jefferson (1743-1826) war einer der führenden Vertreter einer umfassenden Universitätsreform, an deren Ende die Bezeichnung Universität für einige Hochschulen an-gemessen schien. „Seine Idee war, die Universität in eine richtige universitas aller Wissensbe-reiche umzuwandeln, die nicht nur Geistliche und Gelehrte, Juristen und Ärzte, sondern auch politische und wirtschaftliche Führer heranbildete. […] Von der Mitte des 19. Jahrhunderts ab wurden anstelle religiöser Leitideen und kirchlicher Autoritäten säkulare Einflüsse wirksam,“

beschreibt Georg Willers dieses Reformvorhaben (Willers 1965: 161; Hervorhebung im Ori-ginal). Bis heute lässt jedoch die Bezeichnung einer Bildungsinstitution als university oder college keinen eindeutigen Schluss auf Größe, Konzeption und inhaltliche Zielsetzung der Einrichtung zu: “Today, American higher education presents an astonishing array of instituti-ons using the title of university. […] Each institution, by using the label ’university’, hopes to acquire some of the prestige and mystique of the term, but each ’university’ lacking the fea-tures of a true university dilutes the meaning and power of the term with which it seeks to identify itself.“ (Shore 1992: 11). In dieser begrifflichen Grauzone mag einer der Gründe für eine breite bildungsthematische Varianz gesellschaftlicher Erwartungen liegen, in der auch der Reiz dieser Untersuchung liegt, da die inhaltlichen Konzepte der Institutionen und die gesellschaftlichen Erwartungen sich innerhalb dieser Grauzone nur bedingt einander direkt zuordnen lassen.

Für einen Überblick über die bildungskonzeptionelle Evolution und die funktionellen Charakteristika der amerikanischen Universität, die aus wechselseitiger Beeinflussung von gesellschaftlichen und historischen Veränderungen ihre Geschichte entwickelte, sollen an dieser Stelle nach der obigen Vorstellung der eigentlichen Entstehung und Etablierung der Universitäten in den Vereinigten Staaten einige markante historische Punkte in dieser Wech-selbeziehung bis 1920 als Basis für die spätere Analyse genügen, in der detailliert die Zu-sammenhänge von Bildungsvorstellungen in der Gesellschaft und dem literarischem Aufgrei-fen der Bildungsthematik innerhalb des Untersuchungszeitraumes beobachtet werden sollen.

Als einer der markantesten Züge, der seinen Ursprung in den Kolonialzeiten hat, ist die Exklusivität der Universitäten zu nennen, die die universitäre Abgeschottetheit der Institu-tion von der Gesellschaft und damit den abgeschlossenen sozialen Mikrokosmos einer Hoch-schule begründet: “In the nineteenth century, with the rise of the urban middle class and a rapid expansion of population in the United States, Harvard and other old colonial colleges became increasingly exclusive, generally admitting only those who had the pull of money and family connections.“ (Shore 1992: 25). In erster Linie sind in diesem Zusammenhang nicht-staatliche Institutionen zu nennen. Die ersten nicht-staatlichen Universitäten wurden in den Süd-staaten Ende des 18. Jahrhunderts im Anschluss an das Ende des Unabhängigkeitskrieges ge-gründet und waren laut Frederick Rudolph in seiner historischen Übersicht “inspired by the success of the war for independence and by an effort to find institutional expression for the

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Age of Reason and for a developing nationalism. The great flowering of state universities, however, was in consequence of the westward movement after the adoption of the Constitu-tion”. (Rudolph 1965: 275). Sie orientierten sich zu Beginn in ihrer Funktion und Konzeption an den Traditionsuniversitäten als ”standard bearers of traditional knowledge, as centers of cultural adornment, and finishing schools for political and social leaders drawn from a very small segment of the population,” so Rudolph weiter (Rudolph 1965: 277). Ende des 19.

Jahrhunderts zeichnete sich eine breite gesellschaftliche Skepsis gegenüber diesen exklusiven und damit weiten Teilen der Gesellschaft nicht zugänglichen Einrichtungen ab, sowohl ge-genüber staatlichen als auch nichtstaatlichen Hochschulen, doch nur die staatlichen Institutio-nen konnten dieser Haltung zu einem Teil entgegenwirken und wurden durch die Öffnung für alle Teile der Gesellschaft zum direkten Ausdruck der demokratischen Grundzüge des Lan-des: “The state university was a bulwark against an aristocracy of wealth: it was the inevitable and necessary expression of a democratic society; it was Christian equality in action.“ (Angell 1912: 42ff.).

In den 1870er und 1880er Jahren wurden aufgrund dieser Verinnerlichung demokratischer Prinzipien und aufgrund der kulturellen Forderungen, die in Folge dessen insbesondere von der Mittelschicht an die Institutionen gestellt wurden, eine ganze Welle von Universitätsneu-gründungen und Reformvorhaben an den bereits bestehenden Hochschulen ausgelöst. Vor allem die staatlichen Hochschulen im Süden des Landes konnten nach ihrer gesellschaftlichen Expansion schnell eine eigene Identität und eigene Bildungsvorstellungen entwickeln, die in ihrem Einfluss auf die direkte Umgebung und auf weitere Teile der Gesellschaft nicht zu un-terschätzen waren. Sie waren Vorreiter einer engeren Anbindung der Institution an die Gesell-schaft, die sich auf ganz unterschiedliche Bereiche wie z.B. die Etablierung bestimmter Bil-dungskonzepte, die Institutionalisierung universitärer Strukturen und letztendlich auch auf das Bild der Hochschule in der Literatur auswirken sollten: “In each of the states of the Old South the state university did more to mold and influence the character of the people than any other one institution.“ (Godbold 1944: 169f.). Die Bereitschaft der Institution, sich zunehmend an gesellschaftlichen Erwartungen bzw. Bedürfnissen zu orientieren, machte eine positive Ent-wicklung im Spannungsverhältnis zwischen Institution und Gesellschaft leichter, obwohl zu diesem Zeitpunkt eine anti-intellektuelle Haltung67 gerade in den ehemaligen Südstaaten wei-terhin wirksam blieb: “The American state university would be defined in the great Midwest and West, where frontier democracy and frontier materialism would help to support a practi-cal-oriented institution.“ (Rudolph 1965: 277).

Nicht ohne Skepsis blieb in der Folge die Intention fast aller staatlichen colleges, eine Brücke zwischen humanistischen Disziplinen und einer praxisnäheren Ausbildung zu schlagen: “The

67 Siehe dazu Kapitel 4.3. dieser Arbeit

popular distrust of old colleges was so intense that the intention of the state universities to carry on in the old academy tradition and offer both classical and scientific courses of study was often interpreted as a capitulation to aristocratic influences.“ (Rudolph 1965: 280). Trotz aller Widrigkeiten hat es aber durchaus seine Berechtigung, ab dem Jahr 1870 von einer all-gemeinen gesellschaftlichen Akzeptanz der Hochschulen zu sprechen, die den Weg für einen positiven Funktionswandel der Universität freigab.68

Die Universität bzw. das college übernahm die Vermittlung der für die Mittelschicht bestimmenden Werte in einer Gesellschaft, die keine anderen verbindlichen Strukturen zur Normierung sozialen Verhaltens und beruflicher Qualifikation hatte:

“The university in the United States had become largely an agency for social control. […]

The custodianship of popular values comprised the primary responsibility of the American university. It was to teach its students to think constructively rather than with an imprudent and disintegrative independence”, charakterisiert Laurence R. Veysey die gesellschaftliche Rolle der Hochschulen (Veysey 1965: 440). Insbesondere für die breite Mittelschicht bot die Hochschule damit die Möglichkeit, die Gültigkeit von Werten wie Disziplin, Fachkompetenz und Konkurrenzdenken allgemein zu verbreiten und mit einem akademischen Abschluss die Option zu erlangen, dass Träger von Führungspositionen diese Werte in der Allgemeinheit repräsentierten. Der Mythos der Universität als Ausdruck einer lebendigen Demokratie, in der Menschen unterschiedlicher sozialer Voraussetzungen unter gleichen Bedingungen nur durch ihr Wissen konkurrierten, entsprach den ideologischen Bedürfnissen des amerikanischen Na-tionalgefühls und begründete darauf seine Langlebigkeit (Borchardt 1997: 97). Die amerika-nische Universität wurde zu einer Institution, in der individuelle Leistung mit sozialem Auf-stieg honoriert zu werden versprach und bestätigte damit die Verkörperung demokratischer Prinzipien. David Levine verweist auch auf die ersatzreligiöse Funktion von Bildung und der institutionellen Verkörperung dieses Wertes in der Universität für die amerikanische Gesell-schaft, so dass die Universität durch ihre demokratischen Grundzüge dem ideologischen An-liegen der Gesellschaft mit ihrem festen Glauben an Fortschritt und Demokratie Rechnung trug : “Education was viewed increasingly as the salvation of progress and democracy. The urban university was our largest cathedral: there, Americans paid homage to the culture of aspiration and prepared themselves to seize its opportunities.“ (Levine 1986: 87f.).

Wie sehr sich die universitäre Bildung in den 1870er und 1880er Jahren als gesellschaftliche Qualifikation gegenüber der Idee der praktischen Erfahrung durchgesetzt hatte, zeigt ein Bei-spiel von Henry Adams, dem späteren Präsidenten von Harvard, der in seiner Jugend seinen

68 Mit John Summerfield Davidson und Gabriel Franklin Hargo wurden 1868 die ersten afro-amerikanischen Studenten an der University of Michigan zugelassen. Ihre Aufnahme an der Hochschule blieb allerdings ohne großes Interesse der Öffentlichkeit und wird in den Aufzeichnungen der Universitätsgeschichte nicht gesondert erwähnt. Im Jahr 1880 graduierte mit Mary Henrietta Graham die erste afro-amerikanische Frau an oben genann-ter Hochschule.

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akademischen Abschluss noch als Nachteil für sein Fortkommen in der “real world“ erlebt hatte, dessen Studenten 1870 jedoch feststellten: “The degree of Harvard College is worth real money to me in Chicago.“ (Borchardt 1997: 98).

Nach der allgemeinen Akzeptanz der universitären Bildung als gesellschaftliche Qualifikation stellte sich in der Folge verstärkt die Frage nach der inhaltlichen Bestimmung des Wissens.

Auch hier lässt sich eine ähnliche Konstellation von humanistischen Idealen und utilitaristi-schen Gesellschaftserwartungen erkennen, wenn auch nicht ganz so ausgeprägt wie sie sich in der Gründungsabsicht einzelner Universitäten niederschlägt. “Utility ist sicherlich der heraus-ragende Begriff, unter dem sich die Bildungsziele der meisten Universitäten fassen lassen“, so Cordelia Borchardt (Borchardt 1997: 99; Hervorhebung im Original). Bedeutende Erzie-hungswissenschaftler wie Charles W. Eliot und A. D. White, die beide das Konzept der util-ty69 vertraten, sahen sich jedoch eher als Gesellschaftsreformer denn als Anwälte der Natur-wissenschaften. Ihr Anliegen war eine demokratische Ausrichtung, auch an den traditionellen Universitäten der Ostküste, an deren Wirkungsgrad die Nützlichkeit einer Disziplin gemessen werden sollte. In den Universitätsromanen wird die skeptische Haltung der Gesellschaft ge-genüber der Hochschule und der dort vermittelten Bildung oft nur implizit als ein Ausdruck des “common sense“ wiedergegeben. Dieser “common sense“ wird inhaltlich anderen Bil-dungskonzepten entgegengesetzt. Owen Wisters Roman Philosophy 4: A Story of Harvard University (1903) ist einer der bekanntesten Romane, in denen die sogenannte „Bauern-schlauheit“ über reines Bücherwissen den Erfolg davonträgt.70

Trotz aller Skepsis und Konflikte waren und sind die Universitäten in ihrer Funktion als Wis-sensvermittler, als Ursprungsstätten für neues Wissen und als Zentren des Zusammenwirkens von Forschung und Lehre ein prominenter Teil der amerikanischen Kultur. Die AutorInnen der Universitätsromane geben in ihren Werken nicht nur Einblicke in die spannungsreiche Beziehung zwischen Institution und Gesellschaft, sondern zeigen darin auch ein kulturell-spezifisches Interesse am Stellenwert des Wissen bzw. der Wissenschaft in der Gesellschaft (Nischik 2000: 12). Die inhaltliche Konzipierung der unterschiedlichen Vorstellungen von Bildung und Erziehung, die es seit Beginn der amerikanischen Universitätsgeschichte gab, soll in den folgenden Kapitel das theoretische Fundament für die weiteren Untersuchungen dieser Beziehung bilden und die literarische Bearbeitung dieser Konzepte als ein Teil der kul-turellen Auseinandersetzung mit der Bildungsthematik näher erläutern.

69 Dies bezieht sich insbesondere auf die infolge der Land-Grant-College Bill 1862 gegründeten colleges, deren Aufgabe in erster Linie in der Vermittlung technischen und agrarbezogenen Wissens und Fähigkeiten lag. Eine

69 Dies bezieht sich insbesondere auf die infolge der Land-Grant-College Bill 1862 gegründeten colleges, deren Aufgabe in erster Linie in der Vermittlung technischen und agrarbezogenen Wissens und Fähigkeiten lag. Eine