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Forschungsstand und Literatur zum nordamerikanischen Universitätsroman

2. Zum aktuellen Stand der Forschung

2.1. Forschungsstand und Literatur zum nordamerikanischen Universitätsroman

2. Zum aktuellen Stand der Forschung

2.1. Forschungsstand und Literatur zum nordamerikanischen Universitätsroman

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg ist hinsichtlich des amerikanischen Universitätsromans ein literaturwissenschaftliches Forschungsinteresse zu erkennen. Dies geschieht zunächst in Arti-keln und Beiträgen, die sich in erster Linie auf ein Sammeln der bis dahin publizierten Roma-ne und auf eiRoma-ne inhaltliche Zusammenstellung beschränken. Erst in den letzten fünfundzwan-zig Jahren setzte ein literaturwissenschaftliches Interesse ein,34 das über eine inhaltliche Auf-listung der Universitätsromane hinausgeht. Die wichtigsten und richtungsweisenden schungsbeiträge sollen an dieser Stelle kurz angerissen werden, um den bisherigen For-schungsstand darzulegen und den Beitrag, den diese Arbeit zu leisten gedenkt und auf den im folgenden Kapitel näher eingegangen werden soll, zu erläutern.

Einer der Ersten, der sich Mitte des 20. Jahrhunderts mit der amerikanischen universi-ty/college bzw. campus novel beschäftigt, ist R.C. Boys.35 Er setzt die Entstehung des ameri-kanischen Universitätsromans mit Charles M. Flandraus Roman Harvard Episodes auf das Jahr 1897 fest und gibt in nicht-chronologischer Reihenfolge kurze Inhaltsangaben zu den bis 1945 publizierten Romanen. Er beendet seine Zusammenstellung mit einer Kritik an der lite-rarischen Negativdarstellung der DozentInnen und StudentInnen und beklagt einen mangeln-den Realitätsbezug und fehlende Objektivität der AutorInnen. Mit Optimismus spricht er die Hoffnung nach einer qualitativen Verbesserung der Gattung aus und schließt mit der Bedeu-tung, die dieses Genre seit seiner Entstehung über den literaturinternen Rang hinaus hat: “I often say that college is a microcosm, a tiny world in which is foreshadowed the turbulence of real life. That is what I often say.“ (Boys 1945/1946: 387).

Frederic I. Carpenter36 greift 1960 die Kritik von Boys auf und stellt zwar eine deut-lich gestiegene Anzahl publizierter Universitätsromane fest, kann aber keine konkrete Quali-tätsverbesserung vermelden. Er macht sich auf die Suche nach plausiblen Gründen und kann einen grundlegenden Konflikt der Werte des “good life“ und des “full life“ innerhalb der Werke feststellen, der zum Konflikt der Studierenden als Heranwachsende und als Erwachse-ne hinzukommt.

Carpenter versucht sich mit Hilfe dieses Motivs des Wertekonflikts, über die schwieri-ge psychologische Laschwieri-ge der Studierenden beim Erwachsenwerden und weitere Themen wie

34 Einer der ersten Literaturwissenschaftler, dessen Untersuchungen über eine reine inhaltliche Zusammenstel-lung hinausgehen, ist Wolfgang Weiß mit seiner Studie Der anglo-amerikanische Universitätsroman. Eine histo-rische Skizze. (1988).

35 Boys, Richard C. ”The American College in Fiction”. In: College English 7 (1946), S. 379-387.

36 Carpenter, Frederic I. “Fiction and the American College“. In: American Quarterly 12 (1960), S. 443-456.

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z.B. dem ständigen Streit der Universitäten um höhere finanzielle Mittel an einer themati-schen Einteilung, die allerdings nicht ganz zu überzeugen vermag.37 Carpenters gattungstheo-retische Einteilung wirkt zeitweise sehr einseitig und wenig komplex.

Zwei Jahre nach Carpenter schreibt John O. Lyons als bis dahin einziger Autor ein monographisches Werk zum amerikanischen Universitätsroman, das als Pendant zu Mortimer Proctors Abhandlung über den englischen Universitätsroman seinen festen Platz in der Litera-turkritik einnehmen konnte.38 Er setzt im Gegensatz zu Boys den Beginn des amerikanischen Universitätsromans mit Nathaniel Hawthornes Fanshawe (1828) knapp sechzig Jahre früher an (Lyons 1962: 5) und ist laut Wolfgang Weiß der erste Kritiker, der zu der Überzeugung kommt, dass der amerikanische Universitätsroman zu Beginn des 20. Jahrhunderts zuneh-mend unter den Einfluss des deutschen Bildungsromans gerät und dass dies als ein markanter Einschnitt in der Gattungsgeschichte zu deuten sei. Den Einfluss des deutschen Bildungsro-mans glaubt er bereits 1912 in Owen M. Johnsons Stover at Yale zu erkennen, allen voraus-gegangenen Romanen weist er lediglich den Status eines „Gesellschaftsromans im akademi-schen Milieu“ zu (Weiß 1988: 15). Im Unterschied zu Mortimer Proctor geht Lyons allerdings nicht von einer allgemeinen Spiegelfunktion der Realität innerhalb der amerikanischen Uni-versitätsromane aus und beurteilt die einzelnen Werke nicht nach der detailgetreuen Darstel-lung der universitären Institution. Er sieht als einziger die Bedeutung der Gattung ganz im Sinne der neueren Forschung bereits in den 1960er Jahren als Teil eines fiktiven Bildungsdis-kurses und damit zwar in direkter Anbindung an reale und nichtfiktionale Bildungsdebatten, eine direkte Abbildung der universitären Realität wird von ihm allerdings vehement bestritten.

Damit legt er die Basis für Malcolm Bradbury, der sich 1987 ebenfalls für diese Möglichkeit fiktionaler Bearbeitung realer Bildungsthesen einsetzt: “I saw the university not as an inno-cent pastoral space but also as a battleground of major ideas and ideologies which were sha-ping our times.“ (Bradbury 1989: 333).

John Lyons zeigt in seiner Monographie die Entwicklung vom studentischen Protago-nisten hin zur Figur der DozentInnen als Zentrum der Romane, kann aber auch hier mit seiner Reduzierung auf den Dozenten – bzw. Professorenroman als Ausdruck von Gesellschaftskri-tik und satirischer Bearbeitung den vielfältigen Varianten innerhalb des Genres nicht ganz genügen. Als neue Tendenz macht er in den 1960er und 1970er Jahren eine zunehmende Ne-gativdarstellung der College-Präsidenten aus,39 die teilweise verbunden mit den Beobachtun-gen eines ausländischen Fakultätsgastes eine bildungskritische Perspektive in die Charaktere

37 Vgl. dazu auch Weiß 1988: 14.

38 Lyons, J.O. The College Novel in America. Carbondale 1962.

39 Vgl. dazu Weiß 1988: 15

implementiert. Die Schnelligkeit, mit der das Genre durch die Publikation von nicht weniger als drei Romanen im Jahr 1968 auf die studentischen Unruhen in diesem Zeitraum reagiert, wird von Lyons ebenfalls als charakteristisches Merkmal der Gattung zur Kenntnis genom-men.

Benjamin de Motts kritischer Artikel “How to Write a College Novel“40wurde im sel-ben Jahr wie John Lyons Monographie veröffentlicht und merkt in Briefform an einen Verle-ger kritisch die Darstellung der Figur der Lehrenden in den Universitätsromanen an. Er for-dert eine sehr viel differenzierte Darstellung der professoralen Charaktere, eine bewusste In-tegrierung dieser Personen in das gesellschaftliche Umfeld und eine Wertschätzung der Do-zentInnen als Menschen, die sich gegen moderne Wertvorstellungen entschieden hätten: Nicht Geld, Macht und Ansehen, sondern reine Gelehrsamkeit habe in aller Regel innerhalb dieser Berufgruppe höchste Priorität. Eine Abgrenzung gegenüber der Gruppe von DozentInnen, die den akademischen Beruf als Möglichkeit des sozialen Aufstiegs nutzen, sei daher nicht nur innerhalb der realen Bildungsdiskussion, sondern auch in der fiktionalen Darstellung notwen-dig. In diesem Zusammenhang spricht sich de Mott auch bewusst gegen sog. Insider als Auto-ren aus, da von dieser Seite keine diffeAuto-renzierte, sondern eine einseitig positive oder negative Darstellung zu erwarten sei: “Stay away from insiders: they are too killingly predictable. […]

When the writer is an academic gipsy […] it offers either a metaphor of the College as a snakepit, or a mean, nose-picking little drama that rests on incredibly simple assumptions, as for example that the only dirty diapers and undefrosted refrigerators in America are in the property of assistant professors of Slavic languages with lazy but fertile wives.” (de Mott 1962: 243).

Zwei Jahre nach de Mott kommt Leslie A. Fiedler zu einem grundsätzlich anderen Er-gebnis41: Für ihn ist der Universitätsroman gleichzusetzen mit dem Status des Schauer- oder Detektivromans und damit lediglich eine Untergattung des Romans, dessen herausragendes Merkmal die Darstellung des universitären Milieus als gesellschaftlichem Mikrokosmos ist.

Den AutorInnen derartiger Romane bescheinigt Fiedler eine gehörige Portion Frustration und Wut über die Universität, definiert den Universitätsroman damit als Anti-Universitätsroman und kommt zu dem Schluss, dass Selbstmitleid und das Bedürfnis nach apologetischer Recht-fertigung die Wirkung dieses fiktionalen Angriffs auf die Institution schmälern. Die Gründe für die Entstehung des amerikanischen Universitätsromans und die ausgeprägte Vorliebe der Negativdarstellung sieht Fiedler in der Diskrepanz zwischen Idealvorstellung und

universitä-40 de Mott, Benjamin. “How to Write a College Novel”. In: Hudson Review 15 (1962), S. 243-252.

41 Fiedler, Leslie A. “The War Against the Academy”. In: Waiting for the End. Fiedler, Leslie A. New York 1964, S. 138-154..

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rer Wirklichkeit, die für ihn in aller Regel auf die Romane der 1950er und 1960er Jahre zu-trifft.42

John E. Kramer publizierte 1981 die jüngste Bibliographie der bis dato erschienen a-merikanischen Universitätsromane43 und stellt diese mit kurzen Inhaltangaben in einer jeweils zwei Dekaden umfassenden Auflistung vor. Er zählt für den Zeitraum von 1920 bis 1939 ins-gesamt 39, für den Zeitraum von 1940 bis 1959 106 und von 1960 bis 1979 163 Universitäts-romane. Seine Untersuchung stellt eine inhaltliche Zusammenstellung und thematische Unter-scheidung zwischen sog. student-centered und staff-centered university novels dar, auf deren Grundlage er die 60 wichtigsten Romane der insgesamt 425 aufgelisteten Werke hervorhebt.

Auch in der vorliegenden Arbeit soll aufgrund dieser von John E. Kramer getroffenen Vor-auswahl der zugrundeliegende Textkorpus festgelegt und begrenzt werden.44

Mehr als zwanzig Jahre nach de Mott konzentriert sich Frances K. Barasch45 wieder-um auf die Einbettung der Universität in den gesellschaftlichen Kontext und beobachtet rück-blickend eine politische Ausrichtung der Universitätsromane in den 1950er Jahren. Die Dis-kussion um die akademische Freiheit habe zusammen mit den Auswirkungen der McCarthy Ära zu einer verstärkten Darstellung der Auseinandersetzung zwischen DozentInnen und Stu-dentInnen um Bildungsinhalte und des psychischen Dilemmas vieler Lehrender geführt. Ba-rasch führt in diesem Zusammenhang Bernard Malamuds A New Life (1961) als wichtigsten Roman auf, da darin beide oben genannten Tendenzen der 1960er Jahre bereits zu Beginn der Dekade zu erkennen seien: Politische Spannungen innerhalb der Professoren- und Studenten-schaft und die Darstellung der psychisch desolaten Verfassung des Protagonisten, eines Do-zenten für Literaturwissenschaft (Barasch 1983: 28). Spätere Werke, wie Saul Bellows Her-zog (1964), Philip Roths Letting Go (1962) oder Alan Lelchuks American Mischief (1973) werden von ihm allerdings nicht mehr zu diesen Texten dieser Gattungstendenzen gezählt, da sie jüdisch-amerikanische Protagonisten mit ihren psychischen und materiellen Schwierigkei-ten bei der Anpassung ihres europäisch-jüdisch geprägSchwierigkei-ten Familienhintergrunds an den Kul-turraum in die angloamerikanische Gesellschaft zeigen.

Das Bild der Frau im amerikanischen Universitätsroman steht am Ende der Beobachtungen Baraschs. Er stellt bis in die 1970er Jahre eine sehr negative Darstellung der Frau, hauptsäch-lich als frustrierte Ehefrau eines Dozenten, fest und kann erst mit Alison Luries The War bet-ween the Tates (1974) eine erste Gegenentwicklung ausmachen. Als Wendepunkt des

gesam-42 Vgl. dazu auch Weiß 1988: 17f.

43 John E. Kramer. The American College Novel: An Annotated Bibliography. New York & London: Garland Publishing 1981.

44 Siehe dazu Kapitel 1.6.

45 Barasch Frances K. ”Faculty Images in Recent American Fiction“. In: College Literature 10 (1983), S. 28-37.

ten Frauenbildes im Universitätsroman wird Joyce Carol Oates’ Unholy Loves (1979) gewer-tet. Der Protagonistin Brigit Stott gelingt es, im weitgehend von männlichen Dozenten domi-nierten universitären Milieu ihre innere Unabhängigkeit zu bewahren – erste feministische Untertöne sind nicht zu überhören. Nur in fünf Romanen kann Barasch die Darstellung einer Professorin in fester Stellung mit all den darin enthaltenen finanziellen Vorteilen und akade-mischen Verpflichtungen finden. Alle diese fünf Romane sind von der Anglistin Carolyn Heilbrun verfasst, die unter dem Pseudonym Amanda Cross schreibt und ihre Detektivromane meist im universitären Milieu ansiedelt (Barasch 1983:36). Aufgrund der detektivisch-kriminalistischen Haupthandlung werden ihre Romane in dieser Arbeit nicht mehr zum enge-ren Kreis der Gattung gerechnet.

In seiner Untersuchung Der anglo-amerikanische Universitätsroman (1988) weiß Wolfgang Weiß um die Bedeutung der Verbindung von dargestellter Institution, Gesellschaft und dem spezifischen Interesse des Autors. „Die literarische Beschreibung des Universitätsle-bens muss […] den jeweils herrschenden sozialen und kulturellen Normenhorizont der Ge-sellschaft ebenso einbeziehen wie das spezifische Interesse des Autors, das er in seinen fiktio-nalen Entwurf von der Universität einbringt,“ stellt er in seiner Gattungsdefinition fest (Weiß 1988: 22). Tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen bis zum Ende der 1960er Jahre werden von Weiß unter dem Schlagwort „Demokratisierung der Universität“ zentralisiert, unter dem er Veränderungen, die von ihm als Abschluss der Nachkriegszeit und Beginn einer Zeit des wirtschaftlichen Rückgangs und einem vorläufigen Ende der universitären Expansion gewertet werden, zusammenfasst. Für diese Veränderungen sieht er eine große Breite an un-terschiedlichen Vermittlungsebenen, von „realistischer Mimesis“ bis zu „stilisierender, mo-dellhafter Darstellung“ innerhalb des Genres, auch „karikaturistische Übertreibung oder sati-rische Verzerrung“ sei erkennbar (Weiß 1988: 20). Weiß untersucht dabei sowohl die Gat-tungsentwicklung des englischen Universitätsromans als auch die des amerikanischen Pen-dants. Das für beide Gattungsvarianten geltende und von Weiß angewandte Verständnis des Universitätsromans als „Teil des gesellschaftlichen Diskurses“, wie es bereits in Kapitel 1.1.

für die Gattungsdefinition herangezogen wurde, kann dabei laut Cordelia Borchardt, die 1997 ihre Studie Vom Bild der Bildung. Bildungsideale im anglo-amerikanischen Universitätsro-man des zwanzigsten Jahrhunderts veröffentlicht, als grundsätzlicher Erkenntnisstand der neueren Forschung und als Grundlage für die folgenden Studien angesehen werden (Bor-chardt 1997: 28). Sie geht in ihrer Analyse eines Zeitraums vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis in ihre eigene Gegenwart sowohl auf die Entwicklung des englischen Universitätsromans als auch auf die zwar phasenverschobene, aber dennoch analoge Entwicklung des

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schen Pendants ein. Ausgehend vom englischen Universitätsroman nach 1945 gelingt ihr eine überzeugende Beweisführung von gegenseitiger Einflussnahme trotz kultureller und nationa-ler Unterschiede. Den Anfang dieser reziproken Entwicklung datiert Cordelia Borchardt auf das Jahr 1954 mit der Publikation von Kingsley Amis’ Roman Lucky Jim und stellt themati-sche und literarithemati-sche Bezüge zwithemati-schen beiden Gattungssträngen, aber auch zunehmende Ei-genständigkeit fest. Ihre Definition der Universitätsromane als literarische Texte, „bei denen fiktionaler Weltentwurf und Figuren von der Universität geprägt werden, so dass der hand-lungsauslösende Konflikt aus universitätsspezifischen Themen entwickelt wird“ (Borchardt 1997: 34) ist richtungsbestimmend, da nicht allein der Ort der Handlung, sondern erstmalig universitäre Themen in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken. Der Katalog an gattungsspe-zifischen Merkmalen, der in diesem Zusammenhang von Borchardt entworfen wird, dient der Unterscheidung von zentralen und peripheren Texten.46

Der kanadische Universitätsroman ist ein bisher weitgehend unbeachtetes Forschungs-gebiet innerhalb der Literaturwissenschaft. Zu den Werken namhafter AutorInnen wie Robert-son Davies oder Carol Shields wurden etliche Artikel und Beiträge publiziert, eine speziell auf die Gattung des kanadischen Universitätsromans ausgerichtete Studie fehlt bislang. Leider existiert weder eine Zusammenstellung der zum heutigen Tag veröffentlichten Universitäts-romane, so dass die Gattungsübersicht bzw. Gattungsentwicklung im 20. Jahrhundert im Rahmen dieser Arbeit nur in sehr viel geringerem Umfang als beim amerikanischen Pendant möglich ist, noch eine theoretische Untersuchung zur kanadischen Gattungsvariante. Es scheint fast, als ob dieses Genre in der kanadischen Literatur und in der Forschung bisher in seinem Potential gänzlich verkannt worden ist.

Die Literatur Kanadas verdankt ihre Entstehung und Ausprägung in erster Linie der kolonialen Expansion europäischer Großmächte ab dem 16. Jahrhundert. Daher ist Kanada noch immer ein von britischen Traditionen geprägtes Land und dies beinhaltet neben der Be-wahrung englischer Traditionen und der Identifizierung mit der europäischen Heimat auch eine Erhaltung alter Werte und Ideale innerhalb der kanadischen Gesellschaft und ihrer Bil-dungsauffassung. Aufgrund zunehmender wirtschaftlicher und politischer Verbindungen zum mächtigen Nachbarland USA ist auch dessen Einfluss in fast allen Bereichen spürbar. Die beiden anglophonen Stränge der britischen und der amerikanischen Literaturtradition sind daher wesentliche Merkmale der literaturgeschichtlichen Entwicklung Kanadas, doch auch der zunehmende literarische Emanzipationsprozess in der Mitte des 20. Jahrhunderts ist ein Charakteristikum mit Einfluss auf die gattungsgeschichtliche Entwicklung des kanadischen

46 Vgl. dazu Kühn 2002: 20f.

Universitätsromans: „Die anglokanadische Literatur, die als Fortsetzung der britischen litera-rischen Tradition auf dem nordamerikanischen Kontinent begann, muss sich im Laufe ihrer Entwicklung zunehmend von der Literatur der USA abgrenzen, um ihre Eigenständigkeit zu finden.“ (Löschnigg 2001: 8). Um diese Entwicklung des kanadischen Typus in die Eigen-ständigkeit klarer erkennen zu können und die Anbindung und den Kontrast des amerikani-schen und kanadiamerikani-schen Universitätsromans zum engliamerikani-schen Pendant analysieren zu können, ist ein Blick auf die Forschungsliteratur zu beiden nationalen Strängen von Nutzen. Ein kurzer Überblick über die Forschungsliteratur zum englischen Universitätsroman soll daher ergän-zend vorgestellt werden:

Nach George Saintsburys Artikel “Novels of University Life“ (1898), in dem er die Auffas-sung vertritt, dass der Universitätsroman an sich bereits eine historische Literaturgattung und im wesentlichen abgeschlossen sei, gab es bis ins Jahr 1957 keine nennenswerten For-schungsbeiträge zu Gattung des englischen Universitätsromans. Mortimer Proctor ist Mitte des 20. Jahrhunderts der erste, der sich ihrer wieder annahm und die bis heute anerkannte Monographie zum englischen Universitätsroman veröffentlichte. Darin schlägt er den Bogen von den Anfängen des Genres bis in die 1950er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, versteht darin den Universitätsroman als eine Untergattung der viktorianischen Romanentwicklung und sieht den Wert der einzelnen Werke vor allem in ihrem dokumentarischen Beitrag zur Universitätsgeschichte. Ausgangspunkt seiner These ist der deskriptive Realismus, der Uni-versitätsroman als gesellschaftskritisches Medium und als Schauplatz bildungstheoretischer Diskussionen wird von ihm nicht berücksichtigt.

Ulrike Dubber gehört mit ihrer 1991 veröffentlichten Studie Der englische Universi-tätsroman der Nachkriegszeit zu den jüngeren Forschungsbeiträgen, die die Gattung des Uni-versitätsromans zu „ihrem Informationsgehalt zum Universitätssystem“ (Borchardt 1997: 21) untersuchen. Entwicklungshistorische Aspekte bleiben dabei außen vor, die fiktionale Bear-beitung der Universität wird als historisch-soziologisches Belegmaterial herangezogen und bewertet.

Martin Goch kritisiert in seiner Untersuchung Der englische Universitätsroman nach 1945:

“Welcome to Bradbury Lodge“ (1992) genau diese literaturwissenschaftliche Tendenz und charakterisiert die bisherige Forschung als eine Bewegung „zwischen den beiden Polen des Verständnisses der Gattung als Abbildung der universitären Wirklichkeit oder als Widerspie-gelung der bzw. ein Beitrag zur hochschulpolitischen Diskussion“ (Goch 1992: 4). „Innerlite-rarische Aspekte und Entwicklungen“ (Goch 1992: 3) würden dabei zu sehr in den Hinter-grund gedrängt, „die Privilegierung der Diskursivität und der Dialogizität des Verhältnisses

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von Universität und Gesellschaft im Universitätsroman“ (Kühn 2002: 18) dürfe nicht weiter ausgeweitet werden. Der Universitätsroman wird in dieser Konsequenz von Martin Goch als

„primär ein Teil der komischen Unterhaltungsliteratur“ (Goch 1992: 9) klassifiziert, der inter-textuelle Spielereien und ernsthafte Aussageabsichten miteinander verbindet.

Die jüngste umfassende Studie hat Heinz Antor mit Der englische Universitätsroman. Bil-dungskonzepte und Erziehungsziele (1996) vorgelegt. Er stellt darin die Gattungsgeschichte in England vom 18. bis Mitte des 20. Jahrhunderts vor und sieht den Universitätsroman als ein Genre, „das eng in einen soziokulturellen und historischen Kontext eingebunden ist“ und „als ein mit anderen Konstituenten der englischen Kultur eng verwobenes Diskursfeld und die einzelnen Werke des Genres als historisch spezifisch ausgeprägte Teile desselben“ (Antor 1996: 5ff.). Seiner Meinung nach ist die Bildungsdiskussion Nährboden und zentrales Merk-mal der Gattung, deren „polyphone Vielfalt von Positionen und Standpunkten […], die in ständiger dialogischer Auseinandersetzung miteinander stehen“ (Antor 1996: 14) er zwar an-erkennt, in seiner Untersuchung allerdings nicht bis ins Detail verfolgen kann.

Zieht man nun die bisherige Forschungsliteratur zum englischen und amerikanischen Universitätsroman heran, so lassen sich einige der darin veröffentlichten Erkenntnisse und Thesen auch für den kanadischen Universitätsroman verwenden. Der Einfluss, den der ameri-kanische und besonders der englische Gattungstypus auf die kanadische Gattungsentwicklung ausgeübt hat, und die Frage, in welchem Maße dieser Einfluss den oftmals zitierten „kanadi-schen Emanzipationsprozess“ mitausgelöst hat, verlangt in jedem Fall nach einer näheren

Zieht man nun die bisherige Forschungsliteratur zum englischen und amerikanischen Universitätsroman heran, so lassen sich einige der darin veröffentlichten Erkenntnisse und Thesen auch für den kanadischen Universitätsroman verwenden. Der Einfluss, den der ameri-kanische und besonders der englische Gattungstypus auf die kanadische Gattungsentwicklung ausgeübt hat, und die Frage, in welchem Maße dieser Einfluss den oftmals zitierten „kanadi-schen Emanzipationsprozess“ mitausgelöst hat, verlangt in jedem Fall nach einer näheren