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Bildungspolitik und Gesellschaft in Kanada

4. Bildungsideale und Grundpositionen in Nordamerika: Universitätsromane als Aus- druck der gesellschaftlichen Bildungsdiskussion

4.7. Bildungspolitik und Gesellschaft in Kanada

werden sollte, in Kanada nicht zeitgleich mit den Ermittlungen des Senators Joseph McCarthy auf amerikanischer Seite auf, sondern in wesentlich geringerem, von der Öffentlichkeit fast nur im Zusammenhang mit allgemeinen Studentenprotesten bemerkten Maße Mitte der 1960er Jahre und betraf im wesentlichen die von den Studierenden geforderte Lernfreiheit und Mitbestimmung: “What we are seeking as a matter of principle is what any human being seeks: 1. We seek a form of education in our university which gives the students freedom of choice in what he should study. 2. We seek the political right of free human beings to have a say in those decisions that affect them.” (Zirnhelt 1968: 55).

Betrachtet man die Entwicklung der kanadischen Universität in ihrer Anbindung an soziokul-turelle Tendenzen, so ist bereits in der eigentlichen Entstehung der Universitäten ein typisches Merkmal der anglokanadischen Gesellschaft verankert. Von Anfang an spüren die kanadi-schen Universitäten inhaltlich die Erwartungen und die an sie innerhalb der Gesellschaft ge-richteten Anforderungen. Die Umsetzung dieser Anforderungen ist allerdings bis Ende des Zweiten Weltkriegs aus eigener Kraft kaum möglich. Dies wird z.B. durch die kanadische Immigrationspolitik in dieser Zeit, aber auch bereits in den Jahrzehnten zuvor deutlich, die durch qualifizierte Hochschulabsolventen aus anderen Ländern die Bildungsbedürfnisse des eigenen Landes abzufangen versuchte. Die negativen Effekte eines bis Mitte des 20. Jahrhun-derts fehlenden Ausbaus des eigenen Hochschulsystems können nicht verneint werden. Eine Abschottung der akademischen Institutionen und der Vorbehalt für bestimmte gesellschaftli-che Schichten, wie sie insbesondere an den amerikanisgesellschaftli-chen Traditionsuniversitäten Harvard, Yale, Princeton, etc. vor allem noch zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts betrieben wird, hat es in Kanada im gesamten 20. Jahrhundert nicht gegeben,98 obwohl auch hier qualitative Unterschiede der Universitäten in der Natur der Sache liegen. Die zeitlich deutlich versetzte Entwicklung Kanadas als Nation hat auch die Hochschulen von ihrer Gründung an einer an-deren Erwartungshaltung der Gesellschaft ausgesetzt. Die konkrete gesellschaftliche Ein-flussnahme auf die kanadische Bildungsdiskussion und die Funktionszuweisung an die Uni-versität als Teil der Gesellschaft ist daher eine detaillierte Analyse wert ist.

4.7. Bildungspolitik und Gesellschaft in Kanada

In vielem ist Anglo-Kanada noch immer ein von britischen Traditionen geprägtes Land und so beinhaltet die Bewahrung englischer Traditionen und die Identifizierung mit der

europäi-98 Vgl. dazu folgenden Einschätzung von J.A. Corry: “Insofar as the ivory tower is a rejection of all concern with the matters that agitate the society of the day, we can say that its fate is sealed. But the ivory tower has never been an imposing structure in the twentieth-century Canadian university.” (Corry 1970: 32).

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schen Heimat auch eine Erhaltung ‚alter’ Werte und Ideale innerhalb der kanadischen Gesell-schaft und ihrer Bildungsauffassung. Zugleich ist der Einfluss des übermächtigen Nachbar-landes USA in fast allen Bereichen spürbar. Beide Länder haben ihren Ursprung in europäi-schen Kolonialgebieten und so fällt es in historieuropäi-schen Rückblick schwer, konkrete Unter-schiede innerhalb der jeweiligen ursprünglichen Interessenlage festzustellen. „Gleichwohl verlief das Wachstum der Kolonien, und damit ihre ökonomische Entwicklung und der Wunsch nach politischer Autonomie, in recht verschiedenen Bahnen,“ fasst Reinhard R.

Doerries den Ausgangspunkt für die gesellschaftliche Entwicklung in Kanada und in den Ver-einigten Staaten zusammen (Doerries 1987: 82). Bis zum heutigen Zeitpunkt verläuft auch die Beziehung zwischen den beiden Ländern bisweilen recht spannungsreich, wobei jedoch die frühere Furcht Kanadas vor einer amerikanischen Invasion, die bis Mitte des 19. Jahrhunderts die Beziehungen belastete, Ende des 20. Jahrhunderts einer gemeinsamen Verteidigungsstra-tegie des nordamerikanischen Kontinents gewichen ist, wie der kanadische Premierminister 1985 öffentlich feststellte: “We are neighbors and allies dedicated to the defence and nou-rishment of peace and freedom. The security of Canada and the United States are inextricably linked.“ (Doerries 1987: 99). Die gesellschaftliche Entwicklung Kanadas und damit auch die bildungstheoretischen Auseinandersetzungen innerhalb der kanadischen Gesellschaft müssen aufgrund des oben genannten gemeinsamen Ursprungs und der geographischen Nähe zuein-ander bzw. der Distanz zu zuein-anderen Kontinenten immer auch mit Blick auf die Beziehung zum britischen Mutterland und zum amerikanischen Nachbarland bewertet werden. Diese Faktoren müssen sowohl in ihrer Abgrenzung als auch in ihrer Parallelität miteinbezogen werden.

Eine deutliche Ablehnung des wachsenden amerikanischen Einflusses auf Kanada führt ins-besondere in den 1950er Jahren im akademischen Bereich zu Protesten.99 In dieser Zeit veröf-fentlichen Robin Matthews und James Steele ihre Schrift The Struggle for the Canadian Uni-versity, in der sie die bildungstheoretischen Positionen dieser Zeit aufzeigen und deutliche Kritik am aktuellen Zustand der kanadischen Universitäten und der Einflussnahme des großen amerikanischen Nachbarlandes verlauten lassen. Im gesamten bildungs- und kulturpolitischen Bereich war bereits zwanzig Jahre zuvor ein erster Schritt in Richtung kanadischer Eigenstän-digkeit und Distanzierung vom großen amerikanischen Nachbarn getan worden. 1949 wird die sog. Royal Commission on National Developments in the Arts, Letters, and Sciences, die auch unter dem Namen “Massey Commission“ bekannt ist, ins Leben gerufen, deren wich-tigster Beitrag in ihrem 1951 veröffentlichten Bericht die Gründung einer interessenunabhän-gigen Gesellschaft zur Förderung von Kultur und Wissenschaft war. Diese Organisation wird

99 Vgl. dazu Pache 1981: 64ff.

zunächst im Jahr 1957 unter dem Namen Canada Council gegründet und später in Social Sciences and Humanities Research Council umbenannt und kann sich laut Walter Pache von ihrer Gründung an auf sehr vielfältige Weise um die Förderung der Wissenschaften verdient machen (Pache 1981: 64).

Wie bereits oben angemerkt, ist die kanadische Gesellschaft in ihrer Entwicklung maßgeblich vom Immigrations- und vom Grenzcharakter der Gesellschaft, vom politischen und sozialen Dualismus zweier Kulturen und vom Verhältnis zu den Vereinigten Staaten bestimmt worden (Schultze 1977: 3). Kanada ist auch heute noch in einem viel stärkeren Maße ein Einwande-rungsland als die USA, doch anders als beim großen Nachbarn vollzieht sich die Integration der Einwanderer nicht nach dem Konzept des melting pot, sondern die kanadische Gesell-schaft geht vielmehr von der Bewahrung der Eigenständigkeit der unterschiedlichen Kulturen als gesellschaftliche Ziel- und Wertvorstellung aus und zeigt darin ein alternatives Gesell-schaftsmodell auf. Begründet liegt dieses Charakteristikum vor allem in dem seit der briti-schen Kolonialherrschaft bestehenden Dualismus von anglo- und frankophoner Kultur (Schultze 1977: 2ff.), der eine entscheidende Rolle für die Gesamtentwicklung der kanadi-schen Literatur gespielt hat und dies auch heute noch tut.100

Die hohe Zahl der Einwanderer auf beiden Seiten hat im 19. Jahrhundert zu einem stetigen Anstieg der Bevölkerung geführt und eine auf den ersten Blick durchaus vergleichbare sozio-kulturelle Entwicklung in Kanada und den Vereinigten Staaten ausgelöst.

Auch der zahlenmäßig zwar geringere, aber nicht vernachlässigbare Anteil der sog. Binnen-wanderung, d.h. der Migration zwischen den beiden Ländern, trug seinen Teil zu einer ähnli-chen Zusammensetzung der Bevölkerung bei (Doerries 1987: 86). In neuester Entwicklung unterscheidet sich jedoch die kanadische Seite dadurch, dass die legale und illegale Einwan-derungswelle aus den Ländern Mittel- und Südamerikas Kanada bisher ein weitaus geringeres Maß erreicht hat als in den Vereinigten Staaten101. Die dadurch bedingte sehr viel unter-schiedlichere Zusammensetzung der Bevölkerung hat zusammen mit weiteren Faktoren zu einer anderen gesellschaftlichen Entwicklung und in deren Folge zu anderen bildungspoliti-schen Entscheidungen geführt.

Es muss insbesondere hinsichtlich des Bildungswesens darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Bildungspolitik im Gegensatz zum amerikanischen Pendant den einzelnen

100 Für die in dieser Arbeit ausgewählten kanadischen Romane spielt der dualistische Aspekt allerdings eine eher untergeordnete Rolle. Es werden ausschließlich anglokanadische Universitätsromane bei der Darstellung der bildungskonzeptionellen Komponente der Gattungsentwicklung berücksichtigt.

101 Vgl. dazu auch Doerries 1987: 86f.

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Provinzen des Landes unterstand bzw. bis heute untersteht102 und diese aufgrund der konti-nentalen Ausmaße und natürlichen Grenzen in vielen Bereichen ein Eigenleben führen, das die Betrachtung der Hochschulpolitik als gesamtkanadisches Gebilde sehr schwierig macht.

Die bereits oben dargelegte relativ späte Säkularisierung und Verstaatlichung des kanadischen Bildungswesens bei bis heute fortbestehenden privaten Schul- und Universitätsträgern sowie die föderalistische Kulturhoheit mit unterschiedlichen Ausbildungssystemen in den einzelnen Provinzen bleiben als Problemfelder bestehen und müssen berücksichtigt werden.103

Bothwell beschreibt, in welchem Maße auch die Erwartungen der Gesellschaft an das Bil-dungswesen in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts von dieser verspäteten Säkula-risierung betroffen sind und eine teilweise in dieser Hinsicht stagnierende Entwicklung be-wirkt haben: “In 1946, most people appear to have demanded much the same things from the school system as their parents and grandparents had demanded in the 1920s or even before 1914.“ (Bothwell 1981: 122). Eine große Diskrepanz zwischen sozioökonomischer Entwick-lung und BildungsentwickEntwick-lung aufgrund vergeblicher Bemühungen, die Expansion der Uni-versitäten in einer Phase wirtschaftlichen Niedergangs aufzufangen, ist vor dem Zweiten Weltkrieg ebenfalls zu erkennen und kann in einem gewissen Grad auf den Immigrationscha-rakter der Gesellschaft und auf das in vielen Sektoren von außen bestimmte Wirtschaftssys-tem zurückgeführt werden (Schultze 1977: 293). Erst später kommen in der Bildungspolitik Forderungen nach Persönlichkeitsbildung, moralische Verantwortung und sozialem Verhalten hinzu und leiten damit in den 1960er Jahren erste Veränderungen in der Beziehung Gesell-schaft und Bildungswesen in Kanada ein. In seiner Antrittsrede als 13. Rektor der Queen’s University im Jahr 1961 spricht J.A. Corry von einem wachsenden Verantwortlichkeitsgefühl der Hochschulen gegenüber der Gesellschaft, indem er den angestrebten persönlichen Bil-dungsprozess mit den Zielen einer universitären Erziehung verbindet: “Most important is the rapid thrusting of the universities into greatly enhanced responsibilities in our society. We often think we explain the new face of things by saying that the electronic and rocket revolu-tion demands an immense increase in trained intelligence and specialized knowledge and skills. This is now a truism, which, be it noted, does not settle the question of what part the universities can appropriately play in leading the minds of the young to such knowledge and skills.” (Corry 1970: 2). Die Forderung nach steigenden Akademikerzahlen entspringt dabei direkt einer Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung, aber nur eine zusätzliche und daran

102 Siehe dazu Flowers 1969: 574: “Control of schools [and universities] has continued to be guarded jealously as a provincial right by all provinces; Canada is the only federal democracy in the world without some kind of a federally supported co-ordinating national education agency.“

103 „Konfessionsschulen haben zudem Entwicklung und Niveau der Ausbildung noch bis in die 1950er Jahre hinein gehemmt,“ so Schultze (1977: 292ff.).

angepasste Debatte um Bildungsinhalte kann die erwünschten Ergebnisse bringen: “The sharply rising demand for university graduates by the highly organized sectors of our life falls into perspective. […] It comes increasingly from the need for greater foresight into the wider social consequences of the exercise of extended power. […] The appropriate response of the universities to the new shape of things is now an issue of more fateful consequence than deci-sions about numbers of students. […] Universities must respond to the changed structure of the society in the most helpful way open to them. Education of whatever kind is always for the service of life, and when the conditions of life change decisively, universities must adjust to them.” (Corry 1971: 4 und 6).

Bis in die 1950er Jahre hat die kanadische Hochschullandschaft mehrere Expansions- und inneruniversitäre Entwicklungsphasen hinter sich gebracht, allerdings ohne wirkliches gesell-schaftliches Interesse und Aufmerksamkeit zu wecken. Für die breite Bevölkerung sind die Hochschulen bis zu diesem Zeitpunkt kaum aus dem Bild privater Trägerschaften zu lösen, obwohl die Säkularisierung längst weitgehend abgeschlossen ist. Rückblickend auf die Mitte des 20. Jahrhunderts beobachtet Corry in einer Rede, die er 1969 an der University of British Columbia gehalten und die 1971 in dem Sammelband Farewell the Ivory Tower. Universities in Transition veröffentlicht wurde, eine ausgeprägte gesellschaftliche Indifferenz und das erst spät aufkeimende Interesse an Universitäten und Bildungsinhalten als ein für die kanadische Hochschulgeschichte prägendes Charakteristikum: “Entirely new dimensions of the public interest in higher education were taking shape in the 1950s and eveen earlier, but they too went almost unnoticed until the postwar generation of young people arrived at the doors of the universities.[…] The universities have moved into public domain.” (Corry 1971: 10). In dieser Zeit kommt wie in den Vereinigten Staaten ein bildungsbezogener Egalitätsanspruch innerhalb der Gesellschaft auf, der daran glauben lässt, “durch Bildung die sozialen Barrieren abbauen oder gar überwinden zu können, die Ungleichheiten hervorrufen.” (Schultze 1977:

290). Doch bis in die 1960er Jahre hinein kann dieser Anspruch im tertiären Bildungswesen, sowohl im universitären als auch im nicht-universitären, den gesellschaftlichen Erwartungen nicht entsprechen. Faktoren, die dieser Forderung entgegenstehen, sind unter anderem regio-nal-strukturelle Unterschiede und sozioökonomische Verhältnisse,104 die sich erst zu Beginn der 1970er Jahren langsam aufzulösen beginnen. Die sog. ‘Bildungsexplosion’ der 1950er

104 Siehe dazu Schultze 1977: 297 und 299: „Wie das minimale Bevölkerungswachstum, die Abwanderung nach Westen in die industriellen Ballungsräume, sind auch die geringe Scholarisation, das deutlich niedrigere Bil-dungsniveau im kanadischen Osten ein Reflex des fehlenden sozioökonomischen Anreizes und der relativen

‚Unterentwicklung’. […] Die Über- bzw. Unterrepräsentation der Studenten von Eltern mit höherer bzw. niedri-ger Ausbildung wird vollends offenbar, zieht man zum Vergleich das Bildungsniveau der Gesamtgesellschaft im Jahre 1961 heran.“

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und 1960er Jahre hat durch eine deutliche soziale Verbreiterung der studentischen Basis in Ansätzen eine Egalisierung mit sich bringen können, eine vertikale Mobilität innerhalb der Gesellschaft bleibt aber auch dann noch Fiktion und Kanada kann sich mit seiner Bildungspo-litik in diesem Punkt nicht entscheidend von anderen Industrienationen absetzen.105

Mitte der 1960er Jahre ist die in den 1950er Jahren begonnene Entwicklung, die deutliche Steigerung des gesellschaftlichen Interesses an einer universitären Bildung, auf ihrem Höhe-punkt angelangt: George Flowers spricht in seinem Beitrag zu einem allgemeinen Überblick über die gesellschaftliche Entwicklung in Kanada von 1867 bis 1967 insbesondere die darin verankerte bildungstheoretische Komponente an, wenn er Kanada im gesamten als “learning society” (Flowers 1969: 585) bezeichnet. Zuvor hat er die zunehmend engere Bindung der Gesellschaft an eine universitäre Bildung beobachtet: “they regard it [education] as an in-vestment – an inin-vestment, on the one hand, for the individual student in his future, but also, and perhaps more important, a capital investment for the future development of the nation.”

(Flowers 1969: 569). In konzeptioneller Hinsicht ergibt sich aus dieser Entwicklung heraus ein Kombination unterschiedlicher Disziplinen und Ausrichtungen, die ihren Ursprung in der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung Kanadas hat, nämlich “a combination of general, libe-ralizing education together with concomitant studies leading to vocational literacy in various technical and service fields.” (Flowers 1969: 572). Eine direkte gesellschaftliche Abhängig-keit ist laut Flowers die Folge: “Society now depends on the university more than it ever dreamed of depending even twenty-five years ago – to prepare both generalists and specialists for posts of leadership in all walks of life.” (Flowers 1969: 577).

Kurz vor den 1970er Jahren können an vielen kanadischen Universitäten ähnliche Studenten-revolten wie in Europa und in den USA beobachtet werden. Eine allgemeine Protesthaltung gegen traditionelle Konzepte an den Hochschulen wird deutlich: “In addition, because some student leaders and some faculty members wanted changes that would make university study more flexible and, probably, easier than before, the old curricular arrangements came under attack.“ (Bothwell 1981: 439ff.). James Harding sieht die historischen Ausmaße und die Auswirkungen dieser studentischen Unruhen auf die anglokanadische Gesellschaft bereits 1968 deutlich vor Augen: “We are definitely in the middle of the first significant experiment of student power – one integrating intellectual, political and existential processes – in English Canadian history.” (Harding 1968: 102). Zu diesem Zeitpunkt scheint vielen die Diskrepanz zwischen Universität und den Anforderungen des gesellschaftlichen und sozialen Alltags be-sonders hoch, die Gestalt der Lehrenden von den realen und alltäglichen Bedürfnissen

abge-105 Vgl. dazu Schultze 1977: 300ff.

wandt und einer gewissen Lächerlichkeit preisgegeben: “For most, the “dreaming spires” and

“ivory towers” have been somewhat derisive terms; the absent – minded impractical professor has been a figure of fun. Mature – looking people, posturing in gowns, hoods and mortar-boards, like soldiers in their spurs and dress-swords, have seemed somehow incongruous, cases of arrested development, not really fitting into the serious workaday world.” (Corry 1970: 29). Eine trotz allem positive Auswirkung auf gesellschaftlich-ökonomische Verände-rungen kann jedoch nicht bestritten werden. Der Einfluss der Universitäten auf den wirtschaftlichen und technischen Fortschritt in Kanada leitet eine neue Stufe in der Beziehung zwischen Universität und Gesellschaft ein: “Within the last few years, we have entered on a new dimension in the relationship of the university and community. The intensifying applica-tion of technical and scientific knowledge to human affairs has made immense contribuapplica-tions to productivity and material welfare and has brought on a breathtaking rate of social change.”

(Corry 1970: 30).

Die oben erwähnten studentischen Proteste, die Harding in seiner Einleitung als “student radi-calism” (Harding 1968: 90) bezeichnet, beruhigen sich in den späten 1970er Jahren wieder, gehen aber mit geringer werdenden Studentenzahlen einher, in deren Folge sich die kanadi-schen Universitäten der Herausforderung eines inhaltlichen und konzeptionellen Wandels ausgesetzt sehen. Eine eindeutige Zielvorgabe und Funktionszuweisung in Anlehnung an tra-ditionelle Wert- und Bildungsvorstellungen gibt Corry beim 125jährigen Jubiläum des Vorle-sungsbeginns an der Queen’s University den Studierenden mit auf den Weg: “The aims are many: the passing on of our inherited exact knowledge, the pursuit of new knowledge at the frontiers, the sharpening of intellects and the disciplining of minds to respect both facts and logic, the recruiting of new friends of truth, the opening of eyes to beauty in all its forms, in-cluding the elegant architecture of a reasned demonstration. All this to lead on to understand-ing and compassunderstand-ing for the restless reachunderstand-ing of human spirit” (Corry 1970: 53). Eine Orientie-rung über direkt verwertbares, utilitaristisches Wissen hinaus ist für ihn zu diesem Zeitpunkt die richtungsweisende Zielsetzung und lässt eine Maxime anklingen, die Teil sowohl des anti-intellektuellen Konzepts als auch der Bildungsthesen von Ralph Waldo Emerson ist, nämlich die des common sense. Er geht jedoch noch weiter über dieses Ideal hinaus und sucht nach einer bildungskonzeptionellen Verbindung: “The universities need to keep in close touch with the workaday world. Common sense and practicality never come amiss, even in universities.

Again, however, it is essential that the temptation and opportunity to reach beyond utilitarian interests should be open before them.” (Corry 1970: 54).

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In den 1980er Jahren steht Kanada mit $ 348 Ausgaben pro Kopf und Jahr zusammen mit den USA und Schweden an der Spitze der kapitalistischen Industriestaaten bezüglich staatlicher Investitionen in das schulische und universitäre Ausbildungswesen (Schultze 1977:

292).

In inhaltlicher und bildungstheoretischer Hinsicht ist nach Ansicht vieler Intellektueller der Bedarf an bildungstheoretischer Diskussion und an konzeptionellen Verbesserungen jedoch noch nicht gedeckt. Im Jahr 1984 erscheint unter der Ko-Autorenschaft von David Bercuson, Robert Bothwell und J.L. Granatstein eine Monographie mit dem Titel The Great Brain Rob-bery: Canada’s Universities on the Road to Ruin (1984). Die Notwendigkeit einer gesell-schaftlichen Bildungsdebatte wird im Ziel dieses Buches, wie es die Autoren selbst angeben, deutlich: “It was meant to stimulate public debate on the nature, quality, and direction of

In inhaltlicher und bildungstheoretischer Hinsicht ist nach Ansicht vieler Intellektueller der Bedarf an bildungstheoretischer Diskussion und an konzeptionellen Verbesserungen jedoch noch nicht gedeckt. Im Jahr 1984 erscheint unter der Ko-Autorenschaft von David Bercuson, Robert Bothwell und J.L. Granatstein eine Monographie mit dem Titel The Great Brain Rob-bery: Canada’s Universities on the Road to Ruin (1984). Die Notwendigkeit einer gesell-schaftlichen Bildungsdebatte wird im Ziel dieses Buches, wie es die Autoren selbst angeben, deutlich: “It was meant to stimulate public debate on the nature, quality, and direction of